# taz.de -- Öffnungen von Schulen: Abstand halten ist out
       
       > Nach Sachsen wollen andere Länder die Grundschulen komplett öffnen. Doch
       > die Rückkehr zum Regelunterricht ist nicht einfach.
       
 (IMG) Bild: Wieviel Nähe ist erlaubt?
       
       BERLIN/DRESDEN taz | Am Mittwochabend fällt in Kiel ein Satz, der in der
       Schulöffnungsdebatte vor wenigen Wochen noch undenkbar gewesen wäre. „Wir
       werden die Abstandsregeln aufgeben“, verkündet die Bildungsministerin von
       Schleswig-Holstein, Karin Prien, vor laufender Kamera. Ab 8. Juni heißt es
       dann für alle Grundschüler:innen im Bundesland: täglicher Unterricht in
       voller Klassenstärke, ohne Mindestabstand. Und ohne Schichtbetrieb, wie er
       derzeit [1][in vielen Bundesländern erprobt] wird.
       
       Die CDU-Ministerin rechtfertigt die Entscheidung damit, dass „die Kleinsten
       die größten Schwierigkeiten mit dem eigenverantwortlichen Lernen“ hätten.
       Aber auch mit dem „niedrigen Infektionsgeschehen“ in ihrem Bundesland.
       Bleibt dies unverändert, dürfen in der letzten Woche vor den Sommerferien
       dann die Schüler:innen aller Jahrgänge tageweise in ihrem Klassenverband
       zusammenkommen. Es ist ein Testlauf für das erklärte Ziel der
       Landesregierung: zum neuen Schuljahr im August in allen Schulen „in den
       Regelunterricht zurückzukehren“.
       
       Damit ist Schleswig-Holstein nicht allein. Diese Woche haben mehrere
       Bundesländer den Wunsch nach einem baldigen „Regelbetrieb“ geäußert,
       darunter Baden-Württemberg, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und
       Bayern. Noch halten sich die Ministerpräsidenten wie Markus Söder
       („Vielleicht geben es die Infektionszahlen her“) oder Bodo Ramelow („Die
       Voraussetzungen müssen stimmen“) mit Prognosen zurück. Es ist aber nicht zu
       übersehen, dass die Bundesländer Dampf machen, um möglichst schnell
       [2][Unterricht wie vor Corona] zu haben.
       
       In Sachsen-Anhalt beispielsweise sollen die Grundschüler:innen spätestens
       ab 15. Juni wieder täglich in die Schule, kündigte Bildungsminister Marco
       Tullner (CDU) am Dienstag an. Die Details will Tullner in den kommenden
       Tagen festlegen. In Niedersachsen sollen auch zum 15. Juni sogar alle
       Klassenstufen wieder Unterricht erhalten. Und Baden-Württembergs
       Bildungsministerin Susanne Eisenmann (CDU) kündigte eine vollständige
       Öffnung von Kitas und Grundschulen bis Ende Juni an. Ihre Regierung stützt
       sich dabei auf das Zwischenergebnis einer Studie der
       Universitätskinderklinik Heidelberg, wonach Kinder bis zehn Jahre als
       Überträger des Coronavirus eine untergeordnete Rolle spielen sollen.
       Deshalb könne bei ihnen auf Abstandsregeln verzichtet werden.
       
       ## Spahn: Schwere Entscheidungen
       
       Dieser Schluss ist [3][jedoch umstritten]. So bezeichnet es
       Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in der „Augsburger Allgemeinen“ als
       „schwer“, zum jetzigen Zeitpunkt politische Entscheidungen zu treffen. „Die
       Wahrheit ist, dass wir aktuell eine Studienlage haben, die keine echten
       Schlüsse zulässt, inwieweit Kinder zur Verbreitung des Virus beitragen.“
       Dazu kommt für die Schulen eine weitere Sorge: In vielen Ländern ist noch
       nicht klar, wie sie mit gefährdeten Lehrkräften umgehen sollen.
       Lehrerverbandschef Heinz-Peter Meidinger fordert unter anderem umfassende
       Testungen, wenn man tatsächlich bald auf Abstandsregeln verzichten wolle.
       
       Dennoch deutete [4][die amtierende Präsidentin der Kultusministerkonferenz,
       Stefanie Hubig (SPD)], gegenüber der taz an, dass die anderen Länder bald
       nachziehen könnten. „Wir werden uns zu Beginn der nächsten Woche
       austauschen“, sagt Hubig. In allen Ländern bestehe der dringende Wunsch, zu
       stärkerer Normalität zurückzukehren. „Im Grunde ist unser Weg der gleiche:
       Wenn möglich, soll nach den Sommerferien ein Normalbetrieb in den Schulen
       stattfinden.“
       
       Dass sich das ein Großteil der Eltern wünscht, sieht man in Sachsen. Der
       Freistaat hat als erstes Bundesland vorige Woche die Grundschulen ganz
       geöffnet. Nach Angaben des Kultusministeriums erschienen in der ersten
       Woche 95 Prozent der Schüler:innen zum Unterricht, obwohl keine
       Anwesenheitspflicht besteht. Das Verwaltungsgericht Leipzig hatte Eltern
       zugesprochen, selbst darüber entscheiden zu dürfen, ob ihr Kind in der
       Schule oder zu Hause lernt.
       
       Die frühe Rückkehr zur Normalität hat der sächsische Kultusminister
       Christian Piwarz (CDU) mit dem „verbrieften Recht der Kinder auf Teilhabe
       und Bildung“ begründet. Seine Länderkolleg:innen hat Piwarz damit
       irritiert. Den Konsens, sich untereinander abzustimmen wie bei den
       Schulschließungen oder den Abiturprüfungen, hat Sachsen damit verlassen.
       Zur Erinnerung: Als die schleswig-holsteinische Kultusministerin Prien im
       März [5][die Abiturprüfungen ausfallen lassen wollte], war sie von ihren
       Länderkolleg:innen scharf zurückgepfiffen worden. Nun da sie den
       sächsischen Weg geht, pfeift niemand mehr.
       
       ## Jedes Land entscheidet selbst
       
       „Ein abgestimmtes Vorgehen hatte in der Vergangenheit Vorteile. Es gab gute
       Gründe ähnlich vorzugehen, [6][zumal die Situation in den Ländern überall
       vergleichbar war.] Es ging darum, die Kurve flach zu halten und das
       Infektionsgeschehen einzudämmen“, sagte KMK-Präsidentin Hubig der taz.
       Grundsätzlich müsse aber jedes Land selbst entscheiden, inwieweit es zum
       Regelbetrieb zurückkehrt, auch vor dem Hintergrund des Infektionsgeschehens
       und der verfügbaren Lehrkräfte.
       
       In Sachsen sieht man, wie schwierig die Umsetzung ist. „Beschäftigte und
       Leitung haben das Gefühl, einer Überforderung ausgesetzt zu sein“,
       kritisiert GEW-Landesvorsitzender Jens Risse. Auch das Kollegium der
       Leipziger Wilhelm-Hauff-Grundschule hat in einem Brief an das
       Kultusministerium die Machbarkeit bezweifelt. Die [7][ohnehin schon prekäre
       Personalsituation] mache sich nun noch deutlicher bemerkbar, weil sich
       Lehrer:innen aus Risikogruppen durch ein ärztliches Attest vom Unterricht
       befreien lassen können.
       
       Schüler:innen, mit denen die taz gesprochen hat, stört vor allem die
       Verkürzung der großen Hofpause auf eine Viertelstunde. Sonst aber habe sich
       nicht viel verändert, es unterrichteten auch mehrere Lehrer:innen – was
       eigentlich im Widerspruch zum Konzept der „konstanten Gruppen“ steht.
       Schulklassen sollen nicht mit anderen in Kontakt kommen und nur von einem
       Lehrer unterrichtet werden. So soll die Anzahl der Kontaktpersonen
       überschaubar bleiben.
       
       Eine Maßnahme, die auch andere Länder planen. So hat Baden-Württemberg die
       Parole ausgegeben, dass sich Klassen nicht durchmischen sollen, auch nicht
       in der Pause. Lehrkräfte, die zu Risikogruppen gehören, sollen auch
       weiterhin nicht im Präsenzunterricht arbeiten. Zudem sollen die Öffnungen
       von regelmäßigen Coronatests begleitet werden. Auch andere Länder denken
       über regelmäßige Testungen nach.
       
       ## Expert:innen empfehlen weniger Stoff
       
       Ob das Schuljahr 2020/21 tatsächlich so wird [8][wie vor Corona, ist völlig
       offen]. Eine Expertenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) unter
       Leitung des renommierten Bildungsforschers Kai Maaz empfiehlt, vorsorglich
       die Lernpläne und den prüfungsrelevanten Stoff zu kürzen sowie
       Schüler:innen ohne eigenes Equipment mit entsprechenden Geräten
       auszustatten.
       
       Gegen ungeteilte Klassen und ein Ende der Abstandsregeln haben die
       Expert:innen nichts. Ihre erste Empfehlung an die Politik ist jedoch: „Die
       Planungen des neuen Schuljahres sollten nicht von einer Wiederkehr des
       gewohnten ‚schulischen Regelbetriebs‘ ausgehen.“
       
       Mitarbeit: Esther Geißlinger, Eiken Bruhn, Dominik Baur, Christoph
       Schmidt-Lunau
       
       28 May 2020
       
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