# taz.de -- Theaterfestival im Netz: Die Stimme zurückerhalten
       
       > Das Kölner Sommerblut-Festival findet dieses Jahr online statt. Mit
       > berührenden Begegnungen mit Seniorinnen und Recherchen über rechte
       > Netzwerke.
       
 (IMG) Bild: Eingang der Kölner Seniorenresidenz, deren Bewohnerinnen bei „Damengedeck 2.0“ mitspielen
       
       Mit Zoom hatte Frau Sitzer, 83, noch nie zu tun. Der Betreuer hat es ihr
       installiert, und nun hält sie zu jeder Vorstellung von „Damengedeck 2.0“
       aus ihrem Zimmer im Altersheim ihre selbstgemachten Puppen hoch: die
       Schwester Rita mit roten Zöpfen, vor drei Jahren gestorben. Der Sohn mit
       schwarzem Hut und Lederhose, die Eltern. Nur die Puppe ihres Exmanns, die
       hat sie verschenkt. In einem anderen Zoom-Fenster erzählt Frau
       Kleinen-Anders, 76, wie sie gegen den Willen ihres Mannes ihre erste
       Wildwasserkanu-Meisterschaft gewann und sich dann scheiden ließ.
       
       In den geteilten Bildschirmen prosten wir uns zu mit Sekt, der vorher im
       Postpaket gekommen ist – dreidimensionaler Trost in zweidimensionalen
       Zeiten. [1][In einer Altersresidenz ein Theaterstück] zu inszenieren kann
       man dieser Tage als politischen Akt bezeichnen: interaktive Einblicke in
       ein abgeschottetes Universum, Zugänge zu Isolierten, die öffentlich ohnehin
       nahezu nicht mehr vorkommen.
       
       Geplant war „Damengedeck 2.0“ des weiblichen Regieteams
       Behrmann/Koch/Mielich für das Kölner Sommerblut-Festival eigentlich als
       echter Rundgang durch die „Residenz am Dom“, in Kölns Stadtmitte gelegen,
       mit Schwimmbad und Cafés im Haus. Durch Corona hat der Abend noch an
       Brisanz gewonnen. Natürlich sind die Damen im Luxus-Altersheim privilegiert
       – und doch ist es ein berührendes Stück Dokumentartheater, ihre kleinen
       Zimmer zu sehen, sie heiter, trotzig und traurig aus ihren langen Leben
       erzählen zu hören, von kleinen und großen Kämpfen um Arbeit und Autonomie –
       und zu sehen, wie sie mit virtueller Hilfe in die Welt treten und ihre
       Stimme zurückerhalten.
       
       ## „Seid autark“ ist ihr Apell
       
       Im Programmheft, es kam auch im Paket, haben sie zusammengetragen, was sie
       jungen Frauen heute mitgeben würden: „Seid autark“, „bildet
       Gemeinschaften“, „seid zukunftsorientiert“. Zusammengehalten wird der Abend
       durch die Schauspielerinnen Amelie Barth und Emilia Haag, mit Woll- und
       Perlenkostüm verschleierte Wesen aus der Zukunft von 2370, die Geschichten
       von weiblicher Emanzipation sammeln und die Damen bestärken, wenn sie ins
       Stocken geraten.
       
       „Damengedeck 2.0“ ist eins der Stücke, die das Kölner
       [2][„Sommerblut-Festival“] trotz Corona hat stattfinden lassen, und obwohl
       das Zoom-Streaming sogar Eintritt kostete, war es stets „ausverkauft“. Das
       „Festival der Multipolarkultur“ widmet sich seit 2002 jährlich im Mai den
       Themen Diversität und Interkultur. In den letzten Jahren hat es sich
       internationalisiert und beginnt, auch mithilfe von EU-Geldern, selbst zu
       produzieren. Trotz Corona versucht es, vollumfänglich stattzufinden, mit
       Live-Hörspielen, Podcasts, Live-Streams.
       
       Das Kölner nö-Theater etwa stellt am Mittwoch die interaktiv-theatrale
       Live-Homepage „Furcht und Normalität in Zeiten der AfD“ online: Das
       preisgekrönte Ensemble beschäftigt sich seit Jahren mit dem
       NSU-Verfassungsschutz-Komplex, ist aber auch immer wieder mit
       Gastspielabsagen konfrontiert, weil seine Arbeit angeblich das politische
       „Neutralitätsgebot“ verletzt. [3][Sie thematisierten als erstes Theater
       überhaupt das Hannibal-Netzwerk.] Mit finster-kabarettistischem Humor
       brachten sie da die erschreckende Absurdität der Vorgänge um Franco S. auf
       den Punkt.
       
       ## Chronik der Bedrohungen
       
       Geplant war ihre neue Premiere anders, aber Vorteile der Verlagerung auf
       die Webseite gibt es auch: Etwa, die aktuelle Corona-Krise der AfD
       behandeln zu können, die mit den schlechtesten Wahlumfragen seit drei
       Jahren kämpft und sich, neben dem Kalbitz-Rauswurf, nun auch mit den
       Verschwörungshonks auseinandersetzen muss: Parteilinie oder nicht? Bis zu
       welchem Grad kann man psychopathologische Verirrung noch sinnvoll für den
       Rechtsextremismus instrumentalisieren?
       
       Aber es lesen auch Schauspieler aus Interviews, die sie mit
       Kulturschaffenden geführt haben: eine Chronik von konkreten Bedrohungen,
       Delegitimationen und Verbotsversuchen aus dem Arsenal des rechten
       Kulturkampfs. Ergänzt wird das mit Kurzfilmen, Verweise auf
       Youtube-Fundstücke rechter Kulturerzeugnisse: von der identitären
       Chansonnière bis zu Kochrezepten von Martin Sellner ist vieles dabei,
       allerdings verfremdet und mit anschließendem Expertengespräch eingeordnet –
       denn das Dilemma, Rechten durch ihre Thematisierung womöglich eine weitere
       Bühne zu geben, ist natürlich auch dem nö-Theater klar.
       
       19 May 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Starorganist-spielt-vor-Altenheimen/!5682271
 (DIR) [2] https://www.sommerblut.de/
 (DIR) [3] https://www.ksta.de/kultur/soldat-in-geheimer-kampfmission-33825384
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorothea Marcus
       
       ## TAGS
       
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