# taz.de -- Zuhören können oder nicht: Worte im freien Fall
       
       > Die Dame war 92, er ungefähr 40. Sie begegneten sich im Zug. Sie hatte
       > eine Geschichte zu erzählen. Aber für ihn zählte nur seine Reservierung.
       
 (IMG) Bild: Könnte ein Ort des Gesprächs sein: Sitzbereich im ICE
       
       Es gibt Menschen, die können zuhören, wirklich zuhören. Mit diesen Menschen
       gelangen die eigenen Worte in einen weiten Raum. Dort hängen sie wie
       Gemälde, die genau betrachtet werden. Unter diesem Blick wandeln sich die
       eigenen Sätze zu Bildern, vor denen man selbst überrascht steht. Und es
       gibt Menschen, die lassen die Worte auf den Boden fallen. Sie geben ihnen
       keine Bedeutung. Immer wieder begegnen einem die einen und die anderen
       Menschen. Und die Frage bleibt: Wer sind wir?
       
       Eine Fahrt im fast leeren Zug. In einem Vierer-Abteil sitzt eine ältere
       Dame am Fenster, sie blättert durch eine Zeitschrift und schnieft in ein
       Taschentuch. Sie hat diesen Ausdruck von Menschen, die sich behaglich an
       einem Ort niedergelassen haben.
       
       Dann steigt ein Mann um die 40 Jahre ein. Er trägt eine hochwertige Maske.
       Sein Koffer, seine Kleider sind neu, alles an ihm strahlt etwas Akkurates
       aus. Er geht durch den Wagon, an den leeren Sitzen vorbei auf die Frau zu.
       Er zeigt auf ihren Platz: „Hier ist reserviert.“
       
       „Ich hab auch reserviert“, sagt sie. Sie schauen beide auf die Anzeige am
       Sitz. „Das ist mein Platz“, sagt der Mann.
       
       „Ich hab auch reserviert, aber in dem Zug an einem anderen Tag“, sagt die
       Frau. „Den konnte ich dann nicht nehmen.“
       
       Die Frau trägt keine Maske. Der Mann lehnt sich von ihr weg. Die beiden
       warten. Schließlich steht die Frau auf, der Mann setzt sich. Sie wechselt
       auf den Platz gegenüber im Vierer-Abteil. Die beiden trennt nun nur die
       schmale Tischplatte, nicht mindestens 1,5 Meter wie vorgeschrieben.
       
       Der Mann reibt sich die Hände mit Desinfektionsmittel ein. Er schaut sie
       verärgert an. Man merkt ihm den Zwiespalt an, ob er mehr Abstand zu ihr
       suchen oder auf seinem reservierten Platz bleiben soll.
       
       Die Frau scheint seine Unzufriedenheit zu spüren: „Ich kann auch da
       rübergehen.“ Sie zeigt auf das Vierer-Abteil nebenan im Gang. Er sagt
       nichts, auch nicht Nein.
       
       Als würde sie verstehen, was das bedeutet, wechselt die ältere Dame nun zu
       den Vierer-Plätzen neben ihm. Der Mann blickt erleichtert, er breitet seine
       Sachen aus.
       
       „Ich bin 92 Jahre alt, deswegen ist man nicht mehr so empfindlich“, sagt
       die Frau.
       
       „Das hätte ich nicht gedacht, dass Sie schon 92 sind“, sagt der Mann: ein
       Kompliment wie ein Geschenk für ihre Distanz.
       
       „Doch.“ Die Frau liest in ihrer Zeitschrift. Tatsächlich hat sie etwas
       Junggebliebenes an sich, sie ist durch kein Gebrechen gezeichnet. Sie muss
       1928 geboren sein. Bereits elf Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann,
       17 Jahre alt, als er endete. Nun, mit 92 Jahren, erlebt sie die
       Coronapandemie. Was sie wohl darüber denkt?
       
       Plötzlich nach einer Weile, als wären die Worte des Mannes wie Zutaten in
       sie hinabgesickert, die nun ihre Wirkung entfalten, bricht es aus ihr
       hervor: „Ich bin schon längst eingecheckt auf dem Platz. Deshalb.“
       
       „Ja, ja“, sagt der Mann. „Ist mir sonst auch nicht so wichtig mit den
       Reservierungen.“
       
       Die Frau sieht das erste Mal seit der Zugfahrt irritiert aus, unzufrieden.
       Etwas scheint sie zu stören. Eine halbe Stunde vergeht, dann holt sie ihr
       Ticket heraus und geht zum Mann hinüber. Sie beugt sich zu ihm hinunter.
       Ihr Gesicht ist ganz nah vor seinem. Der Mann hält sein Handy hoch, wie um
       sich damit vor ihrem Atem zu schützen. Sie zeigt auf ihr Ticket:
       
       „Ich bin wegen der Krankheit so lange weg gewesen. Ich hatte den Zug
       gebucht. Ich musste die ganzen Wochen warten, bis ich wieder fahren
       konnte.“
       
       „Ja, ja.“ Er nickt.
       
       „Nicht, dass sie denken, die Alte da quasselt dummes Zeug.“
       
       „Ne, ne“, sagt der Mann. „Denk ich nicht.“
       
       Doch er hebt ihre Worte nicht auf. Er schaut sie nicht an. Sie bleiben ein
       Geräusch und werden nicht zu einer Geschichte. Es muss die Rückfahrt der
       92-jährigen Frau gewesen sein, die sie reserviert hat, bevor sie wochenlang
       an dem Ort festhing, an dem sie war, als das Virus ausbrach. In all der
       Zeit war das ihr Platz, ihr Ticket zurück. Die Frau setzt sich wieder und
       sagt: „Wir kommen schon alle nach Hause. Irgendwie.“ Der Mann nickt
       abwesend. Er hört nicht ihren Trost, mit dem sie auch ihn meint: „Wir
       kommen schon alle irgendwie nach Hause.“
       
       14 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christa Pfafferott
       
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