# taz.de -- Die alte Dame, die Funkuhr und ich: Der Zeit enthoben
       
       > Nach meinem Gespräch mit der 95-jährigen Frau zeigte ihre Funkuhr nicht
       > mehr die richtige Zeit. Das hat uns zusammen gebracht.
       
 (IMG) Bild: Was sind schon zwei Stunden gegen die Gelegenheit, gemeinsam zu Lachen?
       
       Ich drehe momentan einen Dokumentarfilm. Dafür habe ich ein Gespräch mit
       einer 95-jährigen Frau geführt. Wir gingen weit in der Zeit zurück, in
       Erinnerungen von vor 75 Jahren. Meine Gesprächspartnerin war 20 Jahre alt,
       als der Zweite Weltkrieg endete.
       
       Vor unserem Gespräch haben wir die Batterie aus ihrer Wanduhr in der
       Wohnstube genommen. Die Uhr tickte sehr laut und störte die Tonaufnahmen.
       Als das Gespräch beendet war, steckten wir die Batterie wieder zurück. Die
       Uhr war eine Funkuhr. Die Zeiger begannen sich daraufhin schnell zu drehen,
       sie suchten ein Signal, sie drehten sich immer weiter um die Achse, ein
       mechanisches Surren. Ssssssss. Es dauerte lange. Als müssten sich die
       Zeiger in der Zeit selbst zurechtfinden, sie durcharbeiten, um zurück zum
       Jetzt-Punkt zu finden.
       
       Aber wo war das Jetzt? Die Uhr suchte und suchte, minutenlang surrten die
       Zeiger. War sie kaputt? Wir nahmen die Batterie heraus, steckten sie
       zurück. Die Uhr begann von Neuem. Ssssssss. Wir packten zusammen. Und dann,
       kurz bevor wir gingen. Stille. Ticken. Endlich. Die Uhr hatte ins Jetzt
       gefunden.
       
       Aber sie lief falsch. Die Zeiger zeigten die Zeit zwei Stunden nach der
       richtigen Uhrzeit an. Meine Gesprächspartnerin nahm es gelassen: „Ach, das
       wird schon“, sagte sie. Ich aber hatte kein gutes Gefühl dabei, ihr Zuhause
       in der falschen Zeit zurückzulassen. Doch die Zeit drängte. Wir wollten
       zusammen noch nach draußen, zu einem früheren Ort ihrer Erinnerung gehen.
       Wir gingen und ließen die Zeit zurück.
       
       Als wir uns später draußen verabschiedeten, sagte ich: „Ich hoffe, dass die
       Uhr das Funksignal gefunden hat, wenn Sie nach Hause kommen, dass sie dann
       wieder richtig läuft.“ „Ach, die wird sich schon eingependelt haben“, sagte
       sie. Ein paar Tage später rief ich die 95-jährige Dame an. Ich wollte
       wissen, ob die Uhr wieder richtig ging.
       
       „Nein“, sagte sie heiter. „Sie geht immer noch zwei Stunden hinterher. Mein
       Sohn hat auch geschaut, aber sie bleibt dabei.“ Mir war das unangenehm. Die
       Vorstellung, dass die Dame nun mit einer Uhr in ihrer Wohnstube saß, bei
       der sie immer die Zeit nachrechnen musste, bedrückte mich. Die Dame hatte
       mir erzählt, dass sie oft am Fenster saß, nach draußen schaute, die Vögel
       und Pflanzen beobachtete, Dinge, für die sie früher nie die Zeit gefunden
       hatte. Hinter ihr im Rücken tickte jetzt eine falsche Zeit. Das musste sie
       doch beunruhigen.
       
       Doch die Dame beruhigte mich: „Ist doch nicht so schlimm“, sagte sie. „Das
       wird schon. Und sonst. Die Uhr war eh alt.“ In den nächsten Tagen blieb die
       Uhr in meinen Gedanken. Ich versuchte mich zu erinnern, von welcher Marke
       sie gewesen war, ob ich der Dame ihre Wanduhr neu kaufen könnte. Es blieb
       ein Gefühl der Unabgeschlossenheit, als würde noch eine Öffnung zu der
       Begegnung bestehen. In meinem Kopf blieb das Surren der Zeit. Die kleinen
       Zeiger, die sich drehten und drehten. Sssssss.
       
       Tage vergingen. Dann, an einem Morgen, ein Anruf. Ein Räuspern. Eine
       zerbrechliche Stimme, die ich sofort kannte: „Hallo! Ich wollte Ihnen
       sagen. Die Uhr.“ Fast triumphierend rief die Dame: „Sie läuft wieder
       richtig! Ich kam heute in die Wohnstube, schaue auf meine Uhr, schaue auf
       die Wanduhr und denke, die laufen ja gleich. Sie hat es geschafft.“
       
       „Hurra“, rufe ich und dann lachen wir beide lange und laut miteinander.
       Eine umfassende Erleichterung und Freude durchströmen mich. Als hätte sich
       aus einem größeren Zusammenhang heraus wieder etwas eingerenkt. Als würde
       etwas richtig laufen. Wie ein Zeichen dafür, dass wir verortet sind im
       Kreislauf des Lebens.
       
       „Es brauchte eben so lange“, sagt die Dame. Und für einen Moment wird mir
       die ganze Dimension ihres Alters, die Spanne der Zeit bewusst, die sie
       durchlebt hat, wie ihre Lebenszeit schon ein Stück Weltzeit geworden ist.
       Was können ihr zwei Stunden anhaben! Was sind denn zwei Stunden überhaupt?
       „Jetzt haben wir miteinander gelacht“, sagt sie zufrieden. Als wäre das
       Lachen alles wert gewesen. Wir verabschieden uns. Ein schöner Tag beginnt.
       
       20 Sep 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christa Pfafferott
       
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