# taz.de -- Argentinien von Corona-Armut bedroht: Grundeinkommen für Millionen
       
       > Seit mehr als vier Monaten leidet Argentinien unter dem Lockdown, der
       > Hälfte der Bevölkerung droht Armut. Nun wird das Sozialsystem neu
       > diskutiert.
       
 (IMG) Bild: Die Hälfte der Bevölkerung ist von Armut bedroht, wie diese Demonstrantin in Buenos Aires
       
       BUENOS AIRES taz | In Argentinien hat der [1][dramatische Anstieg der
       Armut] die Diskussion über die Einführung eines Grundeinkommens
       beschleunigt. Laut Schätzungen werde nach der Coronapandemie die Hälfte der
       45 Millionen Einwohner*innen unterhalb der [2][Armutsgrenze] leben.
       
       Vor Corona waren es bereits rund 15 Millionen. „Fortgeschrittene Länder
       denken über ein universelles Einkommen nach, weil dort nahezu jede Person
       ein Einkommen generiert, meist sogar ein hohes“, sagt Jorge Colina vom
       argentinischen Institut für soziale Entwicklung IDESA.
       
       Das aber gelte nicht für Argentinien. Die Mehrzahl seiner Armen bekäme eine
       Unterstützung durch mehrere staatliche Sozialprogramme. „Würden wir sie
       ordnen und zusammenfassen, könnte daraus ein universelles Einkommen
       entspringen“, so Colina.
       
       Ähnlich sieht es Argentiniens Sozialminister Daniel Arroyo. „Wir haben
       schon länger ein universelles Kindergeld für Bedürftige sowie Sozial- und
       Nahrungshilfe und jetzt das Nothilfeprogramm Ingreso Familiar de Emergencia
       (IFE)“, bestätigt Arroyo.
       
       ## 12 Millionen beantragen Nothilfe
       
       Während Kindergeld, Sozialhilfe und Nahrungshilfe schon vor Corona
       existierten, ist das IFE ein Bonusprogramm in Höhe von 10.000 Peso (etwa
       145 Euro), das vor allem Niedriglohnempfänger*innen und informell
       Beschäftigte wegen des harten Lockdown erhalten, der nun schon länger als
       vier Monate dauert. Im August wird der Zuschuss schon zum dritten Mal
       ausgezahlt werden. Rund 12 Millionen Argentinier*innen hatten ihn
       beantragt, an 9 Millionen wurde er ausgezahlt.
       
       So ist das Nothilfeprogramm zugleich die erste aussagekräftige Erhebung
       über den informellen Sektor. Dabei kam heraus, dass rund 4 Millionen der
       informell Erwerbstätigen noch nie ein vertraglich geregeltes
       Arbeitsverhältnis eingegangen sind. Ein eigenes Konto haben sie auch nicht.
       „Für das Finanzamt, die öffentliche Krankenkasse und Rentenversicherung
       existierten sie bisher gar nicht“, sagte eine Staatsangestellte in einer
       Fernsehdebatte.
       
       Angesichts der leeren Staatskasse ist es fraglich, ob es beim
       Grundeinkommen um mehr gehen kann als um eine Basishilfe gegen extreme
       Armut und Hunger. „Solche Programme sind keine Einmalzahlungen. Sie
       erfordern eine dauerhafte Erhöhung der Staatsausgaben, wenn sie keine
       anderen Programme ersetzen“, mahnte Juan Luis Bour, Chefökonom der
       liberalen Stiftung für lateinamerikanische Wirtschaftsforschung FIEL. „Der
       Staatshaushalt hat schon seit vielen Jahren ein Defizit“, sagte Bour.
       
       Tatsächlich finanziert die Regierung gegenwärtig alle Corona-Hilfsmaßnahmen
       über die Notenpresse. Argentinien ist international als zahlungsunfähig
       eingestuft, und solange die seit Monaten laufenden
       Umschuldungsverhandlungen mit den Gläubigern nicht abgeschlossen sind, ist
       der Zugang zu den internationalen Kreditmärkten versperrt.
       
       ## Erfahrung mit Krisenprogrammen
       
       Allerdings hat das Land Erfahrung im Umgang mit solchen Krisenprogrammen.
       Nach der Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2001 lebte die Hälfte der
       Bevölkerung ebenfalls unterhalb der Armutsgrenze. Damals wurde das Programm
       „Jefes y Jefas de Hogar“ aufgelegt, mit dem erstmals auch Frauen als
       Chefinnen eines Familienhaushalts direkt unterstützt wurden.
       
       Gebremst wird die Debatte überraschenderweise von sozialen
       Basisorganisationen und lokalen Parteigruppen. Aus der Tatsache, dass
       Millionen Argentinier*innen ihre staatlichen Hilfszuwendungen über diese
       zwischengeschalteten Gruppierungen erhalten, entspringt deren Macht und
       Einfluss. Die Auszahlung eines Grundeinkommens über kostenfreie Bankkonten
       direkt an die Empfänger*innen wäre für sie ein schwerer Schlag.
       
       29 Jul 2020
       
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