# taz.de -- Debatte um Abschaffung der Polizei: Lieber solidarisch leben
       
       > Die Forderung nach einer Welt ohne Polizei richtet sich gar nicht primär
       > gegen Uniformierte. Sie ist eine Utopie verantwortungsvoller
       > Gemeinschaft.
       
 (IMG) Bild: Wie wäre es ohne sie? Polizeieskorte einer linken Demo
       
       Wer die Abschaffung der Polizei fordert, ist schnell mit Häme konfrontiert:
       „Und wen rufst du an, wenn du ausgeraubt wirst? Oder wenn du einen Überfall
       beobachtest?“ Nur, warum erscheint es uns so ungewöhnlich, in
       Gefahrensituationen nicht die Polizei zu rufen? Ein solches Verhalten
       widerspricht einem Reflex, den die meisten tief verinnerlicht haben.
       
       Bei Bedrohungen oder nach Schädigungen, genauso wie bei Straftaten, die wir
       beobachtet haben, wenden wir uns an die Polizei. Das ist schön einfach, man
       gibt die Verantwortung ab. Aber es ist nicht immer eine gute Idee. Manchmal
       kostet es sogar Menschenleben, wie am [1][18. Juni in Bremen das von
       Mohamed I.] Er wurde vor seiner eigenen Haustür durch Polizeischüsse
       getötet.
       
       Für marginalisierte Gruppen wie BPoC, Arme, Obdachlose, Drogen- oder
       Sexarbeiter*innen ist es [2][ohnehin oft keine Option, die Polizei zu
       rufen]. Sie könnten sich dadurch noch stärker gefährden oder in den Fokus
       von Ermittlungen oder Schikanen bringen. Denn die Polizei ist eben nicht
       dazu da, Ordnung und Sicherheit für alle herzustellen, sondern dafür,
       [3][herrschende Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten] und das Eigentum der
       Besitzenden zu sichern. [4][Black Lives Matter] und andere BPoC-Bewegungen
       fordern deshalb schon lange, die Polizei abzuschaffen.
       
       Nach den großen Protesten anlässlich des Todes von George Floyd hat der
       [5][Stadtrat von Minneapolis beschlossen, die Polizei in ihrer jetzigen
       Form aufzulösen]. Auch in Seattle wurde die Forderung diskutiert; [6][dort
       hielten Black-Lives-Matter-Aktivist*innen über Wochen eine polizeifreie
       Zone aufrecht]. Aber wie organisiert man eine polizeifreie Gesellschaft
       dauerhaft?
       
       „We look out for each other“, also „Wir passen aufeinander auf“, ist ein
       Slogan, den migrantische Communitys und anarchistische Gruppen oft
       verwenden, wenn sie für Alternativen zum Ruf nach der Staatsgewalt werben.
       Denn Alternativen braucht es – wie sonst regelt man Schadensansprüche nach
       Verkehrsunfällen, wie geht man gegen organisierte Kriminalität vor, wie
       gegen Menschenhandel und Ausbeutung, was passiert mit Vergewaltigern und
       Mörder*innen?
       
       Das Konzept der Community Accountability, auf Deutsch:
       Gemeinschaftsverantwortung, zielt darauf, Sicherheit und Gerechtigkeit
       herzustellen, ohne dabei auf Gefängnisse, Jugendämter und die Polizei
       zurückzugreifen. Stattdessen ist die Community, also die Nachbarschaft,
       eine Gruppe von Freund*innen, ein Arbeitszusammenhang oder auch eine
       Kirchengemeinde, zuständig.
       
       Die Netzwerke sollen direkt auf Gewalttaten reagieren, indem sie mit
       unbewaffneten Interventions- und Mediationsteams Täter*innen dazu bringen,
       Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen, und sie dabei unterstützen,
       sich künftig anders zu verhalten.
       
       Statt zu bestrafen, sollen sich die Teams um Täter-Opfer-Ausgleiche bemühen
       und auch präventiv wirken, also Bildungsprogramme gegen Gewalt und
       Unterdrückung entwickeln und durch persönliche Beziehungen eine Kultur der
       kollektiven Verantwortungsübernahme herstellen. Und wo ist der Druck, sich
       an Regeln für ein friedliches Miteinander zu halten, größer als im direkten
       sozialen Umfeld?
       
       Klar, in Berlin-Kreuzberg oder Hamburg-St. Pauli mag das ein attraktives
       Szenario sein. Aber sobald man es nach Chemnitz verlegt, kriegt man
       Bauchschmerzen: Wer will allen Ernstes den Chemnitzer
       Durchschnittshutbürger in die Verantwortung bringen, für Sicherheit auf den
       Straßen zu sorgen? Schreckensbilder von rechten Bürgerwehren drohen am
       Horizont. Nur sieht der Status quo der sächsischen Polizei ja gar nicht so
       anders aus.
       
       ## Frühstück und Frauenhäuser
       
       Historische Beispiele für nachbarschaftliche Sicherheitsstrukturen gibt es
       einige. Die US-Bürgerrechtsbewegung entwickelte in den 1970er Jahren
       Community-Verteidigungsprogramme, bei denen bewaffnete Aktivist*innen der
       Black Panther Party for Self Defense durch die Viertel zogen, um
       Polizeigewalt zu verhindern und Bürger*innen über ihre Rechte zu
       informieren. Sie organisierten Frühstück für Schulkinder, gründeten
       Wohnungsgenossenschaften und Gemeinschaftsgärten und stellten medizinische
       Versorgung bereit. Zeitgleich fingen Frauen in den USA an, sich kollektiv
       gegen sexualisierte Gewalt zu organisieren. Sie patrouillierten auf den
       Straßen, begleiteten Frauen, installierten selbst gemachte Alarmsysteme und
       gründeten schließlich die ersten Krisenzentren für Menschen mit
       Vergewaltigungserfahrungen und richteten Frauenhäuser ein.
       
       Gerade bei Sexualdelikten und häuslicher Gewalt ist es offensichtlich, wie
       schlecht das etablierte Polizei- und Justizsystem funktioniert. Die Quote
       der Bestrafung von Tätern ist verschwindend niedrig. Ein anderes Beispiel
       für die Beschränktheit der etablierten Strafverfolgung ist die öffentlich
       wahrnehmbare Drogenkriminalität. Der Aufwand, mit dem schwarze
       Straßendealer in deutschen Großstädten verfolgt werden, ist riesig, aber
       alles, was dabei rauskommt, sind überfüllte Untersuchungsgefängnisse. Nach
       wenigen Tagen stehen die Anfang 20-Jährigen geflüchteten Männer wieder auf
       St. Pauli oder im Görlitzer Park, weil ihnen der legale Arbeitssektor
       verschlossen bleibt.
       
       Es wird kein Gramm Koks weniger verkauft, weil deutsche Polizist*innen
       sie durch die Straßen jagen. Eine besser ausgebaute Drogen- und Suchthilfe,
       ein umfassenderes Gesundheits- und Sozialsystem sowie ein für
       Migrant*innen zugänglicher Arbeitsmarkt würde sehr viel mehr bewirken.
       
       Nun ist es verlockend, zu argumentieren: In einer gerechten, freien und
       glücklichen Gesellschaft bräuchten wir keine Polizei mehr, also müssen wir
       erst mal die Utopie verwirklichen, bevor wir die Polizei abschaffen. Das
       lässt sich leicht sagen, wenn man selten mit der Polizei zu tun hat.
       Anderen dauert das aber zu lange. Die Aktivist*innen in Minneapolis
       fordern, statt Geld für überausgestattete Polizist*innen zu verschwenden,
       Programme für Bildung und Sozialarbeit zu finanzieren. Was in den
       Vereinigten Staaten sicherlich nötiger ist als hierzulande, wäre auch hier
       richtig. Trotzdem bleiben Leerstellen.
       
       ## Schrittweise Abschaffung
       
       Um Geflüchtete auf den primären Arbeitsmarkt zu bringen, müsste man die
       Asylgesetze ändern. Um sexualisierte Gewalt besser verfolgen zu können,
       mindestens das Patriarchat abschaffen. Nicht jeder Psychopath wird sich
       außerdem überreden lassen, kollektive Verantwortung zu übernehmen, nicht
       jeder kleingeistige Idiot davon absehen, sich auf Kosten der Gemeinschaft
       Vorteile zu verschaffen. Auch will man natürlich keine bewaffneten Gangs,
       die wie in brasilianischen Favelas Polizei und Sozialstaat ersetzen.
       Internationalen Menschenhändlerringen wird die Nachbarschaft auch nicht
       beikommen können.
       
       Davon sollte man sich aber nicht entmutigen lassen, sondern zweierlei
       ableiten: Erstens kann die Abschaffung nicht auf einen Schlag erfolgen,
       sondern muss schrittweise umgesetzt werden – zuerst die
       Bereitschaftspolizei, vor allem die Aufstandsbekämpfungs- und
       Prügeleinheiten wie die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) oder
       das bayerische Unterstützungskommando (USK). Später die
       Landeskriminalämter, die Abteilung Organisiertes Verbrechen und Interpol.
       Möglichst sofort sollte der Besitz von Betäubungsmitteln ebenso
       entkriminalisiert werden wie ticketloses Bahnfahren, Verstöße gegen
       Meldeauflagen und andere auf Arme und Migrant*innen zugeschnittene
       Bagatelldelikte.
       
       Zweitens, und das ist der eigentlich wichtige, wenn auch mit großem
       Zeitaufwand verbundene Punkt, muss sich die Gesellschaft insgesamt eben
       doch verändern. Es funktioniert einfach nicht, die Forderung nach
       „Sicherheit für alle“ isoliert von der nach Wohnraum für alle,
       Gesundheitsversorgung, Recht auf Arbeit und Bewegungsfreiheit für alle zu
       betrachten. Ein System aber, das darauf basiert, dass wenige gewinnen und
       viele verlieren, verlangt eben nach einer Instanz, die gewaltvoll
       verhindert, dass die vielen sich erfolgreich organisieren und Gerechtigkeit
       einfordern. Die Polizei abzuschaffen und den Kapitalismus
       aufrechtzuerhalten funktioniert also nicht.
       
       ## Das beste Angebot
       
       Um das Gedankenexperiment einer Gesellschaft ohne Polizei trotzdem zu Ende
       zu führen, sei noch einmal auf den Community-Aspekt verwiesen. Es ist an
       der Gesellschaft, an uns allen, ein so gutes Angebot zu machen, dass es
       kaum jemand ablehnen will. Man kann die Menschen ja vor die Wahl stellen:
       Entweder sie entziehen sich der gemeinsamen Verantwortung und halten sich
       nicht an kollektiv ausgehandelte Regeln. Dann können sie, wie gewohnt, nach
       ihrem achtstündigen Arbeitstag, an dem sie nebenbei die Kinder
       wegorganisiert, die Oma im Altersheim besucht, Widerspruch gegen die
       Mieterhöhung eingereicht und mit der Krankenkasse über die Kostenübernahme
       für die Bandscheiben-OP verhandelt haben, abends allein auf dem Sofa sitzen
       und sich mit Siri unterhalten.
       
       Wer kein sirifähiges Handy hat, weil es bei vier Stunden Arbeit eben auch
       nicht so viel Geld gibt, was aber nicht schlimm ist, weil die Miete
       moderat ist und Bildung und Gesundheit staatlich finanziert werden, kann
       sich ja im Gemeinschaftsgarten bekochen lassen. Wenn die Person sich
       außerdem nicht allein um Kinderbetreuung und die Pflege von Angehörigen
       kümmern muss und auch sonst ohne Existenzängste lebt, ist sie abends
       wahrscheinlich noch fit genug, mit den Nachbar*innen darüber zu
       diskutieren, wie sie das Gute Leben für Alle ermöglichen und
       aufrechterhalten können.
       
       11 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
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