# taz.de -- Versöhnlichkeit ritualisieren: Unrecht entschuldigen
       
       > Grundlegende Gedanken zu den Begriffen Versöhnung, Vergebung und Reue
       > anlässlich des jüdischen Feiertags Jom Kippur.
       
 (IMG) Bild: Fragment eines hebräischen Schriftstücks des Philosophen Maimonides (vermutlich 1135-1204)
       
       Was 2019 geschah, wäre nicht passiert, wenn es mehr Versöhnung gäbe“,
       meinte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff (CDU) in seiner Rede zu
       Jom Kippur in der Synagoge in Halle. Ein Jahr nach dem Anschlag auf dieses
       Gotteshaus scheint die Politik immer noch nicht verstanden zu haben, dass
       es mit Rechtsextremen keine [1][„Versöhnung“] geben kann. Es befremdet
       stark, dass die Aufforderung „Versöhnt euch!“ an die Überlebenden des
       Angriffs gerichtet wird – auch mit Verweis auf die jüdische Tradition. Im
       Sinne von Jom Kippur möchte ich dennoch versöhnlich mit Reiner Haseloffs
       Fehltritt umgehen.
       
       Der Grundgedanke des Festes ist, dass jeder Mensch Fehler begeht. Deshalb
       steht in seinem Zentrum die Entschuldigung bei den Mitmenschen. In der
       Woche vor Jom Kippur sollen die Gläubigen ihr Gewissen erforschen und
       prüfen, welche Handlungen des vergangenen Jahres sie am meisten bereuen:
       Wem habe ich Unrecht getan? Diese Personen müssen aufrichtig um Verzeihung
       gebeten werden. Wenn die Entschuldigung nicht angenommen wird, empfiehlt
       der Philosoph Maimonides, es noch einmal zu versuchen und dann ein drittes
       Mal – im Beisein von Freund*innen, die die ehrliche Zerknirschung bezeugen.
       
       Diese jahrtausendealte Praxis ritualisierter Reue und Vergebung strahlt
       momentan große Anziehungskraft aus. Fastfood-Entschuldigungen werden
       genauso leichtfertig und berechnend produziert [2][wie die Skandale], die
       sie notwendig machen. Der RBB entschuldigt sich für Witze von Serdar
       Somuncu, Christian Lindner entschuldigt sich bei Linda Teuteberg für
       sexistische Bemerkungen, sogar Attila Hildmann hat für seine Chatgruppe
       eine „Entschuldigung“ bei Volker Beck verfasst, nicht ohne ihn weiter zu
       beleidigen.
       
       ## Bierdeckeldiskurs von Friedrich Merz
       
       Paradigmatisch für diese Gratisentschuldigungen ist die von [3][Friedrich
       Merz], der Homosexualität zuvor als „Lebensentwurf“ bezeichnet hatte: „Wenn
       sich irgendjemand davon persönlich getroffen gefühlt hat, bedauere ich das
       wirklich sehr.“ Nach dem Motto, Selber schuld, wenn ihr euch schlecht
       fühlt!
       
       Im Deutschen ist „sich entschuldigen“ eine besondere linguistische
       Konstruktion. Im Kurs „Deutsch als Fremdsprache“ lernte ich, die Vorsilbe
       „ent-“ bringt zum Ausdruck, dass etwas in seinen Ausgangszustand gebracht
       wird. Eigentlich kann man nur um Entschuldigung bitten, „entschuldigen“
       kann nur die geschädigte Person. „Ich entschuldige mich“ ist hingegen eine
       autoritäre Selbstbefreiung, bei der die Vergebung der anderen Person
       vorausgesetzt wird; von ihr wird nur mehr erwartet, dem
       Selbstvergebungsritual zu applaudieren.
       
       Wer das nicht tut, gilt als Spielverderber*in. Hier kommt die deutsche
       Sprache dem Trend zu Fastfood-Entschuldigungen entgegen: Oft werden
       Entschuldigungen von Jurist*innen und Marketing-Fachleuten diktiert; sie
       sind selbst schon Teil einer Image-Kampagne, genauso kalkuliert wie die
       Grenzüberschreitung zuvor. Sie sind schließlich auch die billigste Methode,
       sich aus der Affäre zu ziehen: sich entschuldigen kostet nichts. Für meinen
       Geschmack verstärken derart zynische, rein der Form halber vorgetragene
       Entschuldigungen noch das begangene Unrecht.
       
       Entschuldigungen machen niemanden wieder lebendig. Gerade in
       Auseinandersetzungen um rassistische und sexistische Äußerungen in der
       Öffentlichkeit scheinen mir Entschuldigungen einen viel zu hohen
       Stellenwert einzunehmen. Sie sorgen dafür, dass Entgleisungen oft auf einer
       rein emotionalen Ebene diskutiert werden: Gefühle wurden verletzt, aber
       durch eine Entschuldigung kann diese Verletzung wieder aufgehoben werden –
       damit ist die Debatte meist wieder beendet. Die intellektuelle und
       politische Dimension bleibt dabei völlig unreflektiert.
       
       Man müsste sich hier stärker am [4][Jom Kippur] orientieren: Alle
       Entschuldigungen eines Jahres wären künftig an einem einzigen Tag
       abzuhandeln – dafür müsste man es aber ernst damit meinen. Der Vorteil
       wäre: Alle falschen, sinnlosen oder heuchlerischen Entschuldigungen blieben
       uns fürs restliche Jahr erspart.
       
       8 Oct 2020
       
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