# taz.de -- Buchautor über Euthanasie-Überlebende: „So eine Diagnose sagt nichts aus“
       
       > Die Bremerin Paula Kleine überlebte die Euthanasie und die Psychiatrie.
       > Ein Buch über ihr Leben erzählt zugleich die Geschichte der
       > Behindertenhilfe.
       
 (IMG) Bild: Zwischenstopp am Rhein: Paula Kleine mit Frank Grabski (l.) und Wolfgang Göltsch am Filmset
       
       taz: Sie haben ein Buch geschrieben, „Die große Welt und die kleine Paula“
       – es ist die Geschichte von Paula Kleine. Wer war diese Frau, für die sich
       die große Welt sonst kaum interessiert hat, Herr Becker? 
       
       Heinz Becker: Paula Kleine wurde 1928 geboren und hat fast ihr ganzes Leben
       in Einrichtungen der Psychiatrie und der Behindertenhilfe zugebracht. Sie
       hat die Euthanasie überlebt, weil sie von mutigen Ordensschwestern auf dem
       Dachboden versteckt wurde, als die Transporte in die Vergasungsanstalten
       kamen.
       
       Sie hat viel Gewalt erfahren und gesehen und [1][lebte schließlich im
       Kloster Blankenburg], als die Anstalt 1988 aufgelöst wurde und Paula Kleine
       nach Bremen in eine betreute Wohngemeinschaft des Arbeiter-Samariter-Bundes
       (ASB) zog. Am Ende ihres Lebens wurde sie durch ihre Hauptrolle in dem Film
       [2][„Verrückt nach Paris“ von Eike Besuden] als Filmschauspielerin bekannt.
       
       Sie kennen viele Menschen mit Behinderungen – warum bekam gerade Frau
       Kleine ein Buch? 
       
       Ihre Geschichte ist besonders, auch wenn es viele Menschen gibt, die
       genauso gelebt haben und ihr Leben auch lange in Schlafsälen mit 24 Betten
       in zwei Reihen verbringen mussten. Anders als andere konnte Paula Kleine
       ihre Geschichte aber jedenfalls teilweise selbst erzählen – viele Menschen,
       die Jahrzehnte in der Anstaltspsychiatrie lebten, sprechen ja nicht mehr.
       Zudem habe ich sie über 25 Jahre lang gekannt und begleitet; 2014 starb
       sie. Das Buch ist über 20 Jahre hinweg entstanden, auch in vielen
       Gesprächen mit ihr selbst.
       
       Was für eine Behinderung hatte sie? 
       
       Sie war fast ihr ganzes Leben lang als „schwachsinnig“ diagnostiziert,
       später hieß das dann geistige Behinderung. Aber so eine Diagnose sagt ja
       gar nichts über den Menschen aus. Wenn man sich ihre Lebensumstände anguckt
       – ich wäre wohl auch geistig behindert geworden, hätte ich so leben müssen.
       Sie wurde mit drei Jahren aus der Familie genommen und kommt aus sehr armen
       Verhältnissen, der Vater soll Alkoholiker gewesen sein. Die Eltern hatten
       fünf Kinder und waren beide arbeitslos.
       
       Ihre Lebensgeschichte steht auch stellvertretend für die der
       Behindertenhilfe? 
       
       Ja. Man kann einen Menschen alleine aus seinen biografischen Daten ja nicht
       verstehen. Die Menschen, die Paula Kleine begleitet haben, hießen zuerst
       Pfleger und Schwestern, dann Betreuer und nun Assistenten. Was diese
       Menschen für Haltungen hatten, das hatte Einfluss auf das Leben von Frau
       Kleine. Deswegen habe ich parallel zu der Geschichte von Paula Kleine
       [3][auch die der Behindertenhilfe] aufgeschrieben. Wie die Menschen denken,
       so gehen sie auch mit Leuten um.
       
       Ist das eine rein retrospektive Betrachtung aus einer inzwischen
       überwundenen Vergangenheit? 
       
       Nein. Es ist zwar vieles besser geworden, aber die Gedanken, dass es
       lebensunwertes Leben gibt, sind ja nicht 1933 plötzlich in die Köpfe
       hineingerauscht und waren dann 1945 ebenso schnell wieder verschwunden.
       Spuren davon finden sich ja bis heute in der gesellschaftlichen Diskussion,
       in der Sonderpädagogik wie in der Psychiatrie, etwa wenn es um
       [4][vorgeburtliche Bluttests zur Verhinderung der Geburt von Menschen mit
       Downsyndrom] geht.
       
       Da ploppen rassenhygienische Ideen auf, und sie wurden – notdürftig
       überdeckt – ja auch von Leuten wie Thilo Sarrazin vertreten. Menschen mit
       Behinderungen erleben zwar nicht mehr so viel Gewalt wie Frau Kleine, aber
       sie werden immer noch ausgesondert von der Gesellschaft. Da hilft es, in
       die Vergangenheit zu gucken, um Entwicklungslinien zu sehen. Und die
       Abwertung von anderen Menschen – das sind ja Denkmuster, die nicht nur
       behinderte Menschen treffen.
       
       Hat sich die Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen also weniger
       stark geändert als wir uns das vormachen? 
       
       Die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen sind heute viel besser
       als vor 50, vor 20 Jahren. Aber da ist noch viel Luft nach oben. Aber die
       grundsätzliche Einstellung, dass es für diese Menschen besser ist, wenn sie
       unter ihresgleichen und abgesondert von der Welt sind – die ist noch
       vielfach anzutreffen.
       
       Also ist Ihr Buch ein Plädoyer für die Inklusion? 
       
       Ja! Menschen mit Behinderungen sind heute offiziell keine Patienten und
       auch keine hilfsbedürftigen Fürsorgeempfänger mehr. Man muss aber auch klar
       sagen: Das sind Menschen, die die gleichen Rechte auf gesellschaftliche
       Teilhabe haben wie alle anderen. Das sagt man so leicht, aber das
       Unterstützungssystem, das wir heute haben, ist aus den Sondereinrichtungen
       entstanden: Das Heim ist eine Weiterentwicklung der Anstalt.
       
       Sollte es gar keine solchen Heime mehr geben? 
       
       Das kann man sich wünschen, aber das ist noch ein sehr weiter Weg. Jeder
       Mensch mit Behinderung, der gern mit anderen Menschen mit Behinderung
       zusammenleben will, sollte das tun können – es sollte aber nicht seine
       einzige Möglichkeit sein.
       
       Könnte Frau Kleine heute besser geholfen werden? 
       
       Vermutlich schon. Ihre Entwicklungschancen und Möglichkeiten wären heute
       ganz andere.
       
       Welche Bedeutung hatte die Hauptrolle in „Verrückt nach Paris“ für sie? 
       
       Es war das letzte große Ereignis in ihrem Leben. Das sind tolle
       Erfahrungen, die Menschen wie Paula Kleine in ihrem Leben eigentlich gar
       nicht machen können. Da hat sie großes Glück gehabt.
       
       10 Oct 2020
       
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