# taz.de -- JJ Bola über toxische Männlichkeit: „Wir neigen dazu, uns zu isolieren“
       
       > JJ Bola, Streetworker und Autor, in Kinshasa geboren, wuchs in London
       > auf. Er spricht über toxische Männlichkeit und angelernte Rollenbilder.
       
 (IMG) Bild: JJ Bola plädiert dafür, die binäre Geschlechterordnung auzulösen
       
       taz am Wochenende: Herr Bola, Ihr Buch trägt den Titel „Sei kein Mann –
       warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist“. Was ist so schlimm daran,
       ein Mann zu sein?
       
       JJ Bola: Wenn ich sage „sei kein Mann“, dann beziehe ich das darauf, wie
       wir sozialisiert werden – auf die Erwartungen, die unsere Gesellschaften an
       Männer und ihr Verhalten haben. Männer sollen stark, unerschütterlich und
       dominant sein. Außerdem wird immer noch erwartet, dass sie die Versorger
       sein sollen. All diese Vorstellungen haben negative Auswirkungen auf Männer
       und Jungs, aber auch auf ihre PartnerInnen, Geschwister und FreundInnen.
       
       Können Sie das präzisieren? 
       
       Jungen werden von klein auf sozialisiert, sich männlich zu verhalten. Wenn
       ein Junge weint, heißt es: „Jungs weinen nicht.“ Oder: „Ein Indianer kennt
       keinen Schmerz.“ Das schränkt ihre Fähigkeiten zur Empathie und den Zugang
       zu ihren Emotionen ein. Wenn sie dann zu jungen Männern heranwachsen,
       stecken sie oft voller Aggressionen. Wut, für die sie kein anderes Ventil
       als Gewalt kennen. Man lehrt uns nicht, wie wir Gefühle anders herauslassen
       können. Häufig wird Gewalt in Verbindung mit männlichem Verhalten toleriert
       und normalisiert. Diese Form von Männlichkeit ist problematisch. Es ist per
       se nichts falsch daran, ein Mann zu sein. Aber die Art, wie wir
       sozialisiert werden, kritisiere ich.
       
       Sie schreiben, dass Männer von der Liebe weg und Frauen zur Liebe hin
       sozialisiert würden. Wie meinen Sie das? 
       
       Die gesellschaftlichen Erwartungen an Männer und Frauen sind sehr
       unterschiedlich. Das macht sich besonders beim Thema Liebe und Sexualität
       bemerkbar. Von Frauen wird nach wie vor erwartet, dass sie wenige
       PartnerInnen haben. Während es zum „Mannsein“ quasi dazugehört, sich
       sexuell auszuleben. Frauen sollen liebevoll und fürsorglich sein,
       Eigenschaften, die Männern schon beim Aufwachsen verloren gehen, da sie als
       unmännlich gelten. Uns wird selten beigebracht, was nichtkörperliche
       Intimität bedeutet. In Bezug auf Partnerschaften wie auch hinsichtlich
       freundschaftlicher und familiärer Beziehungen.
       
       Sie schreiben, dass es unter kongolesischen Männern üblich ist, sich als
       Zeichen der Zuneigung und des Respekts an den Händen zu halten. In
       Großbritannien, wo Sie aufwuchsen, war das ungewöhnlich. 
       
       Das Händchenhalten unter Männern ist in vielen Kulturen völlig normal, ohne
       dass es als etwas Sexualisiertes gesehen wird. Wenn ich aber in London mit
       meinen Onkels und Cousins so durch die Straßen lief, wurden wir dafür
       ausgelacht. Es galt als schwul oder unmännlich. Mir war es aber wichtig an
       dieser Tradition aus meiner kongolesisch-frankophonen Community
       festzuhalten, obwohl ich mich an mein Londoner Umfeld anpassen wollte.
       
       Wie hat sich das auf Ihr Verhalten ausgewirkt? 
       
       Als Heranwachsender war ich oft ziemlich wütend, teilte meine Gefühle aber
       mit niemandem und verhielt mich aggressiv. Ich war groß, sportlich, habe
       mit Gewichten trainiert und Basketball gespielt – durchweg männlich
       performt, könnte man sagen. Dabei war ich schon von klein auf sehr
       emotional, habe viel geweint, aber gedacht, dies verstecken zu müssen.
       Heute versuche ich mit meinen Emotionen offener umzugehen – quasi die Maske
       der Männlichkeit abzusetzen.
       
       Der Originaltitel Ihres Buches heißt „Mask off“. 
       
       Das war aber noch vor Corona. (lacht) Mein Buch ist quasi eine
       Aufforderung, das gesellschaftliche Konstrukt Männlichkeit zu überwinden.
       Ich möchte niemandem etwas vorschreiben. Aber mir hätte so eine Schrift
       geholfen, als ich jünger war. Um zu verstehen, dass es nicht den einen Weg
       gibt, ein Mann zu sein.
       
       Als Sozialarbeiter haben Sie Männer mit psychischen Erkrankungen betreut.
       Sie litten auch selbst an Depressionen. Was haben Sie dabei erlebt? 
       
       Ich denke, dass [1][Männer nach wie vor Probleme damit haben, sich schwach
       und verletzlich zu zeigen]. Oft neigen wir dazu, uns zu isolieren, wenn wir
       schwierige Phasen durchmachen. Letzten Endes sind aber auch sie soziale
       Wesen und auf Unterstützung angewiesen. Ich habe den Eindruck, dass Frauen
       viel eher auf ihr Umfeld zurückzugreifen wissen, während Männer oft nicht
       wissen, an wen sie sich in solchen Situationen wenden können. Das hat
       weniger mit biologischen [2][Faktoren zu tun, als mit unserer sozialen
       Konditionierung.] Männer werden so sozialisiert, dass sie unabhängig sein
       und alles mit sich allein ausmachen sollen. Das ist aber gerade
       hinsichtlich psychischer Erkrankungen nicht hilfreich.
       
       In Ihrem Buch heißt es, dass Männer nicht nur vom Patriarchat profitieren,
       sondern auch dessen Opfer sind. 
       
       Offensichtlich leben wir in einer Gesellschaft, die Männer gegenüber Frauen
       und anderen Geschlechtern privilegiert. Wir halten an patriarchalen
       Strukturen fest, weil sie uns Macht verleihen. Solange es jemanden unter
       mir gibt, den ich dominieren kann und dem es schlechter geht als mir, fühle
       ich mich stark. Dabei übersehen wir, dass Männer öfter Opfer von
       Gewaltverbrechen werden, häufiger drogenabhängig sind und/oder von
       Obdachlosigkeit bedroht sind. Auch ist die Suizidrate bei Männern höher als
       bei Frauen. Statt also am patriarchalen System festzuhalten, sollten wir
       uns für eine geschlechtergerechtere Gesellschaft einsetzen.
       
       Würden Sie sagen, toxische Männlichkeit ist ein Problem westlicher
       Gesellschaften? 
       
       Nein, [3][ich würde sagen, es ist ein weltweites Problem.] Allerdings haben
       sich patriarchale Strukturen in verschiedenen Kulturen unterschiedlich
       entwickelt. Im Kongo beispielsweise kleiden sich die Männer sehr farbenfroh
       und extravagant, sie halten Händchen und küssen sich zur Begrüßung. Sie
       bewegen ihre Hüften beim Tanzen und legen großen Wert auf Körperpflege. In
       anderen Kulturen würde man dieses Verhalten vielleicht als „feminin“
       werten. Das bedeutet aber nicht, dass dort im Kongo keine patriarchalen
       Strukturen herrschen. Misogynie und sexuelle Gewalt gegenüber Frauen sind
       dort ein großes Problem.
       
       Wirkt sich toxische Männlichkeit auf Schwarze Männer und Men of Color
       anders aus als auf weiße Männer? 
       
       Ich glaube, toxische Männlichkeit betrifft jede*n, aber nicht auf dieselbe
       Weise. Über Schwarze Männer und Men of Color herrschen Stereotype, die noch
       aus der Zeit des Kolonialismus und der Sklaverei stammen und besonders
       durch Mainstreammedien aufrechterhalten werden. In Filmen, Serien oder auch
       dem Rap werden sie häufig als aggressiv, gewaltbereit und sexuell getrieben
       dargestellt. Das führt auch zu einer Stigmatisierung im Alltag. Deswegen
       sollte (toxische) Männlichkeit intersektional gedacht und betrachtet
       werden. Denn auch hier ist Mann nicht gleich Mann: Ein weißer
       heterosexueller Mann wird anders behandelt als ein Schwarzer Mann, der
       wiederum anders behandelt wird als ein Schwarzer homosexueller Mann und so
       weiter.
       
       Wie sollte „Männlichkeit“ in einer besseren Zukunft aussehen? 
       
       Die binäre Geschlechterordnung aufzulösen, wäre der Anfang – sich also von
       der Vorstellung zu lösen, dass gewisse Eigenschaften und Merkmale für
       Männer und andere für Frauen zu gelten hätten. Es wäre schön, wenn die
       Menschen anerkennen könnten, dass sie sowohl „männliche“ als auch
       „weibliche“ Attribute in sich tragen und diese wertschätzen. Ich würde mir
       außerdem wünschen, in einer Welt zu leben, in der „Mannsein“ nicht von der
       Vorstellung abhängt, andere unterdrücken zu müssen.
       
       31 Oct 2020
       
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