# taz.de -- Abtreibungsverbot im Nachbarland: Polen ist nah
       
       > Das deutsche Abtreibungsrecht erschwert Teilen der Bundesregierung die
       > Kritik an dem polnischen Verbot. Anderen kommt es entgegen.
       
 (IMG) Bild: Polnische Polizeioffiziere beobachten Proteste gegen das Abtreibungsverbot in Warschau
       
       Polen verletzt Grundrechte – und zwar gleich auf mehreren Ebenen.
       Polnischen Frauen wird ihr Recht genommen, über den eigenen Körper zu
       entscheiden: Das macht ein rechter und klerikal orientierter Staat für sie.
       Seit dem [1][Urteil des polnischen Verfassungsgerichts am 22. Oktober] soll
       eine Schwangere einen Fötus auch dann austragen, wenn er nicht lebensfähig
       ist. Wissentlich. Monatelang. Das ist nichts anderes als Folter.
       
       Auch der Umgang der nationalpopulistischen Regierung mit den Protesten, die
       Nacht für Nacht landesweit stattfinden, steht im Widerspruch zu den
       Standards, die das Recht auf friedliche Versammlung garantieren und etwa in
       der [2][Charta der Europäischen Union] festgeschrieben sind, so die
       Beratungsorganisation Pro Familia. Videos der polnischen Demos zeigen, wie
       Beamt:innen Tränengas und Pfefferspray gegen Protestierende einsetzen und
       sie körperlich attackieren.
       
       Die Kirchen müssten verteidigt werden, hetzte Premier Jarosław Kaczyński
       seine Anhänger:innen auf. Die Oppositionellen, so schimpfte er auch mit
       Blick auf die protestierenden Frauen, seien „Verbrecher“. All das sollte
       ausreichen, damit die Bundesregierung als Nachbarin und derzeitige
       Präsidentin im Rat der Europäischen Union reagiert. Doch die bleibt
       mucksmäuschenstill. Das ist schmerzhaft, frustrierend – und überhaupt nicht
       verwunderlich.
       
       Denn was sollen Vertreter:innen der Bundesregierung schon sagen?
       Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland illegal, wenngleich in den
       ersten drei Monaten unter bestimmten Umständen straffrei. Die Rechte des
       Embryos gegenüber denen der Schwangeren gehen vor: Der „Schutz des
       Ungeborenen gegenüber seiner Mutter ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber
       ihr die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen.“ Das
       entschied das Bundesverfassungsgericht 1993.
       
       ## Die deutsche Gesetzgebung ist ein Maulkorb
       
       Und das gilt mit den festgelegten Ausnahmen bis zum heutigen Tag. Über
       einen sicheren, legalen Schwangerschaftsabbruch dürfen Ärzt:innen in
       Deutschland auch nach der Reform des Paragrafen 219a nicht einmal
       öffentlich informieren. So gern sich die Bundesregierung als Verteidigerin
       von Frauenrechten geriert, so schwierig wären unter diesen Voraussetzungen
       argumentative Einwände gegen die polnische Politik. Die deutsche
       Gesetzgebung ist ein Maulkorb. Mehr noch:
       
       Weite Teile der Union sehen sich dem „Lebensschutz“ verpflichtet. Nein,
       nicht dem von Frauen – dem von Föten. Das polnische Urteil, das die
       aktuelle Verschärfung damit begründet, das bis dahin geltende Recht habe
       die „Menschenwürde“ des Fötus nicht ausreichend geschützt, erinnert
       erschreckend an die deutschen [3][Paragrafen 218 ff. im Strafgesetzbuch].
       Die sortieren Schwangerschaftsabbrüche gleich hinter Mord und Totschlag
       ein.
       
       Der „Schutz des ungeborenen Lebens“ ist zentral für die deutsche
       Gesetzgebung und die fundamentalistisch-christlichen Teile der Unionsbasis.
       Die wiederum sind eng mit der organisierten sogenannten
       Lebensschutzbewegung verknüpft. „Mahnwachen“ vor Beratungsstellen, bei
       denen Bilder zerstückelter Föten hochgehalten werden. Kapellen, in denen
       Schwangerschaftsabbrüche mit dem Holocaust gleichgesetzt werden. Anzeigen
       gegen Ärzt:innen, die Abbrüche vornehmen: All das passiert in Deutschland.
       
       Gleichzeitig schicken Abgeordnete wie der ehemalige Unionsfraktionschef
       Volker Kauder oder die Nachwuchshoffnung Philipp Amthor Grußworte an
       Schweigemärsche, bei denen [4][Tausende gegen Abbrüche] durch die Straßen
       ziehen.
       
       Erst vorvergangene Woche, als die [5][Proteste in Polen] längst hochgekocht
       waren und die polnischen Frauen den Krieg gegen ihre Körper lautstark
       anprangerten, scheiterte ein von langer Hand geplanter gemeinsamer Antrag
       der Regierungsfraktionen zu feministischer Außenpolitik – weil die Union
       den „Schutz des ungeborenen Lebens“ hineinverhandeln wollte. Das zeigt
       zweierlei, wie Cornelia Möhring sagte, die frauenpolitische Sprecherin der
       Linksfraktion im Bundestag.
       
       Erstens: Der Versuch der Union war ein Zeichen der Solidarität an die PiS.
       Und zweitens: Er war ein ideologisches Bekenntnis zur global agierenden,
       finanzkräftigen und bis in höchste Regierungsebenen vernetzten
       Lebensschutzbewegung. Der scheidende US-Präsident Donald Trump schlägt in
       dieselbe Kerbe, streicht Mittel für Abbrüche und strich das Recht auf
       Abbrüche nach Vergewaltigungen aus internationalen Vereinbarungen heraus.
       
       ## Amthor schickt Grußworte an Abbruchsgegner
       
       Die Herrschaft des Staats und der Kirche über Frauenkörper wird über
       Grenzen hinweg verteidigt. Umso wichtiger, dass für das Recht auf sichere
       und legale Schwangerschaftsabbrüche auch über Grenzen hinweg gekämpft wird.
       Der Bundesregierung jedoch kommt es nicht einmal in den Sinn,
       Schwangerschaftsabbrüche als Gesundheitsleistung zu behandeln, wie etwa die
       Weltgesundheitsorganisation WHO es fordert, und wie es in Kanada seit rund
       30 Jahren praktiziert wird.
       
       Zwar kämpft zumindest die SPD nicht offensiv gegen das Recht von Frauen auf
       den eigenen Körper – dafür aber noch lange nicht. Nicht einmal die
       Streichung der Regelungen zu Abbrüchen aus dem Strafgesetzbuch ist ein Ziel
       der Partei. Und beim Streit um die Abschaffung des Paragrafen 219a war ihr
       der Machterhalt wichtiger. Schwangerschaftsabbrüche aber müssen dort
       verhandelt werden, wo sie hingehören: in den Bereich der Medizin.
       
       Sie sind eine Gesundheitsleistung, die [6][jährlich etwa 47.000 Frauen] vor
       dem Tod nach unsauber durchgeführten Abbrüchen schützen würde. Sie müssen
       von den Krankenkassen übernommen werden. Es braucht genügend Ärzt:innen und
       Kliniken, die zur Verfügung stehen, um – wie es in manchen Regionen
       hierzulande der Fall ist – für einen Abbruch nicht Hunderte Kilometer weit
       fahren zu müssen. Sie müssen sicher, legal und enttabuisiert sein.
       
       Ganz gleich, wo sie wohnen: Erst wenn all das verwirklicht ist, sind Frauen
       davor geschützt, in einem Alptraum aufzuwachen, wie er sich in Polen lange
       angekündigt hat und jetzt wahr wird.
       
       9 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Abtreibungsrecht-in-Polen/!5723089
 (DIR) [2] http://www.eu-info.de/europa/EU-Charta-Grundrechte/
 (DIR) [3] /Recht-auf-Abtreibung-in-Deutschland/!5693140
 (DIR) [4] /Marsch-fuer-das-Leben-in-Berlin/!5715064
 (DIR) [5] /Konflikt-um-Abtreibungsverbot/!5724935
 (DIR) [6] https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=20600&LangID=E
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Patricia Hecht
       
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