# taz.de -- Sozialökologischer Umbau: Grün ist die Zukunft
       
       > Ist umweltverträgliches Wachstum im Kapitalismus möglich? Das kann nur
       > die Praxis zeigen, mittels einer radikal sozial-ökologischen
       > Reformpolitik.
       
 (IMG) Bild: Aktivist*innen fordern einen „Green New Deal“ beim Klimastreik in Berlin im November 2019
       
       Gewerkschaften und Umweltbewegung rätseln seit ihrer Gründung darüber, ob
       der Kapitalismus das Problem oder Teil der Lösung ist. Der Kapitalismus hat
       einen eingebauten Wachstumszwang: Profitorientierte Unternehmen erzeugen
       immer mehr Güter in kürzerer Zeit. Die expansive kapitalistische
       Produktionsweise machte die Effizienzgewinne durch Mehrverbrauch wieder
       zunichte. Dass grünes Wachstum im Kapitalismus möglich ist, muss also erst
       noch bewiesen werden.
       
       Eine radikal sozial-ökologische Reformpolitik wäre der ultimative
       Praxistest. Ein grüner Kapitalismus, der kohlenstoffarm produziert, müsste
       die energieintensiven Schlüsselsektoren umbauen, die öffentliche
       Infrastruktur erneuern und gleichzeitig die soziale Spaltung bekämpfen. Ein
       Bündnis aus aufgeklärtem Bürgertum und Arbeitnehmermilieus könnte einen
       solchen Green New Deal mehrheitsfähig machen.
       
       Die Idee ist nicht neu. In den 1930er Jahren war der New Deal die
       wirtschafts- und sozialpolitische Antwort [1][Franklin D. Roosevelts] auf
       die Weltwirtschaftskrise. In den 1980er Jahren wollte die SPD die
       Industriegesellschaft ökologisch modernisieren. Bernie Sanders zog mit
       einem Green New Deal – Investitionsoffensive für erneuerbare Energien und
       staatliche Arbeitsplatzgarantie – in den US-Präsidentschaftswahlkampf. Und
       Bündnis90/Die Grünen forderten einen [2][Green New Deal] im Europawahlkampf
       2019.
       
       ## Das größte Marktversagen
       
       Der Green New Deal besteht im Kern aus Ordnungspolitik (Ökosteuern,
       Verbraucherschutz, Auflagen) und einer öffentlichen Investitionsoffensive
       (nachwachsende Rohstoffe, öffentliche Infrastruktur, Energieeffizienz,
       erneuerbare Energien). Gleichzeitig sollen die Beschäftigten durch den
       Ausbau von Bildungswesen und Forschung entsprechend qualifiziert werden.
       Dadurch soll eine lange Welle grüner Innovationen entstehen, die für
       Beschäftigung und wirtschaftliche Dynamik sorgt.
       
       Im Kapitalismus gibt es immer wieder Marktversagen: Unternehmen können die
       Umwelt kostenlos verschmutzen. Für den Ökonomen Nicolas Stern ist der
       Klimawandel das größte Marktversagen, das wir je gesehen haben. Hier muss
       der Staat ordnungspolitisch handeln. Preise sollten künftig die ökologische
       Wahrheit sagen und umweltschonende Produkte und Produktionsverfahren
       fördern. Eine ökologische Steuerreform sollte die Energie- und
       Rohstoffpreise stetig erhöhen, wobei der Preisanstieg sich am Zuwachs der
       Ressourcenproduktivität orientieren könnte. So werden Firmen motiviert,
       ihren Energie- und Ressourcenverbrauch zu senken.
       
       Ordnungspolitik hat aber auch ihre Grenzen. Grüne Märkte allein überwinden
       die umweltschädlichen kapitalistischen Produktions- und Konsummuster nicht.
       Seit drei Jahrzehnten machen die fossilen Brennstoffe 80 Prozent des
       weltweiten Energieverbrauchs aus. Viele Unternehmen werden, ohne einen
       Umbau der Infrastrukturen, weiter die Umwelt verschmutzen, für Ausnahmen
       und Subventionen streiten oder Strafen zahlen. Viele motorisierte
       Berufspendler können nicht auf Bus und Bahn umsteigen. Verbraucher können
       sich ohne Kreislaufwirtschaft nicht umweltbewusst verhalten. Nur
       einkommensstarke Haushalte können regelmäßig in Bioläden einkaufen, mit
       Elektroautos fahren und in Ökohäusern wohnen.
       
       Deshalb muss ein handlungsfähiger Staat die Transformation mit grünen
       Investitionen vorantreiben. Dabei geht es um den Ausbau der öffentlichen
       Infrastruktur und Daseinsvorsorge.
       
       Für eine Verkehrswende muss der Staat kräftig in den öffentlichen Nah- und
       Fernverkehr investieren. Der Verkehr sollte auf die Schiene verlagert, der
       fossile Verbrennungsmotor muss durch emissionsfreie Antriebe ersetzt
       werden. Eine ökologische Industriepolitik sollte dafür die notwendige
       Infrastruktur – Batteriezellenproduktion, Ladestationen,
       Wasserstoffproduktion – schaffen. Richtiger Klimaschutz geht aber nur mit
       weniger Autos. Ein ökologisches Mobilitätskonzept braucht folglich neue
       Produkte und Geschäftsmodelle für die Konversion der [3][Autobauer.]
       
       Die Energiewende zielt auf Vollversorgung durch erneuerbare Energien. Neben
       dem nötigen Ausbau der regenerativen Energien: Die beste Energie ist immer
       die, welche nicht verbraucht wird. Zudem sollte eine Kreislaufwirtschaft
       mit geschlossenen Stoffkreisläufen aufgebaut werden. Ferner müssen die
       globalen Wertschöpfungsketten und Handelsströme stärker regionalisiert
       werden. Öffentliche Banken und Versicherungen sollten ihre Kredite und
       Investitionen in den ökologischen Umbau lenken und aus der Kohle- und
       Erdölindustrie aussteigen.
       
       Ein Green New Deal ist nur dann mehrheitsfähig, wenn er sozial gerecht ist.
       Verbrauchssteuern etwa sind problematisch, da die Unternehmen diese häufig
       auf die Konsumenten abwälzen können. Die Mehrbelastungen für
       Geringverdiener und sozial Benachteiligte müssen ausgeglichen werden.
       
       Damit nicht genug: Die Beschäftigten der Automobilindustrie und der
       fossilen Energieversorger brauchen eine Perspektive mit sicheren, guten
       Arbeitsplätzen. Ein Zukunftsfonds kann dafür die Finanzmittel
       bereitstellen. Die nötigen öffentlichen Umwelt- und
       Klimaschutzinvestitionen sollten über Kredite oder über höhere Steuern auf
       große Gewinne, Einkommen und Vermögen finanziert werden. Die größten
       Klimasünder müssen mehr zum Umweltschutz beitragen.
       
       Ein Green New Deal erfordert aber auch mehr Wirtschaftsdemokratie.
       Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften müssen den Umbau
       mitgestalten. Umweltinitiativen und -verbände sollten in regional- und
       strukturpolitischen Räten ebenfalls Einfluss nehmen können. So können
       Umweltbewegung und Gewerkschaften mit sozialen Bewegungen und progressiven
       Parteien für eine gerechtere, nachhaltige Gesellschaft streiten.
       
       1 Dec 2020
       
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