# taz.de -- Justiz in der Türkei: Drakonische Strafen
       
       > Das Hauptverfahren gegen angebliche oder tatsächliche Putschisten endet
       > für viele der Angeklagten mit hohen Gefängnisstrafen.
       
 (IMG) Bild: Bewachung des Luftwaffenstützpunkts, der das Hauptquartier der putschenden Soldaten war
       
       ISTANBUL taz | Die türkische Justiz zieht einen vorläufigen Schlussstrich
       unter die Verfahren gegen angebliche oder tatsächliche Putschisten. Im
       Hauptverfahren wegen des Putschversuches vom 15. Juli 2016, in dem
       insgesamt 475 Personen angeklagt waren, wurden drakonische Strafen
       verhängt.
       
       337 Angeklagte müssen in eine verschärfte lebenslange Haft, die jede
       Entlassung ausschließt. Gegen 60 weitere Angeklagte wurden teilweise hohe
       Haftstrafen verhängt, 75 Angeklagte wurden freigesprochen. Der Prozess in
       Ankara galt als Hauptverfahren der knapp 300 Prozesse, die im Anschluss an
       den Putschversuch durchgeführt wurden. Fast alle Verfahren sind
       mittlerweile abgeschlossen.
       
       Der Putschversuch, der am Abend des 15. Juli in Ankara und Istanbul begann,
       gilt als der schwerste Angriff auf den heutigen Präsidenten Recep Tayyip
       Erdogan und seine Anhänger. Erdogan macht [1][die islamistische Sekte des
       Predigers Fetullah Gülen] für den Putschversuch verantwortlich, die großen
       Einfluss im Militär und Sicherheitsapparat hatte und mit der er nach
       zunächst jahrelanger Zusammenarbeit im erbitterten Streit lag. Mehr als 250
       Menschen, überwiegend Zivilisten, wurden bei dem Putschversuch getötet,
       mehr als 2000 verwundet.
       
       In dem jetzt beendeten Hauptverfahren ging es vor allem [2][um Militärs]
       des bei Ankara liegenden Luftwaffenstützpunktes Akinci, der während des
       Putsches das Hauptquartier der putschenden Soldaten war. Unter den
       Verurteilten sind 25 Generäle und etliche Piloten, die damals die
       Bombenangriffe auf das Parlament, die Polizei und die Geheimdienstzentrale
       geflogen haben sollen. Auf dem Luftwaffenstützpunkt wurde auch der damalige
       Generalstabschef und heutige Verteidigungsminister Hulusi Akar
       festgehalten, nachdem er eine Zusammenarbeit mit den Putschisten
       verweigerte.
       
       ## Auf freiem Fuß
       
       Die aus Sicht Erdogans wichtigsten „Verräter“ sind allerdings immer noch
       auf freiem Fuß. Sektenchef Fetullah Gülen lebt schon seit Ende der 90er
       Jahre in den USA und bestreitet jede Verbindung zu dem Putsch. Die
       US-Regierungen verweigerten eine Auslieferung Gülens.
       
       Dessen damaliger Vize in der Türkei, der den Putsch orchestriert haben
       soll, heißt Adin Öksöz und konnte sich einem Zugriff ebenfalls entziehen.
       Er soll sich nach Deutschland abgesetzt haben und bis heute mit Hilfe
       anderer Mitglieder der Gülen-Sekte dort untergetaucht sein. Auch
       Deutschland will von einer Auslieferung nichts wissen und hat angeblich
       über den Aufenthalt von Öksöz keinerlei Kenntnis.
       
       Der Putschversuch hatte vor vier Jahren zu einer dramatischen Zuspitzung
       der innenpolitischen Auseinandersetzung geführt. Die Erdogan-Regierung
       verhängte einen Ausnahmezustand und verfolgte anschließend die gesamte
       Opposition, auch Sozialdemokraten, Linke, Linksliberale und politisch
       aktive Kurden, die alle nie etwas mit der Gülen-Bewegung zu tun hatten,
       beziehungsweise sogar als erklärte Gegner der Sekte galten.
       
       Über 150.000 Leute wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen, vorwiegend
       Akademiker und Lehrer, die als Kritiker der AKP-Regierung bekannt waren.
       Diese Säuberungen und die massive Repression gegen jede Opposition halten
       bis heute an.
       
       ## Systematische Behinderung
       
       Weil die Erdogan-Regierung nach dem Putschversuch eine unabhängige
       Untersuchung der Vorgänge in den Tagen vor dem Putsch und in der
       Putschnacht selbst systematisch verhinderte, gehen viele Beobachter bis
       heute davon aus, dass die offizielle Version nicht den Tatsachen
       entspricht.
       
       Zwar ist in der Türkei auch die Opposition davon überzeugt, dass die
       Gülen-Sekte die Initiatoren des Putsches war. Doch bezweifeln viele, dass
       die Erdogan-Regierung davon wirklich so überrascht wurde, wie sie
       behauptet.
       
       26 Nov 2020
       
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 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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