# taz.de -- Jüdisches Leben: Wider die Abstumpfung!
       
       > Die Debatte über Antisemitismus braucht einen neuen Anfang, abgerüstet
       > und sensibel. Jüdische Diversität anzuerkennen, ist dazu ein Schlüssel.
       
 (IMG) Bild: Zum Beginn des jüdischen Lichterfest wurde ein rießiger Chanukka-Leuchter in Berlin entzündet
       
       Für das Simon-Wiesenthal-Center zählt das Goethe-Institut zu den
       gefährlichsten antisemitischen Kräften weltweit, weil es sich mit anderen
       Kultureinrichtungen an einer Initiative gegen den [1][Missbrauch des
       Antisemitismusvorwurfs] beteiligt. Das hat eine kafkaeske Note; doch wer
       nicht weiß, dass das Wiesenthal-Center eine parteiliche, rechte
       Lobby-Einrichtung ist, mag gleichwohl verunsichert sein. Eine
       Anschuldigung, die unter dem Namen des berühmten Überlebenden und
       Nazi-Jägers daherkommt, als Verleumdung zu bezeichnen, das bedarf eines
       inneren Rucks, der auch mir nicht leichtfällt.
       
       Doch birgt dieser Vorfall gleichfalls etwas Gutes: Er markiert einen
       Endpunkt, der zum Wendepunkt werden könnte – werden muss. Denn solche
       irrigen Urteile, die sich eine aus der Schoah abgeleitete Autorität
       anmaßen, haben zunehmend Abstumpfung zur Folge. Ein Antisemitismusvorwurf
       bewirkt oft nur noch Schulterzucken, und das ist schlimm.
       
       Um eine Wende einzuleiten, muss Sensibilität wieder eine Tugend werden. Die
       Anerkennung, dass es im eigenen Inneren die Möglichkeit antisemitischer
       Regungen gibt, sollte eine Voraussetzung für die Beteiligung am
       öffentlichen Gespräch sein. Wie für Rassismus gilt für Antisemitismus:
       Niemand ist per se immun. Und gerade in Deutschland ist die Pose eigener
       Unanfechtbarkeit nicht angebracht: Richter auf der rastlosen Suche nach
       weiteren zu Richtenden.
       
       Über Israels Politik wird es keine Einigung geben, dennoch wäre eine
       moralische und geschichtspolitische Abrüstung der Debatte möglich.
       Folgendes Gedankenspiel mag dabei helfen: Würde die AfD eine
       Regierungsmehrheit in Deutschland erringen, bliebe die Außenpolitik, nach
       allem, was dazu absehbar ist, pro-israelisch. Zugleich würden Gedenkstätten
       die Etats gekürzt, von Schlimmerem nicht zu reden. Nähe zu Israels
       Regierung ist nicht gleichbedeutend mit Respekt für die Opfer, gar
       Antifaschismus. Differenzieren und entflechten wäre nützlich.
       
       ## Streit um Zionismus
       
       Das Streitthema Zionismus könnte zunächst besser bei den Volkshochschulen
       aufgehoben sein, denn es fehlt ja weithin an Wissen, woher spezifisch
       jüdische Einwände gegen Zionismus rühren können, geschichtlich oder heute,
       religiös oder politisch. Manche junge nichtjüdische Deutsche umarmen heute
       den Zionismus so wie früher ihre Eltern die Klezmer-Musik.
       
       Das Bedürfnis dahinter mag ähnlich sein, aber seit damals haben sich zwei
       Dinge grundlegend geändert: Erstens ist es heute möglich, dass
       nichtjüdische Deutsche Juden des Antisemitismus bezichtigen; ein Tabubruch,
       der sich durch eine besonders enge Bindung an Israel zu legitimieren
       glaubt. Und zweitens existiert eine Palette jüdischer Haltungen, die man
       bei aller Vorsicht doch als Diversität bezeichnen kann. Beides hängt ganz
       offenkundig zusammen.
       
       Jüdische Diversität entstand durch die Nachkommen von Zugewanderten aus der
       ehemaligen Sowjetunion wie von Juden der DDR auf eine akzentuiertere Weise,
       aber auch durch junge Israelis, die gegenwärtig nicht in Israel leben
       möchten – und die in Berlin, Stadt der Wannseekonferenz, glauben, freier
       atmen zu können. Menschen, die ihre eigene Identität mit einem
       idealisierten Israel-Bild verknüpfen, haben begreiflicherweise Mühe,
       solcher Art von Dissidenz mit Gelassenheit zu begegnen.
       
       Dennoch stehen die Chancen, mit jüdischer Mehrstimmigkeit umgehen zu
       können, heute eigentlich besser als zuvor. Weil die Gesellschaft als ganze
       ihre Vielheitlichkeit anerkennt und mit sich selbst neue Erfahrungen macht.
       Und zu den neuen Erfahrungen könnte gehören: Juden und Jüdinnen haben
       verschiedene Meinungen und Haltungen, und jede einzelne ist wie die von
       jedem anderen Menschen kritisierbar.
       
       Damit ist [2][keine „Normalisierung“ gemeint, sondern ein Plädoyer für
       zivilgesellschaftliche Umgangsformen], die uns irgendwann in die Lage
       versetzen, Antisemitismus zu erkennen, indem wir ihn erspüren. Das nimmt
       uns keine Definition und kein Beauftragter ab. Wie es überhaupt – jenseits
       des gesetzlichen Verbots, den Holocaust zu leugnen – im deutschen
       Antisemitismus-Diskurs nicht mehr die eine, unanfechtbare moralische
       Autorität gibt.
       
       ## Niederungen des Meinungskampfes
       
       Auch der Zentralrat ist das nicht mehr. Eine Institution, in der sich
       Religiöses, Ethnisches, Politisches verbindet und widerspruchsfrei
       öffentlich positioniert, war im Land der Schoah gewiss lange notwendig,
       zumal jüdische Existenz im Nachkriegsdeutschland von der Judenheit anderswo
       zunächst keineswegs begrüßt wurde. Seitdem der Zentralrat aber jüdischen
       Stimmen, die aus seiner Sicht missliebig und israelfeindlich sind, das
       Jüdischsein abspricht, hat er sich selbst in die Niederungen des
       Meinungskampfs begeben.
       
       Zwangsläufig entstehen allmählich andere Foren; es melden sich
       Journalisten, Philosophinnen, Schriftsteller zu Wort, die eine Ahnung
       vermitteln, welche Entwürfe von Jüdischsein es im 21. Jahrhundert geben
       kann. Ich empfinde es als ein großes unverdientes Geschenk, wenn wir einem
       öffentlichen innerjüdischen Gespräch zuhören dürfen oder uns gelegentlich
       daran beteiligen können.
       
       Mein Optimismus, dass dies in Deutschland möglich ist, hat aber eine
       Voraussetzung: Dass wir als Mehrheitsgesellschaft Antisemitismus in Schach
       halten können. Weniges hat mich im zurückliegenden Jahr so erschüttert wie
       [3][Bilder und Symbole aus der Bewegung der Coronaleugner]. So also, an
       unvermutetem Ort, kann völkischer Antisemitismus aufreißen, zugleich uralt
       und brandneu, und durch die Legierung mit vorgetäuschtem Philosemitismus so
       furchtbar zeitgenössisch deutsch.
       
       Deshalb noch einmal: Das Verheerende an einem inflationären Gebrauch des
       Antisemitismusvorwurfs ist, dass das Erschrecken schwindet. Und das Gespür
       für die Fragilität.
       
       6 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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