# taz.de -- Die Linke und der Islamismus: Selektive Erblindung
       
       > Das Glück des Salman Rushdie oder warum linke Solidarität gegen
       > Islamisten keine Selbstverständlichkeit mehr ist.
       
 (IMG) Bild: Lange her. 1989 druckte die taz Auszüge aus den „Satanischen Versen“ auf der Titelseite
       
       Als ich mich das erste Mal intensiver mit Antisemitismus unter dem
       Deckmantel von Antizionismus befasste, stieß ich auf etwas historisch
       Bemerkenswertes: Die deutsche Linke trat in den ersten beiden Jahrzehnten
       nach dem Zweiten Weltkrieg als vehemente Fürsprecherin Israels auf. Man
       kämpfte etwa für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem jüdischen
       Staat – in einer Zeit, in der die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung
       der Existenz Israels im besten Fall gleichgültig gegenüberstand.
       
       Erst als Deutschland und Israel 1965 Botschafter austauschten und
       diplomatische Vertretungen in Bonn und Tel Aviv errichteten, wendete sich
       das Blatt. Fortan rückte die Linke größtenteils von Israel ab, umso mehr,
       als die Supermächte sich im Verlauf des Nahostkonflikts klar gegeneinander
       aufstellten: die USA aufseiten Israels, die Sowjets aufseiten der
       kriegführenden arabischen Staaten.
       
       Während Europas führende linke Intellektuelle der Nachkriegszeit, Simone de
       Beauvoir und Jean-Paul Sartre, es für unangebracht hielten, über Israel
       moralische Urteile zu fällen, wurde das für die nächste Generation, die der
       studentischen Linken, zur Selbstverständlichkeit. Wer von Imperialisten wie
       den USA und ihren Vasallen wie Deutschland unterstützt wurde, war
       abzulehnen. Der Freund meines Feindes ist mein Feind.
       
       An diese radikale Wende der Linken – mit Ausnahmen natürlich – fühle ich
       mich auch bei dem Verhältnis der Linken zum Islamismus erinnert. Der Kampf
       gegen Islamismus ist einmal in progressiven Kreisen Konsens gewesen. Ein
       wesentlicher linker Kritikpunkt in der Asyldebatte der 1980er und 1990er
       Jahre war beispielsweise, dass ein Islamist in Deutschland leichter Asyl
       bekommen konnte als eine Feministin oder ein Menschenrechtler. Islamisten
       wurden, etwa in Algerien, staatlich verfolgt und waren deshalb
       aussichtsreiche Kandidaten im Asylprozess. Kritische Intellektuelle,
       Frauenrechtlerinnen oder homosexuelle Aktivisten wurden dagegen häufig von
       nichtstaatlichen Akteuren verfolgt – Islamisten zumeist – und waren damit
       nicht asylberechtigt. Ihnen drohte die Abschiebung.
       
       Ein Höhepunkt linker Solidarität gegen den Islamismus zeigte sich jedoch
       ohne Zweifel in der Kontroverse rund um die „Satanischen Verse“ des
       indischbritischen Schriftstellers [1][Salman Rushdie]. Als das Buch 1989
       herauskam, tobte die muslimische Welt: „Erschießt Rushdie!“, „Hängt ihn!“,
       „Satan Rushdie“. Bücher brannten, britische Fahnen und sein Porträt. Der
       iranische Revolutionsführer Ajatollah Khomeini rief am 14. Februar mit
       einer Fatwa dazu auf, den Schriftsteller wegen Gotteslästerung zu töten.
       Zuletzt wurde das Kopfgeld auf Rushdie 2016 auf vier Millionen Dollar
       erhöht.
       
       Was also tun, wenn die Meinungsfreiheit so fundamental bedroht ist? Wenn
       der Chef eines Gottesstaates verhindern will, dass anderswo auf der Welt
       ein Buch gedruckt wird? Die taz rief die deutschen Medien dazu auf,
       gemeinsam die „Satanischen Verse“ auf der Titelseite zu drucken. Frank
       Schirrmacher, damals FAZ-Literaturchef, meldete sich hocherfreut bei der
       taz, machte jedoch einen Rückzieher, als er merkte, dass sich kein anderer
       Verlag anschließen mochte. „Niemand wollte die Verse abdrucken“, erinnert
       sich taz-Mitbegründer [2][Arno Widmann]. Alle hätten sich weggeduckt.
       „Immerhin hatte Khomeini ja jedem, der sie abdrucken würde, mit dem Tode
       gedroht.“ In der taz dagegen: keine Diskussion. „Irgendwann einmal fragte
       jemand auf einem Plenum, ob man nicht darüber hätte abstimmen müssen,
       schließlich betraf es ja alle Mitarbeiter“, erinnert sich Widmann. „Aber
       als ihm oder ihr erklärt wurde, man bräuchte keine taz mehr, wenn man sich
       so leicht das Maul verbieten ließe, ging man zum nächsten
       Tagesordnungspunkt über.“
       
       Eine Woche nach der Todes-Fatwa – es war ein Mittwoch während der
       Berlinale, und die taz kostete noch eine Mark dreißig – erschien die
       Titelseite mit den verteufelten Auszügen aus den „Satanischen Versen“ im
       Wortlaut zusammen mit einem Foto von Salman Rushdie. Es war eine ziemliche
       Bleiwüste und würde sicher keinen Layoutpreis gewinnen, aber dennoch war
       es eine der wichtigsten und mutigsten Titelseiten, die die taz je gemacht
       hat. Übrigens ist diese historische Titelseite vom 22.2.89 in dem 394
       Seiten starkem Buch „40 Jahre taz“ nicht zu finden – leider. Es gibt nur
       eine ausführliche Zusammenfassung des Buches und eine Beschreibung der
       Ereignisse.
       
       Die zentrale Frage lautet jedoch: Würde die taz – oder ein anderes linkes
       Medium – heute noch genauso handeln? Würde man es wagen oder überhaupt
       wollen? Dafür spricht, dass in der taz immer noch viele Reporter*innen
       und Redakteur*innen arbeiten, die Anfeindungen, einen anhaltenden
       Shitstorm oder Drohungen auszuhalten bereit sind. Die taz ist zudem ein
       Autor*innenblatt. Zu jedem starken Meinungsstück gibt es garantiert immer
       auch eine zweite Meinung, mit der für das Gegenteil eingetreten wird.
       
       ## Unrecht ist Unrecht
       
       Wagen würde man es also schon. Mit dem Wollen sieht es indes ganz anders
       aus. Der 11. September hatte eine ähnliche Wirkung auf die Linke wie die
       Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel: Man möchte nicht auf
       derselben Seite stehen wie der Staat, der infolge des Terroranschlags
       Gesetze verschärfte, Bürgerrechte einschränkte und Migration erschwerte.
       Innenminister Otto Schily, der mit seinem „Otto-Katalog“ bei der
       Verschärfung das Wort führte, wurde zum Feindbild vieler Linker. In dem
       Moment, wo Islamisten zu Staatsfeinden wurden, hatte die politische Linke –
       nicht in ihrer Gesamtheit, aber doch mehrheitlich – ein Problem. Es setzte
       eine Beißhemmung gegenüber Islamisten ein. Schließlich möchte man Stachel
       im Fleisch der Mächtigen sein und keine staatstragenden Meinungen
       vertreten.
       
       Viele Linke verlegten sich darauf, ihre Kritik auf die Menschenrechte und
       die Menschenrechtsverletzungen westlicher Staaten gegenüber islamistischen
       Dschihadisten zu beschränken. Eine berechtigte Anklage natürlich und
       moralisch unangreifbar. Unrecht ist Unrecht. Doch gleichzeitig lässt sich
       auf diese Weise auch sehr bequem vermeiden, zum Islamismus selbst Position
       zu beziehen und politische Forderungen aufzustellen.
       
       Vieles verwirrte außerdem. So waren die Attentäter des 11. September
       keineswegs arme Schlucker, von Unterdrückung gezeichnet, ohne Hoffnung auf
       eine anständige Zukunft. Im Gegenteil, es waren größtenteils Studenten aus
       gutem Hause, die vergleichsweise sorglos in Europa lebten. Osama bin Laden
       selbst stammt bekanntlich aus einer geradezu märchenhaft reichen Familie.
       
       Auch die Islamfeindlichkeit, die in Deutschland wie überall im Westen
       wuchs, machte eine Positionierung nicht leichter. Islam und Islamismus
       wurden von immer mehr Menschen gleichgesetzt. Angst und Ablehnung
       bestimmten den öffentlichen Diskurs. Das rechte Spektrum begann, das Thema
       zu besetzen. Wie also Stellung beziehen, ohne rassistisch,
       ethnozentristisch oder paternalistisch zu sein? Die Frage ist berechtigt
       und die Antwort schwierig. Die Linke ist sie bis heute schuldig geblieben.
       
       ## Zum Tee mit bin Ladens Bodyguard
       
       Ich habe als Nahostkorrespondentin oft mit Islamisten Tee getrunken: mit
       Hamas-Gründer Ahmed Jassin im Gazastreifen ebenso wie mit islamistischen
       Theokratiehardlinern im Iran, die darauf bestanden, als „Fundamentalisten“
       bezeichnet zu werden, und einmal sogar mit einem ehemaligen Bodyguard von
       bin Laden. Man merkt ziemlich schnell, dass kritische Fragen einfach
       abprallen. Islamisten präsentieren ein in sich geschlossenen Weltbild. Aus
       ihrer Sicht ist es folgerichtig, ja fast zwingend, Andersdenkende und
       Ungläubige umzubringen oder wenigstens zu unterjochen. Trotzdem kann es
       viel offenbaren, wenn man mit ihnen spricht. Zum Beispiel: Begriffe wie
       Toleranz oder Kompromiss gehören nicht zu ihrem aktiven Wortschatz. Sie
       verschleiern nichts, man weiß genau, woran man mit ihnen ist.
       
       Jeder, der bereit ist zuzuhören, kann nur zu einem Schluss kommen: Es geht
       beim Islamismus um gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Kein Rassismus
       und keine Benachteiligung kann das relativieren. Diese Tatsache übersehen
       zu wollen ist fast schon wieder eine Leistung an sich. Man kann und muss
       einem großen Teil der Linken deshalb vorwerfen, Menschenfeindlichkeit
       aufgrund einer selektiven Erblindung nicht zu erkennen.
       
       Salman Rushdie hatte Glück im Unglück. In einer Situation, die zum
       Verzweifeln war, konnte er sich der Solidarität der politischen Linken
       sicher sein. Meinungsfreiheit stand noch über der Angst, als Rassistin oder
       Rassist bezeichnet zu werden. Linke und Linksliberale standen
       Religionskritikern aller Länder bei. „Das Leben des Brian“ und die Lust,
       sich über religiösen Pietismus lustig zu machen, war zu der Zeit
       kulturelles Allgemeingut. Wozu braucht es eine Linke, wenn sie denen, die
       gesellschaftliche Konventionen hinterfragen, Unterstützung verweigert?
       Kritik am Islamismus den Konservativen und Rechten zu überlassen ist ein
       großer politischer Fehler. Sich für Frauenrechte, LGBTI, Minderheiten oder
       schlicht das Recht, Traditionen zum Teufel zu jagen, einzusetzen gehört zur
       linken DNA. Islamisten bedrohen jeden einzelnen Wert, für den die
       politische Linke seit jeher eintritt, allen voran Freiheit und Gleichheit.
       
       Die Hinrichtung des französischen Lehrers [3][Samuel Paty] im Oktober
       steht exemplarisch für eine Realität, die nicht nur an den Schulen und
       nicht nur in Frankreich längst eingetreten ist: die Einschränkung der
       Meinungsfreiheit durch nichtstaatliche Akteure. Es ist nicht mehr möglich,
       sich in der Schule mit der Meinungsfreiheit oder Religionskritik in Bezug
       auf den Islam auseinanderzusetzen, ohne ein Risiko einzugehen. Der Mord an
       dem Lehrer wird zweifellos Selbstzensur und Vermeidungsstrategien noch
       verstärken. Ändern kann sich das nur, wenn Kulturrelativismus klar
       erkennbar dort endet, wo Menschen- und Freiheitsrechte betroffen sind; wenn
       der Kampf gegen Dschihadismus und Islamismus als Teil des Antifaschismus
       verstanden wird. Alles andere ist falsch verstandene Toleranz.
       
       Würden also Rushdies „Satanische Verse“ auch heute noch die Solidarität von
       1989 erfahren? Die Antwort lautet: Leider nein.
       
       3 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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