# taz.de -- Türkei und die EU: Erdoğan auf Schmusekurs
       
       > Am Montag reist Außenminister Maas nach Ankara. Nach dem Tiefpunkt der
       > Beziehungen zwischen EU und Türkei stehen die Zeichen auf Annäherung.
       
 (IMG) Bild: Auch beim Erdgasstreit zeigt er sich kompromissbereit: Recep Tayyip Erdoğan
       
       ISTANBUL taz | Die türkischen Zeitungen ähnelten am Wochenende den
       Sonntagszeitungen in Deutschland: Nahezu alle beschäftigten sich prominent
       mit der [1][Wahl Armin Laschets zum neuen CDU-Chef]. Durchweg wurde Laschet
       freudig begrüßt. Die Zeitung Hürriyet erinnerte in ihrer Schlagzeile daran,
       dass er einst als Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen sogar als
       „Türken-Armin“ firmierte.
       
       Die Wahl Laschets passt zu der Charmeoffensive, die der türkische Präsident
       Recep Tayyip Erdoğan in Richtung Europa gestartet hat. In einer Rede vor
       den versammelten EU-Botschaftern in Ankara sagte er vor wenigen Tagen: „Wir
       sind bereit für eine neue positive Agenda mit der EU und wollen unsere
       Beziehungen so erneuern, dass daraus eine langfristige Perspektive wird.
       Wir erwarten von unseren europäischen Partnern denselben positiven Willen“.
       
       Als Erstes wird am Montag der deutsche Außenminister Heiko Maas bei einem
       Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu in Ankara
       testen können, wie weit die neue Bereitschaft der Türkei zur Zusammenarbeit
       geht. Maas hat kurzfristig eine Türkei-Reise eingeschoben, nachdem Erdoğan
       und der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis angekündigt
       haben, dass nach den Spannungen des vergangenen Jahres am 25. Januar
       Verhandlungen über die [2][Ausbeutung von Erdgas im östlichen Mittelmeer]
       beginnen werden.
       
       Auf die Gespräche hatte vor allem Deutschland gedrängt. Verhandlungen über
       jeweilige exklusive Wirtschaftszonen sind nicht der einzige Punkt, an dem
       Bewegung in die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU kommen soll.
       
       ## Flüchtlings-Stadt in Syrien
       
       Bereits am 21. Januar wird Çavuşoğlu nach Brüssel reisen, um mit dem
       EU-Außenbeauftragten Joseph Borrell einen EU-Türkei-Gipfel vorzubereiten.
       Er will außerdem mit der Kommissionschefin Ursula von der Leyen und dem
       Ratspräsidenten Charles Michel zusammenkommen, um eine Reise der beiden in
       die Türkei zu besprechen, die ebenfalls noch im Januar stattfinden soll.
       
       Erdoğan hat bereits angekündigt, von der Leyen und Michel zu zeigen, wie
       die Türkei die EU-Gelder aus dem Flüchtlingspakt verwendet. In der
       nordsyrischen Provinz Idlib haben türkische Bauunternehmen in den letzten
       Monaten quasi eine neue Stadt mit rund 50.000 festen Häusern hochgezogen,
       in denen rund 300.000 syrische Binnenflüchtlinge untergebracht werden
       sollen. Damit soll verhindert werden, dass sie in die Türkei und womöglich
       weiter in die EU flüchten.
       
       Im Gegenzug erwartet Erdoğan neues Geld für die Versorgung von Flüchtlingen
       in der Türkei, vor allem aber, dass die EU endlich „ihre Versprechen
       erfüllt“, wie er sagte, und die Verhandlungen über die Erweiterung der
       Zollunion mit der Türkei beginnt und visafreies Reisen für türkische Bürger
       in die EU erlaubt.
       
       Die Erweiterung der Zollunion ist für Erdoğan besonders wichtig. Im
       November hatte er angesichts der dramatischen Wirtschaftskrise die
       Notbremse gezogen, seinen Schwiegersohn als obersten Finanz-und
       Wirtschaftslenker gefeuert und durch zwei auch in der EU angesehene
       Wirtschaftspolitiker ersetzt. Die haben ihm klargemacht, dass eine
       Wiederannäherung an die EU und die USA zwingend notwendig ist, um das Land
       vor dem wirtschaftlichen Kollaps zu bewahren.
       
       Die Türkei braucht dringend wieder Investoren aus dem Westen und muss die
       angedrohten Sanktionen der EU und möglichst auch der USA abwenden. Dafür
       ist Erdoğan offenbar bereit, seinen aggressiven Kurs im östlichen
       Mittelmeer zu beenden und wieder zu akzeptierten diplomatischen
       Umgangsformen zurückzukehren. Angebote zu einer Wiederaufnahme
       diplomatischer Beziehungen mit Israel gehören genauso dazu wie eine
       Deeskalationspolitik gegenüber Frankreich und dessen Präsidenten Emmanuel
       Macron.
       
       Repression hält an 
       
       Der neue, durch die Not diktierte außenpolitische Schmusekurs
       korrespondiert allerdings nicht mit einer Abmilderung der Repression im
       Innern. Hier will sich Erdoğan von der EU nach wie vor nicht hineinreden
       lassen.
       
       Im Gegenteil: Zwei wichtige Urteile des Europäischen Gerichtshofes für
       Menschenrechte (EGMR), in denen die [3][Freilassung des bekannten
       Unternehmers und Kulturmäzens Osman Kavala] und des kurdischen
       Ex-Parteiführers Selahattin Demirtaş gefordert werden, weißt er brüsk als
       unzulässige Einmischung zurück. Statt die Urteile umzusetzen, wozu die
       Türkei verpflichtet ist, und den ehemaligen Parteichef der kurdisch-linken
       HDP freizulassen, wird in Regierungskreisen derzeit offen diskutiert, die
       HDP komplett zu verbieten.
       
       Auch die Meinungsfreiheit soll weiter eingeschränkt werden. Erdoğan will
       Facebook und Twitter aus dem Land drängen und damit die letzten Refugien
       eines freien Meinungs- und Informationsaustausches schließen.
       
       17 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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