# taz.de -- Verschärfte Repressionen in der Türkei: Erdoğan knüpft sich NGOs vor
       
       > Ein neues Gesetz stellt Massenvernichtungswaffen und Terrorismus jetzt
       > auf eine Stufe – und ermöglicht so, gegen kritische Organisationen
       > vorzugehen.
       
 (IMG) Bild: Der türkische Präsident Erdoğan im Oktober bei einer Pressekonferenz in Istanbul
       
       ISTANBUL taz | Mit einem trickreichen Gesetz will die türkische Regierung
       zukünftig oppositionelle Nichtregierungsorganisationen (NGOs) an die Kette
       legen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag verabschiedete das Parlament in
       Ankara ein Gesetz, mit dem angeblich die Finanzierung und Weiterverbreitung
       von Massenvernichtungswaffen verhindert werden soll.
       
       Was auf den ersten Blick wie eine gute Sache scheint, zeigt seine Tücken
       jedoch bei genauerem Hinsehen. Denn in dem Gesetz wird auch Terrorismus
       unter Massenvernichtungswaffen subsumiert und der ist bekanntermaßen in der
       Türkei ein weites Feld.
       
       Künftig soll das Innenministerium die Möglichkeit erhalten, NGOs
       lahmzulegen, wenn gegen eines ihrer Mitglieder wegen des Verdachts der
       Finanzierung von Terrorismus ermittelt wird.
       
       Ein Gericht muss dann zwar noch nach 48 Stunden die Entscheidung des
       Innenministeriums überprüfen. Doch wenn man sich vergegenwärtigt, wer alles
       wegen des Verdachts der Unterstützung von Terroristen in der Türkei in den
       letzten Jahren angeklagt und vielfach auch verurteilt wurde, kann man sich
       vorstellen, welche Chancen eine regierungskritische NGO vor Gericht hat.
       
       ## Human Rights Watch fürchtet Einschränkungen
       
       Deshalb hatten auch bereits im Vorfeld etliche Organisationen gegen das
       Gesetz protestiert. Die Organisation Human Rights Watch (HRW), die in der
       Türkei vorbildlich arbeitet, fürchtet nicht zu Unrecht, dass ihre
       Aktivitäten künftig „willkürlich eingeschränkt“ werden könnten.
       
       Ein Blick auf die Auseinandersetzung bezüglich der Freilassung des
       bekannten kurdischen Politikers [1][Selahattin Demirtaş] zeigt, warum HRW
       befürchten muss, dass dieses Gesetz gegen seine Arbeit angewendet werden
       wird.
       
       Vor einer Woche hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in
       Straßburg (EGMR) entschieden, dass Demirtaş nach vier Jahren
       Untersuchungshaft in seinen Rechten schwer verletzt wurde und sofort
       freigelassen werden muss.
       
       Damit bestätigte die Große Kammer den Spruch einer der normalen Kammern,
       gegen den die türkische Regierung Widerspruch eingelegt hatte. Doch will
       die Türkei Demirtaş erneut nicht freilassen, wie am Freitag der zuständige
       Haftrichter entschied. Angeblich liegt das Urteil noch nicht in türkischer
       Übersetzung vor.
       
       ## „Blut an den Händen“
       
       Tatsächlich folgt das türkische Gericht damit Anweisungen von
       Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der das Straßburger Gericht für seine
       Entscheidung scharf kritisiert hatte. Das sei „scheinheilig“, warf er dem
       europäischen Gericht vor. Es würde sich auf die Seite eines Terroristen
       stellen, denn Demirtaş sei nichts anderes als ein Terrorist unter der Maske
       eines Politikers. Er habe „Blut an den Händen“.
       
       Wohlgemerkt ist Demirtaş bislang nicht verurteilt. Einen Tag später schloss
       sich Innenminister Süleyman Soylu der Tirade Erdoğans an. Er sagte, das
       türkische Volk habe Demirtaş längst verurteilt und der EGMR solle das
       gefälligst akzeptieren. Niemals werde man einen Feind des Volkes
       freilassen.
       
       Kommentatoren in den letzten verbliebenen Oppositionsblättern erwarten,
       dass die Türkei mit einem Ausschlussverfahren aus dem Europarat rechnen
       muss, da Demirtaş nicht der einzige Fall sei, in dem Ankara sich weigere,
       einen Spruch des EGMR umzusetzen.
       
       Auch im Falle des inhaftierten Kulturmäzens Osman Kavala, eines weiteren
       Lieblingsfeinds von Erdoğan, weigerte sich die Regierung, der Forderung des
       Menschenrechtsgerichtshofs nach Freilassung nachzukommen.
       
       Obwohl Erdoğan seit mehreren Wochen immer wieder behauptet, seine Regierung
       wolle die Beziehungen zur EU verbessern, dürfte dieses Verhalten zu dem
       genauen Gegenteil führen.
       
       27 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Urteil-zu-kurdischem-Politiker/!5735404
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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