# taz.de -- Studierenden-Proteste in der Türkei: Aus der Uni auf die Barrikaden
       
       > In Istanbul protestieren seit Tagen Studierende gegen die Aushebelung der
       > Autonomie ihrer Universitäten. Die Polizei geht mit Härte gegen sie vor.
       
 (IMG) Bild: Die Polizei geht massiv gegen die protestierenden StudentInnen der Boğaziçi-Universität vor
       
       ISTANBUL taz | „Wir sind hier und wir sind viele“, sagt Deniz lachend und
       zeigt auf eine Gruppe von Kommilitonen, die auf den Platz vor dem
       Fähranleger im Istanbuler Stadtteil Kadıköy strömt. Auf den Schildern, die
       sie in die Höhe halten, fordern sie Freiheit für Universitäten. „Die sind
       von einer Uni ganz im Westen Istanbuls“, freut sich Deniz, „die
       solidarisieren sich mit uns“.
       
       Die Soziologiestudentin ist von der Boğaziçi-Universität, an der seit Tagen
       dagegen protestiert wird, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan
       ihr zu Beginn des neuen Jahres einen neuen Universitätsrektor vor die Nase
       gesetzt hat. Vorgeschlagen wurde Melih Bulu nicht von den Institutionen der
       Universität. Er soll als Parteimann des Präsidenten die renommierteste
       Istanbuler Universität auf die konservative, religiöse Linie der Regierung
       bringen.
       
       „Wir lassen uns das nicht gefallen“, sagt Deniz, „wir werden nicht mehr
       schweigen“. In diesem Moment legt eine Fähre von der europäischen Seite
       Istanbuls mit hunderten Studenten an Bord in Kadıköy an. „Weg mit Melih
       Bulu“, skandieren sie noch an Bord, „wir wollen unsere Freiheit“. Mit
       begeistertem Klatschen werden sie empfangen. Trotz großen Polizeiaufgebots
       ist die Stimmung ausgelassen. „Sie versuchen uns einzuschüchtern“, sagt
       Merjem, eine Freundin von Deniz, „aber wir haben keine Angst“.
       
       Das ist erstaunlich, denn in den vergangenen Tagen ist die Polizei mit
       Härte gegen die protestierenden Studenten der Boğaziçi-Universität
       vorgegangen. Bereits bei ersten Protesten am Montag, zu denen es spontan
       nach dem Bekanntwerden der Personalie auf dem historischen Campus in den
       Hügeln über dem Bosporus kam, ging die herbeigerufene Polizei mit Gewalt
       vor.
       
       Tränengas, Pfefferspray und Polizeiknüppel kamen zum Einsatz, es gab
       Verletzte und Festnahmen. Weitere Studierende wurden im Morgengrauen des
       Dienstags von der Polizei aus dem Bett geholt und abgeführt. Nach Aussagen
       ihrer AnwältInnen mussten sie sich nackt ausziehen und wurden geschlagen.
       Am Mittwoch wurden insgesamt 36 Studierende festgenommen.
       
       ## Offener Brief der Lehrkräfte
       
       In einem offenen Brief meldeten sich daraufhin auch Lehrkräfte der
       Universität. Sie verurteilten die Gewalt und den Angriff auf die Autonomie
       der Universität und die Freiheit der Lehre. Edhem Eldem, ein international
       bekannter Historiker und Professor an der Boğaziçi, sagte gegenüber der
       taz: „Unsere gesamte Fakultät setzt sich für die Freilassung der
       Studierenden ein. Unserer Meinung nach ist der Einsatz der Polizei völlig
       unverhältnismäßig“.
       
       Auch in der Sache ist offenbar ein Großteil der AkademikerInnen der
       Universität mit den Protestierenden einer Meinung. „Das Vorgehen der
       Regierung verletzt die Autonomie und die akademische Freiheit der
       Universität“, bestätigt Eldem die Haltung der Studierenden. „Es gehört zu
       den Prinzipien der Boğaziçi-Universität, dass alle wichtigen Posten durch
       gewählte VertreterInnen besetzt werden und Universitäten grundsätzlich von
       politischem Einfluss freigehalten werden sollen“. Melih Bulu gilt als
       Vertreter der regierenden AKP und Vertrauter Erdoğans.
       
       Nachdem die Polizei am Dienstag das gesamte Universitätsgelände weiträumig
       abgesperrt hatte, entschieden die Studierenden, den Protest in die Stadt zu
       tragen. Nach einem Marsch entlang des Bosporus kam es am Mittwochnachmittag
       zu der Kundgebung in Kadıköy.
       
       Etliche Universitäten haben sich mittlerweile dem Protest angeschlossen.
       Auch die parlamentarische Opposition unterstützt die Forderung nach
       Autonomie für die Universitäten. „Ich bin auf der Seite der Studenten und
       Akademiker der Boğaziçi-Universität“, twitterte Istanbuls Oberbürgermeister
       Ekrem İmamoğlu.
       
       Aber auch der ehemalige Wirtschaftsminister Erdoğans, [1][Ali Babacan, der
       mittlerweile eine eigene Partei gegründet hat], sagte: „Wir brauchen freie
       Wissenschaft und produktive Studenten. Diese Produktivität kann nicht durch
       die Ernennung politischer Rektoren erreicht werden“.
       
       Edhem Eldem befürchtet, dass der neue Rektor die Universität zum
       akademischen Zulieferbetrieb für die Industrie umfunktionieren will. Noch,
       sagt er, sei das aber Spekulation. „Der Widerstand aller Fakultäten basiert
       auf der Verteidigung unserer Prinzipien“. Die Studierenden in Kadıköy
       sagten es während der Kundgebung noch direkter: „Wir haben die Nase voll
       von dem [2][repressiven Regime]. Wir werden nicht mehr still bleiben“.
       
       7 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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