# taz.de -- Urteil zu kurdischem Politiker: Türkei soll Demirtaş freilassen
       
       > Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilt erneut: Die Haft
       > von Oppositionspolitiker Demirtaş ist unrechtmäßig.
       
 (IMG) Bild: Seit seiner Inhaftierung kämpfen viele in der Türkei für die Freilassung von Selahattin Demirtaş
       
       FREIBURG taz | Die Türkei verletzt die Menschenrechte des [1][inhaftierten
       Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş]. Das stellte an diesem Dienstag
       der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg fest.
       Die RichterInnen forderten die Türkei zur sofortigen Freilassung von
       Demirtaş auf. Der heute 47-Jährige ist einer der wichtigsten Kritiker von
       Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sitzt seit 2016 im Gefängnis.
       
       Demirtaş wurde 2007 erstmals ins türkische Parlament gewählt. 2014 trat er
       der neu gegründeten kurdisch-linken Sammlungspartei HDP bei und wurde
       sofort zum Ko-Vorsitzenden gewählt. Bei den Präsidentschaftswahlen im
       selben Jahr erzielte er mit 9,77 Prozent auf dem dritten Rang einen
       Achtungserfolg. 2015 zog die HDP mit 13,1 Prozent der Stimmen ins türkische
       Parlament ein; zum ersten Mal hatte eine pro-kurdische Partei die in der
       Türkei geltende sehr hohe Zehnprozenthürde übersprungen.
       
       Der gutaussehende und rhetorisch gewandte Anwalt Demirtaş, der gemäßigt
       auftrat und Gewalt ablehnte einschließlich der Gewalt der kurdischen PKK,
       galt in der Türkei, aber auch im Westen bald als Hoffnungsträger.
       Gelegentlich wurde er als „türkischer Obama“ bezeichnet. Doch ab Juli 2015
       wurde er mit politisch motivierten Strafverfahren überzogen. Im Mai 2016
       verlor er nach einer umstrittenen Verfassungsänderung [2][seine
       parlamentarische Immunität].
       
       ## Demirtaş Rechte mehrfach verletzt
       
       Im November 2016 wurde er verhaftet und saß seitdem unter verschiedenen
       Anschuldigungen in Untersuchungshaft. Immer wenn eine Entlassung möglich
       schien, eröffnete die gelenkte türkische Justiz ein neues Verfahren. Der
       schwerste Vorwurf lautete auf Mitgliedschaft in der „terroristischen
       Vereinigung“ PKK. An der türkischen Präsidentschaftswahl 2018 nahm er zwar
       [3][aus dem Gefängnis heraus teil] und landete mit diesmal 8,4 Prozent der
       Stimmen wieder auf dem dritten Rang. Er ist inzwischen aber nicht mehr
       Parteichef der HDP.
       
       Nachdem die türkischen Gerichte Dutzende Male seine Anträge auf
       Haftentlassung abgelehnt hatten, rief er 2017 den EGMR in Straßburg an. Das
       Gericht des Europarats – dem 47 Staaten inklusive Türkei, Russland und der
       Schweiz angehören – entschied bereits 2018 in einem ersten Urteil zugunsten
       von Demirtaş. Gegen die Entscheidung der siebenköpfigen Kammer rief die
       Türkei jedoch die 17-köpfige Große Kammer an.
       
       Die Große Kammer des EGMR entschied nun, dass die Türkei gleich mehrere
       Rechte Demirtaş’ verletzt hat, von der Meinungsfreiheit über das Recht auf
       Freiheit bis zum passiven Wahlrecht. Beanstandet wurden sowohl die
       Aufhebung der parlamentarischen Immunität, als auch die Untersuchungshaft
       sowie die gesamte terrorismusbezogene Strafverfolgung.
       
       Die Meinungsfreiheit sei dadurch verletzt, so die RichterInnen, dass sich
       die Vorwürfe hauptsächlich auf seine politischen und parlamentarischen
       Reden stützten. Dabei habe er aber übliche politische Kritik an der
       Regierung geübt. Die Türkei habe keinerlei konkreten Hinweis auf eine
       Verbindung zur PKK vorlegen können.
       
       Die Richter kamen zum Schluss, dass die Strafverfolgung und Inhaftierung
       von Demirtaş das Ziel hatten, den gesellschaftlichen Pluralismus zu
       unterdrücken und die politische Debatte zu behindern. Immerhin war Demirtaş
       während zweier äußerst wichtiger politischer Ereignisse in Haft: während
       des Referendums um die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei 2017
       und während der nachfolgenden Präsidentschaftswahl 2018.
       
       Die Richter haben keine Zwangsmittel, die Forderung nach sofortiger
       Freilassung von Demirtaş durchzusetzen.
       
       22 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Christian Rath
       
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