# taz.de -- Die Wahrheit: Haus der tausend Diktatürchen
       
       > In Pandemiezeiten ist der Föderalismus die Krönung deutscher Politik.
       > Unzählige Kleinststaaten warten darauf, aus dem historischen Grab
       > aufzuerstehen.
       
 (IMG) Bild: Gummistiefelpflicht im Kleinstaat? Überhaupt kein Problem im bundesdeutschen Föderalismus
       
       Eines hat die Coronakrise allen Menschen in Deutschland vor Augen geführt:
       [1][Der Föderalismus lebt]. Er feiert fröhliche Urständ. Er tanzt auf dem
       Tisch, steppt mit dem Bär, lässt fünfe gerade sein und benimmt sich
       insgesamt sehr schlecht. Aber er kann es sich ja auch leisten. Denn er ist
       notwendig. Ein System nämlich, das in Ulm Schulkinder jedes zweiten
       Jahrgangs nach Hause schickt, im benachbarten, nur durch eine 62 Meter
       lange Brücke getrennten Neu-Ulm jedoch Schulkinder aller Jahrgänge in die
       Schule lässt, dafür aber nur die halbe Klasse, so ein System kann nicht
       ganz schlecht sein. Auch nicht ganz logisch, aber egal.
       
       Dennoch stellt sich die Frage: Sind sechzehn Ministerpräsidenten, sechzehn
       Innenminister, sechzehn Kultusminister und sechzehn Landwirtschaftsminister
       mit jeweils sechzehn Konzepten für Polizei, Schulen und Ackerflächen
       wirklich genug? Muss nicht noch viel mehr Ländersache werden?
       
       Dürstet dieser Staat nicht nach mehr Diskussionsrunden zwischen
       narzisstisch auffälligen Ministerpräsidenten, nach mehr coolen „[2][Zeigst
       du mir deine Inzidenzwerte], zeig ich dir meine“-Spielchen, nach mehr
       Software-Problemen zwischen Bundesländern, die das Wort „Söfdwär“ (Sachsen)
       oder „Schoftwehr“ (Schwaben) auch vollkommen unterschiedlich aussprechen?
       Wenn schon ein einziger Landtag die öffentlich-rechtlichen
       Rundfunkanstalten im gesamten Bundesgebiet ins finanzielle Chaos stürzen
       kann, dann zeigt sich doch klar und deutlich: Es muss mehr Föderalismus
       her. Fragt sich nur wie?
       
       Sollte man auch Finanzen, Steuerhoheit und Verteidigung zur Ländersache
       machen? Klingt verlockend, birgt aber auch Gefahren. Was, wenn einerseits
       die durch sprudelnde Steuereinnahmen hochgerüsteten bayerischen Cyborgs in
       Lederhosen mit Drohnenunterstützung die Grenzen zu Tirol lückenlos
       überwachen, um ein Einsickern verseuchter austrakischer Bergvölker zu
       unterbinden, während andererseits die bettelarme, nur mit Heugabeln
       bewaffnete rheinland-pfälzische Armee von hochinfektiösen Belgiern
       überrannt wird? Nein, der Föderalismus muss erst vermehrt werden, bevor er
       weiter vertieft werden kann.
       
       ## Versaarlandung für alle
       
       Anders gesagt: Wenn durch den Föderalismus ein Bürger aus dem Saarland
       achtmal mehr Einfluss hat auf die Politik des Gesamtstaates als einer aus
       Nordrhein-Westfalen, dann ist das sicher nicht der Fehler des Saarlandes.
       Die Versaarlandung Deutschlands muss das endgültige Ziel sein.
       
       Hierbei kann man sich von der Geschichte inspirieren und deutsche Staaten
       in ihrer ganzen geringen Größe wieder auferstehen lassen. Denken wir nicht
       voll Wehmut an Schaumburg-Lippe? Wollen wir weiterleben ohne Jülich-Cleve?
       Her mit Hessen-Darmstadt! Nicht missen wollen wir ein Jota / von
       Coburg-Sachsen-Gotha.
       
       Eine Unzahl von deutschen Kleinststaaten wartet darauf, wie Lazarus aus dem
       historischen Grab aufzuerstehen. Eine Zombie-Apokalypse der neuesten
       uralten Bundesländer hätte zahlreiche Vorteile. Gerade für Journalisten.
       Gäbe es dann doch in räumlichen Vergleichen endlich ein anderes Flächenmaß
       als das ewige „So groß wie das Saarland“. Plötzlich sind Ölteppiche so groß
       wie das Bundesland Oldenburg, Brandrodungen im Amazonas von der Fläche des
       Freistaates Braunschweig oder ein Müllberg mit einer Ausdehnung des
       Stadtstaates Passau möglich.
       
       Auch die positiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt darf man nicht
       übersehen. Wenn es nun nicht mehr nur sechzehn Bundesländer gibt, sondern
       26, 86 oder 666, braucht es schließlich auch 26, 86 oder 666
       Landesregierungen und Kultusministerien, Landespolizeidirektionen und
       Rundfunkanstalten, Landesämter für Fußpflege und Hasenköttel.
       
       Der Personalbedarf würde explodieren. Was wiederum den sozialen
       Zusammenhalt in der Gesellschaft fördert. Denn auch wenn der Staatsdiener
       dem Staatsbürger gegenüber unnachsichtig und hartherzig auftreten mag, für
       einen Kollegen hat er doch immer Verständnis, ein offenes Ohr und viel
       Empathie. Wenn dann aber fast jeder auf die eine oder andere Weise im
       Staatsdienst ist, dann herrscht Friede, Freude, Eierkuchen im Lande.
       
       Verbot von blauen Fahrrädern 
       
       Der Steuerfahnder hackt dem Gewässerschutzbeauftragten kein Auge aus, der
       Regierungsoberinspektor keines dem Berufungsrichter. Im totalen
       Föderalismus sind alle gleich, nur manche durch die Besoldungsgruppen
       gleicher. Was aber bedeutet, das Menschen endlich wieder beim Staate in
       Lohn und Brot kommen, die im Kreuzworträtsel die Frage nach dem Erbfaktor
       (drei Buchstaben) mit „Tod“ beantworten. Und auch wenn jene schlichten
       Gemüter vielleicht Schwierigkeiten haben, eine Banane zu öffnen oder ihre
       Nachbarn zu grüßen, im Staatsdienst – das zeigt ein Blick in die Geschichte
       – ist schon manch kleiner Mann zu unmenschlicher Größe herangewachsen.
       
       Schließlich brauchen neue Bundesländer, Kleinstaaten, Stadtstaaten und
       Freistaaten auch neu auszuarbeitende Landesverfassungen. Da lassen sich
       Gewaltfantasien und persönliche Vorlieben in schönstem Juristendeutsch
       ausleben. Denn wer sagt, dass die neu zu schaffenden deutschen
       Kleinteilstaaten demokratisch sein müssen? Diese neuartige
       Gesellschaftsordnung hat eine weitaus geringere Tradition als die von Väter
       Sitte althergebrachten autokratischen Modelle. Man kann sich da vom
       despotischen Ausland inspirieren lassen. Der Herrscher von Turkmenistan
       etwa hat alle schwarzen Autos in seinem Land verbieten lassen. Aus
       persönlicher Abneigung.
       
       Das muss in einem Deutschland der tausend Diktatürchen doch auch möglich
       sein: Verbot von blauen Fahrrädern im Herzogtum Ansbach; Schwarzburg führt
       Gummistiefelpflicht ein; Nördlingen und Memmingen verhängen die Todesstrafe
       für öffentliches Ausspucken; wer in der Grafschaft Reuß ohne Smartphone
       angetroffen wird, riskiert zweijährigen Gefängnisaufenthalt; in
       Wolfenbüttel gilt auf den Straßen Links- und Rechtsverkehr gleichzeitig.
       
       Ja, der totale Föderalismus könnte ein Paradies für die Fans von
       Willkürherrschaft, Dorftratsch und juristischen Detailfragen werden. Der
       Satz „Der Staat bin ich“ des Sonnenkönigs Ludwig XIV. wäre keine hohle
       Phrase mehr, sondern eine exakte geografische Angabe. Und die daraus
       resultierenden endlosen Konferenzen der Hundertschaften von Länderchefs,
       Ortskaisern und Provinzdespoten mit der Zentralregierung würden jeden
       EU-Gipfel wie ein Hochamt der Harmonie aussehen lassen.
       
       Einziges Problem: Um eine Staatsreform solchen Ausmaßes in Deutschland
       durchzusetzen, bräuchte es die Zustimmung der Ministerpräsidenten im
       Bundesrat – und die werden sich sicher niemals einig.
       
       24 Feb 2021
       
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