# taz.de -- Sachbuch „Gertigstraße 56“: Aus dem inneren Kampfgebiet
       
       > „Gertigstraße 56“ widmet sich dem kommunistischen Widerstand gegen den NS
       > in Hamburg. Herausgegeben hat das Buch die Gruppe „Kinder des
       > Widerstands“.
       
 (IMG) Bild: Werner, Ernst, Lotte, Rudolf und Hans Stender
       
       HAMBURG taz | Noch einmal besucht Käthe Stender ihre Schwiegereltern in der
       Gertigstraße mit der Hausnummer 56, im Hamburger Stadtteil Winterhude. An
       der Hand hat sie ihren siebenjährigen Sohn Rudi. Es ist der Januar 1934.
       Sie ist ein paar Tage zuvor aus der Haft entlassen worden. Immer wieder hat
       man sie im „Kola-Fu“ verhört, dem im März 1933 eingerichteten
       Konzentrationslager Fuhlsbüttel. Die Gestapo will erfahren, wo sich Käthes
       Mann aufhält, Rudolf Stender, führender Funktionär des längst verbotenen
       Rotfrontkämpferbundes, der im Untergrund lange versucht hat, die Reste der
       versprengten KPD zusammenzuhalten. Mittlerweile wartet Rudolf in der
       Sowjetunion auf seinen nächsten Einsatz.
       
       Nun will sich Käthe Stender, geborene Michaelsen, von ihm scheiden lassen.
       Sie erhofft davon für sich, aber vor allem für ihren Sohn, nicht länger von
       den Nazis drangsaliert zu werden; und sie erbittet den Segen dafür von der
       Familie ihres Mannes, besonders von ihrer Schwiegermutter – und bekommt
       ihn: „Für mich bleibst du meine Schwiegertochter, auch wenn du wieder
       heiratest. Käthe, du hast ein glückliches Leben verdient, und ich wünsche
       dir von ganzem Herzen, dass du es auch bekommst.“
       
       Es ist nur eine kleine, emotionale Szene in dem wuchtigen Buch, das Ruth
       Stender geschrieben hat, die Tochter von Werner Stender, dem jüngsten Sohn
       der Familie. „Gertigstraße 56“ erzählt die Geschichte ihres Vaters und
       seiner [1][Brüder Ernst], Jahrgang 1901, [2][und Rudolf], zwei Jahre älter.
       Das schlüpft in deren Rollen, kreuzt immer wieder die verschiedenen
       Lebenswege und wählt dafür jeweils die Ich-Perspektive. Das ist ein
       spannendes, aber auch nicht ganz unheikles Verfahren: Ruth Stender,
       Jahrgang 1950, hat ihre beiden Onkel, die der Widerstand gegen das
       NS-Regime am Ende das Leben kostete, nie selbst kennengelernt.
       
       Worauf sie sich stützen kann, sind die Lebenserinnerungen und Erzählungen
       ihres Vaters, der 2015 fast 100-jährig in Hamburg starb, sowie Gespräche
       mit Familienangehörigen und Zeitzeugen; ergänzt durch die Sichtung diverser
       Briefe und Notizen sowie der Prozessakten, dazu noch jahrelanger Recherchen
       in Archiven.
       
       So mischen sich zwei Quellen-Welten: einerseits eine klassisch-solide,
       andererseits das Nachberichten, Interpretieren, Ausschmücken familiärer
       Erzählungen mit all ihren Fallstricken, Idealisierungen und Leerstellen. So
       gibt es noch einen vierten Stender-Bruder, den zweitältesten, dessen Leben
       und Rolle im familiären Geschehen seltsam unbeleuchtet bleibt.
       
       Entstanden ist ein Text, der dazu aufruft, ihn so aufmerksam wie gegen den
       Strich zu lesen, die persönlich grundierte, zuweilen fast hymnische
       Geschichte vom kommunistischen Widerstand in schier ausweglosen Zeiten.
       „Gertigstraße 56“ ist aber auch eine gebrochene Heldenerzählung – nicht
       zuletzt, wenn wir dem Lebensweg Rudolf Stenders folgen, der gerade noch
       rechtzeitig dem stalinistischen Terror entkam und in den spanischen
       Bürgerkrieg geriet.
       
       Damit korrespondiert die Editionsgeschichte des Buches selbst:
       Herausgegeben haben es die „Kinder des Widerstandes“, das sind tatsächliche
       Kinder und Enkelkinder ehemaliger kommunistischer, aber auch
       sozialdemokratischer Widerständler. Die Gruppe trifft sich seit 2017
       regelmäßig in Hamburg, kein eingetragener Verein steht dahinter, kein
       Vorstand wurde gewählt, keine Satzung verabschiedet. „Viele von uns haben
       ein sehr bewegtes, politisch aktives Leben hinter sich“, so [3][beschreiben
       sie sich selbst], „und waren schon als Jugendliche in den verschiedenen
       Bewegungen gegen alte und neue Nazis, gegen den ‚Muff aus tausend Jahren‘
       und für Frieden und Demokratie dabei“.
       
       Weiter heißt es: „Gleichzeitig hatten manche von uns ein zweites, inneres
       Kampfgebiet; gegen die Folgen von Folter und Misshandlungen und die
       psychischen Schäden, die unsere Eltern und Großeltern in den Lagern der
       Nazis und während ihres widerständigen Lebens erlitten und an uns
       weitergegeben hatten und über die zum Großteil geschwiegen wurde.“
       
       „Ich habe erst spät begriffen, dass wir als Kinder einiges abgekriegt
       haben“, sagt André Rebstock, der zu den „Editoren“ der Gruppe gehört, die
       das Buchprogramm verantworten. Seine Eltern Herta und Carlheinz Rebstock
       waren in Hamburg im kommunistischen Widerstand. Und so begegnen wir ihnen –
       vor allem Herta Rebstock – auch in einigen wenigen, aber eindringlichen
       Passagen in Stenders Buch: Deren Vater hatte die damals erst 16-Jährige
       Herta für den Widerstand gewinnen können; „mein kleines Mädchen“, wie er
       sie nannte. Er wurde aber auch Zeuge ihrer Verhaftung durch die SS: „Sie
       sieht aus wie ein verschrecktes Kaninchen, das Gesicht weiß wie ein Laken,
       als sie in den zweiten Wagen steigt“, so beschreibt nun Ruth Stender die
       Szene, fußend auf den Erinnerungen ihres Vaters.
       
       „Über die Verfolgungssituation haben meine Eltern sehr wohl erzählt“, sagt
       André Rebstock, „aber kindgerecht: Die ganz harten Sachen haben ich und
       meine Geschwister nicht erfahren.“ Für fünf Jahre kam sein Vater damals in
       Haft, seine Mutter für dreieinhalb Jahre. „Mein Vater hat ganz am Schluss
       noch mal Todesangst ausstehen müssen, weil er in das berüchtigte
       [4][Strafbataillon 999] eingezogen wurde, nachdem er schon aus der Haft
       entlassen war“, erzählt Rebstock – in jenem „Bataillon“, eigentlich einer
       sehr viel größeren Division, kamen ab 1942 Männer zum Einsatz, die ihre
       „Wehrwürdigkeit“ verloren hatten. „Meine Mutter ist wahrscheinlich ohne
       schlimme Brutalitäten durchgekommen“, sagt Rebstock, „wahrscheinlich – ich
       hoffe es.“ Erst später, da war er schon erwachsen, sei ihm klar geworden,
       warum seine Mutter während seiner Kindheit immer mal wieder für einige Zeit
       nicht zu Hause war: Sie hatte sich in stationäre Behandlung begeben.
       
       „Wir gehen behutsam mit uns um, aber wir sprechen auch die schwierigen
       Themen an. Oder sagen wir mal: fast alle“, beschreibt Rebstock das Klima
       innerhalb der Gruppe. „Wir politisieren nicht, sondern wir reden über uns;
       über unsere Erfahrungen, und über die Eltern, manchmal.“ Wichtig sei aber
       auch das Agieren nach außen – etwa durch das Buchprogramm.
       
       Zwei Bände sind bisher erschienen – neben dem über die Stender-Brüder einer
       zu Katharina Jacob (1907–1989), Überlebende des KZ Ravensbrück. Zwei
       weitere sind in Vorbereitung, darunter die Autobiografie von Hans Lebrecht,
       dessen Tochter in Hamburg lebt. Lebrecht, Jahrgang 1915 und aufgewachsen in
       Ulm, kam noch als Schüler zum Widerstand – als Jude war er im jüdischen wie
       im kommunistischen Widerstand aktiv: Er half, Menschen in die Schweiz und
       nach Frankreich zu schmuggeln. Als er erfuhr, dass die Gestapo nach ihm
       suchte, floh er selbst außer Landes – bis nach Palästina, wo er sich bald
       der kommunistischen Partei anschloss: „Und die – was kaum jemand weiß –
       bestand damals aus palästinensischen und aus jüdischen Israelis“, erzählt
       Rebstock.
       
       Ist denkbar, wenn nicht geradezu wünschenswert, dass die Gruppe über die
       Biografien ihrer Eltern und Angehörigen heraus auch irgendwann mal ein Buch
       über sich selbst herausbringt, diese Nachkommen also ihr eigenes Leben zum
       Thema machen? „Das würden wir – glaube ich – als anmaßend empfinden“, sagt
       André Rebstock und lacht. „Wir doch nicht! Wir sind doch nur die Kinder!
       Die Eltern haben doch gekämpft!“
       
       8 Mar 2021
       
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