# taz.de -- Anschlag in Atlanta: Das Erbe kolonialer Fantasien
       
       > Der übersexualisierende Blick auf asiatische Frauen hat im Westen eine
       > lange Tradition. Auch bei dem Anschlag in Atlanta ist er von Bedeutung.
       
 (IMG) Bild: Einer von drei Tatorten in Atlanta, Georgia
       
       Es waren mehrheitlich ältere [1][Frauen asiatischer Herkunft, die am 16.
       März in Atlanta], Georgia, durch die Hand eines weißen Täters ums Leben
       kamen: Hyun Jung Grant, Xiaojie Tan, Daoyou Feng, Suncha Kim, Soon Chung
       Park, Yong Ae Yue (neben Delaina Ashley Yaun und Paul Andre Michels) –
       allesamt Asian-Americans der ersten Generation, die aus Korea und China in
       die USA einwanderten. Ungeachtet dieser Tatsache warfen einige nach dem
       Massenmord die Frage auf: War das Motiv Rassismus oder Sexismus?
       
       Zusätzlich befeuert wurde die Diskussion durch den (mittlerweile
       abgesetzten) Polizeisprecher, der vor die Presse trat, um die Sicht des
       Mörders kritiklos wiederzugeben: Es habe sich nicht um einen rassistisch
       motivierten Anschlag gehandelt. Vielmehr hätten die von ihm aufgesuchten
       Massagesalons Orte der „Versuchung“ dargestellt, die es für ihn, der an
       Sexsucht leide, zu eliminieren galt.
       
       Während man sich in der hiesigen Berichterstattung teils durchlaviert
       („Rassismus kann nicht ausgeschlossen werden“), zeigen selbst die größten
       US-Nachrichtenmedien eine klare Haltung: Nicht nur seien die Taten von
       Atlanta eindeutig als Hate Crime einzuordnen, auch sei es unmöglich, hier
       Rassismus und Sexismus getrennt voneinander zu betrachten.
       
       Diese Einsicht ist vor allem dem Wirken von Feministinnen aus den
       BIPoC-Communitys zu verdanken, die schon lange auf die Überschneidung von
       Diskriminierungsdimensionen hinweisen. Rund drei Jahrzehnte ist es her,
       dass die Schwarze [2][Juristin Kimberlé Crenshaw 1989 den Begriff der
       Intersektionalität] einführte, um zu beschreiben, wie sich die Dynamiken
       von Rassismus, Sexismus und Klassenunterdrückung kreuzen.
       
       ## Anstieg der Übergriffe seit der Pandemie
       
       Erschütternderweise kommt das Attentat für die Asian-American Communitys in
       den USA nicht überraschend. Angriffe auf asiatisch gelesene Menschen sind
       nicht neu, doch seit Beginn der [3][Covid-19-Pandemie haben sie sich
       vielerorts intensiviert], worauf auch asiatisch-deutsche Aktivist*innen
       und Organisationen wiederholt aufmerksam machen (wie etwa unter dem Hashtag
       #IchBinKeinVirus).
       
       Um 149 Prozent soll die antiasiatisch motivierte Hasskriminalität in den 16
       größten US-Städten angestiegen sein, berichtet das Center for the Study of
       Hate & Extremism, während die Gesamtzahl der Hassverbrechen um 7 Prozent
       gesunken ist. Von fast 3.800 Übergriffen zwischen März 2020 und Februar
       2021, quer durch alle US-Bundesstaaten, spricht ein Bericht der
       Aktionsgruppe Stop AAPI Hate, der nur einen Tag vor dem Anschlag in Atlanta
       veröffentlicht wurde. Und das sind nur jene Fälle, die gemeldet wurden. Was
       besonders heraussticht: Beinahe 70 Prozent der Betroffenen sind Frauen.
       
       Bereits seit vielen Jahren dokumentieren und analysieren feministische
       Stimmen aus den Asian-American Communitys, wie das weiße Nordamerika
       asiatische Frauen fast ausschließlich durch eine sexuelle Linse betrachtet.
       Dabei ziehen sie eine direkte und kausale Linie zwischen der
       Hypersexualisierung asiatischer Frauenkörper und der Gewalt gegen Frauen,
       die als asiatisch wahrgenommen werden.
       
       Dieser objektifizierende Blick auf „die Asiatin“, wie er sich uns in Kultur
       und Medien darstellt, hat eine lange Tradition. Er findet sich bereits im
       13. Jahrhundert bei Marco Polo, der über die Tausenden Frauen Kublai Khans
       und die Prostituierten außerhalb des Herrscherpalastes in Peking schreibt.
       Es besteht Grund zu der Annahme, dass die Darstellungen nicht auf Marco
       Polos eigenen Erfahrungen, sondern auf den protzenden Berichten anderer
       Reisender und der Fantasie beruhen.
       
       ## Von „Miss Saigon“ bis „Full Metal Jacket“
       
       Auch im späteren europäischen Kolonialismus tritt die „orientalische Frau“
       als Produkt westlicher männlicher Imagination in Erscheinung – passiv,
       willig, in Schweigen gehüllt –, der „Orient“ als Ort der Verführung und
       verbotenen Sexualität. So klingt in der zitierten Aussage des Attentäters
       von Atlanta das Vokabular alter kolonialer Fantasien auf horrende Weise
       nach.
       
       Die westlich-europäische Exotisierung und Fetischisierung von asiatischen
       Frauen hat also Tradition. Sie findet im späten 19. Jahrhundert einen
       ersten Höhepunkt, mit dem Roman „Madame Chrysanthème“ von Pierre Loti
       (bekannt für seine zahlreichen Reisen als Marineoffizier zu kolonialen
       „Sehnsuchtsorten“), der zum Bestseller avanciert – und zur Inspiration für
       Giacomo Puccinis Opern-Smash-Hit „Madame Butterfly“ und das spätere
       Broadway-Musical „Miss Saigon“ wird.
       
       Die sich für den weißen Mann aufopfernde Kurtisane ist auch der Kern der
       Figur der Suzie Wong, der titelgebenden Figur des Hollywoodfilms von 1960
       mit Nancy Kwan, der so ziemlich jedes antiasiatische rassistische Stereotyp
       auf die Leinwand und in die Köpfe des Publikums projiziert. Und vergessen
       wir nicht den Auftritt der namenlosen Sexarbeiterin in „Full Metal Jacket“
       (1987), deren Sager „Me so horny, me love you long time“ seitdem nicht nur
       die westliche Popkultur, sondern auch asiatische Frauen in ihrer
       Alltagsrealität immer wieder heimsucht.
       
       Ob zur „Lotusblüte“ verklärt – kindlich, unterwürfig, sexuell verfügbar –
       oder als ihre Kehrseite, die „Dragon Lady“, verdammt (die
       chinesisch-US-amerikanische Schauspielerin Anna May Wong erlangte durch
       ihre Darstellung der kaltherzigen Femme fatale, die ihre Sexualität gezielt
       für ihre Zwecke einsetzt, in den 1920ern und 1930ern Berühmtheit):
       Asiatische Frauen bleiben die „ewigen Prostituierten“, wie der Podcast
       „Journey to the West“ konstatiert.
       
       Der übersexualisierende Blick auf asiatische Frauen ist jedoch nicht nur
       das Resultat von europäischem Kolonialismus und Orientalismus. Zur
       Entmenschlichung und Legitimierung von Gewalt gegen Frauen asiatischer
       Herkunft haben auch der Imperialismus und Militarismus der USA seit dem
       späten 19. Jahrhundert wesentlich beigetragen, die die koloniale Denkweise
       weiterführten.
       
       ## Zwangsprostitution im Krieg
       
       Die heutigen Sexindustrien in vielen asiatischen Staaten – Thailand,
       Vietnam, Korea – sind im Zuge von Kriegen und der dauerhaften Präsenz von
       US-Soldaten entstanden. Nur wenige wissen, dass die „Comfort Stations“ in
       Japan, [4][in denen die euphemistisch als „Trostfrauen“ benannten], vor
       allem aus Korea und Taiwan verschleppten Zwangsprostituierten untergebracht
       waren, nach Ende des Zweiten Weltkrieges kurzfristig vom US-Militär
       übernommen wurden.
       
       Das Bild der asiatischen Prostituierten wirkte aber auch ins „Innere“ der
       USA: Historische Gesetzgebungen wie der Anti-Kidnapping Act (1870) und der
       Page Act (1875), die im Chinese Exclusion Act (1882) kulminierten, dienten
       einer restriktiven Migrationspolitik, die die Ansiedelung vor allem
       chinesischer Familien einschränken sollte. Gerechtfertigt wurde dies mit
       dem angeblichen Import chinesischer Prostituierter, die von chinesischen
       Männern in „Yellow Slavery“ gehalten werden würden, und der Angst, dass die
       „sexuelle Versklavung“ letztlich weiße Frauen treffen würde.
       
       Die angeblich deviante Sexualität asiatischer Frauen und der drohende
       moralische Verfall waren ebenso Grund für weiße christliche Missionarinnen,
       diese zu „zivilisieren“ und unter ihre Kontrolle zu bringen.
       
       Angesichts der langen Geschichte und komplexen Verflechtungen reicht es
       also nicht, „nur“ von Rassismus und Sexismus zu sprechen, um die
       Hypersexualisierung und Fetischisierung asiatischer Frauen zu verstehen –
       und vor allem dann, wenn es um die Lebensrealitäten migrantischer
       asiatischer Sexarbeiterinnen geht: Das Bild „der Asiatin“ war von Beginn an
       mit der Gewalt westlich-weißer Männlichkeit verknüpft.
       
       23 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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