# taz.de -- Soziologe über Gangstarap: Kampfansage an Ackermann
       
       > Im Buch „Soziologie des Gangstarap“ analysiert Martin Seeliger das Genre
       > als gesellschaftliche Suche zwischen Ungleichheitskritik und Regression.
       
 (IMG) Bild: „Fick deine Integration, ich knall dir die Kugel direkt durch dein Schädel“, rappt Haftbefehl
       
       taz: Herr Seeliger, Sie haben ein Buch über Gangstarap geschrieben. Welchen
       mögen Sie? 
       
       Martin Seeliger: Ich habe viel Bushido und Xatar gehört. Das Album
       „Russisch Roulette“ von Haftbefehl fand ich toll. Aber eigentlich [1][bin
       ich Punker].
       
       Wie sind Sie da zu Rap gekommen? 
       
       Als 2006 „Von der Skyline zum Bordstein zurück“ rauskam, sind ein Freund
       und ich auf den Bushido-Trip gekommen. Wir haben das erst ironisch gehört.
       Dann war es auch ein bisschen Sozialkino: Der kriminelle Asikanake, das hat
       uns geflasht. Dass ich das interessant finde, habe ich auch daran gemerkt,
       wie leicht mir das reinging: Ich konnte mir diesen ganzen Rapscheiß ohne
       Probleme merken.
       
       Was die Künstler über sich rappen, bleibt hängen? 
       
       Genau. Dann kam Bushidos Biografie. Man konnte die Person kennenlernen.
       Langsam schälte sich die Geschichte seiner Beziehung zum Clanchef Arafat
       Abou-Chaker heraus. Es ist der Plotcharakter von Rap. Der neue
       Online-Rapjournalismus hat so auch zum Aufstieg des Genres beigetragen. Das
       ist wie bei der Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“: Du kannst jeden Tag
       in einer neuen Folge schauen, was Joe Gerner schon wieder verbrochen hat.
       Bei Rap ist es der Mafiapate von Berlin, der Bushido aus seinem Vertrag
       holt oder Gzuz, der seine Frau verprügelt. Es gibt Musik, Filme, Bücher,
       Interviews. Daraus ergibt sich eine Storyline. Das fand ich geil. Auch als
       Bürgerkind.
       
       Warum finden Bürgerkinder [2][Rap noch faszinierend]?
       
       Ich komme aus einer gut situierten Professoren- und Lehrerinnenfamilie. Das
       mit der Kriminalität hat mich gereizt, das Schräge, das Gefährliche. Nico
       von K.I.Z rappt: „Mit 16 immer bei den harten Typen schleimscheißen.“ Mich
       zieht das an, weil ich selbst nicht so bin. Ich kann ja keinen abziehen,
       die würden mich auslachen. Rap hat mir eine andere Welt eröffnet. Das ist
       ein Grund für seinen Erfolg. Durch ihn können nichtmigrantische und
       bildungsbürgerliche Milieus Lebenswelten erfahren, die ihrer eigenen nicht
       entsprechen.
       
       Ist es nicht komisch, sich als Bürgerkind auf diese Weise für Gangstarap zu
       faszinieren, wenn da auch über echte Probleme gesprochen wird?
       
       Ja. Ich würde auch lügen, wenn ich sagen würde, ich bin total reflektiert
       und gucke mir das nur intellektuell an. Ich bin aber Fan der Energie. Jan
       Müller von Tocotronic hat neulich in seinem Podcast gesagt, Haftbefehl
       erinnere ihn an die Punkband Vorkriegsjugend. Das habe ich auch gedacht,
       als er in „069“ geschrien hat: „Fick deine Integration, ich knall dir die
       Kugel direkt durch dein Schädel.“ Das ist ja Punk, das ist Hardcore, wie er
       da rumschreit. Das finde ich ästhetisch geil. Was für ein geiler, irrer
       Typ!
       
       Sie haben neben Haftbefehl auch Bushido und Xatar genannt. Was verbindet
       diese Künstler? 
       
       Sie bedienen sich an Stereotypen über Migranten. Das ist ihr symbolischer
       Rohstoff, aus dem sie ihre Images fertigen. Bushido bezieht sich mit seinem
       Album „Staatsfeind Nr. 1“ auf die Vorurteile nach 9/11. Er hat die Pose:
       Ich bin der kriminelle Asiaraber. Aber er hat das ja nicht erfunden. Er ist
       kreativ und macht etwas damit, woran Medien und Öffentlichkeit
       jahrzehntelang gearbeitet haben. Es geht auch um Anspruchshaltung.
       Haftbefehl rappt „Fick das Sozialamt. Der Motor hat Durst vom roten
       Ferrari.“ Er meint: Ich will Ferrari fahren und mit diesem Scheiss-Hartz-IV
       kann ich vielleicht zweimal volltanken. Die normalen Wege standen mir nicht
       offen – und da ihr mir keine andere Möglichkeit gebt, schlage ich die
       Laufbahn als Krimineller ein. Das ist eine Absage an die Gesellschaft.
       
       Das mit dem Ferrari würden manche als stumpfen Materialismus kritisieren. 
       
       Vielleicht schützt sich die Gesellschaft so selbst vor Kritik. Ich sehe da
       eine Gesellschaftskritik. Das ist nicht unbedingt fortschrittlich, aber es
       ist Gesellschaftskritik. Wenn Haftbefehl rappt „Die Banken kratzen an den
       Wolken. Ich mich am Yarak. Wie komme ich an Euros?“ (Yarak; türkischer
       Ausdruck für Penis, Anm. d. Red.), dann steht er da unten, im Frankfurter
       Bahnhofsviertel und sagt, dass er auf sich alleine gestellt ist, ohne
       Zutritt zu den oberen Etagen der Banken, aber dass er ein Mann ist und
       einen großen Penis hat und jetzt guckt, wie er damit an Geld kommt. Da kann
       mir doch keiner erzählen, dass das keine Kritik an Ungleichheit ist. Er
       würde natürlich nicht sagen: Hallo, ich bin Haftbefehl, ich wurde ungerecht
       behandelt und ich will mich jetzt hier mal gegen soziale Ungleichheit
       aussprechen. Er sagt es anders. Der Ruf nach der sozialen Revolution passt
       nicht zur Männlichkeit. Man muss es schon alleine schaffen.
       
       Sie führen in Ihrem Buch drei Thesen ein: Rap ist Kampf um Anerkennung, Rap
       ist Kritik an sozialer Ungleichheit und dieser Kampf um Anerkennung und
       gegen Ungleichheit findet auf dem Feld der Männlichkeit statt. Warum? 
       
       Das Kapitel dazu heißt „Von der migrantischen Aufsteigermännlichkeit zur
       heroischen Unternehmermännlichkeit“ und basiert auf der Analyse von
       Autobiografien von Bushido, Xatar und Massiv. Alle drei sagen: In der
       neoliberalen Gesellschaft geht es darum, dass man sich über
       Leistungsfähigkeit profiliert. Du musst abliefern. Und wer muss mehr
       abliefern als ein Migrant vom Rande der Gesellschaft, der von unten nach
       oben will? Klar, Ackermann und die weißen Manager sind am Drücker, gelten
       als die leistungsfähigsten und durchsetzungsfähigsten. Aber wenn ihr mal
       genau darüber nachdenkt, dann haben die das von der Mitte der Gesellschaft
       über ihr BWL-Studium in St. Gallen in die Deutsche Bank geschafft. Ich
       komme von ganz unten und ich habe viel mehr geleistet. Ich habe Leute
       verprügelt, habe mich auf Schwarzmärkten gegen das Gesetz und den Staat
       behauptet. Deshalb habe ich die dickeren Eier. Deshalb bin ich der
       hegemoniale Mann und nicht Ackermann.
       
       Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat bedingen einander hier also, und
       die Logik der Konkurrenz ist eine männliche? 
       
       Ja. Dabei müssen Frauen ja auch leistungsfähig sein, sonst könnten sie sich
       nicht am Markt verdingen. Sie kommen im Rap aber nur als Mutter, Schlampe
       oder Prinzessin vor. Die Moderne wird strukturiert durch die genannten drei
       Herrschaftsformen. Der Gangstarapper als junger Mann mit Migrations- und
       ohne Bildungshintergrund ist ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie sie
       zusammenhängen. Man könnte eine Einführung in die Soziologie allein anhand
       von Gangstarap machen.
       
       Rapper zeigen sich aber auch verletzlich. Bushido klagt in „Reich mir nicht
       deine Hand“ seinen Vater an, der ihn verlassen hat. Haftbefehl rappt in der
       „1999“-Reihe über den Suizid seines Vaters, ein Track von ihm heißt
       „Depression & Schmerz“. 
       
       Ja, die hegemoniale Männlichkeit differenziert sich aus, würde die
       Soziologin Heidi Süß sagen. Und so etwas wie verantwortungsvolle
       Vaterschaft ist heute auch wichtig.
       
       Haftbefehl postet ja gerne Content von sich und seinen Kindern. 
       
       Bushido auch. Hegemoniale Männlichkeit beinhaltet jetzt kontrolliertes
       Schwächezeigen. Es wäre unglaubwürdig, wenn man sagen würde: Ich bin immer
       stabil. Im Rap geht es um Authentizität. Aber so richtig schwach sein, ist
       auch nicht okay. Es ist mehr ein: Ich bin manchmal schwach und halte es
       trotzdem aus. Am Ende läuft es wieder darauf hinaus, stark zu sein.
       
       Heute ist Rap in Deutschland Mainstream. Was sagt uns das über dieses Land? 
       
       Man kann Gangstarap als [3][Suchbewegung einer postmigrantischen
       Gesellschaft] sehen. Es gab immer Leute wie Wolfgang Schäuble, [4][der 2006
       gesagt hat: „Wir waren nie ein Einwanderungsland und wir sind’s bis heute
       nicht].“ Du kannst deine Identität als Einwanderungsgesellschaft
       verleugnen, wenn es nur Udo Jürgens, Pur und die Toten Hosen gibt. Aber
       wenn die ganze Popkultur voll von Schwarzköpfen ist, geht das nicht mehr.
       Das hat Rap geschafft.
       
       Sie schreiben von „Gangstarap zwischen Affirmation und Empowerment“. Was
       heißt das? 
       
       Rapper treten nach unten und nach oben gleichzeitig. Rap ist
       emanzipatorisch, weil er diese postmigrantische Identitätsbehauptung und
       Ungleichheitskritik hat. Aber er ist auch affirmativ, regressiv und
       menschenfeindlich, weil er den Sexismus, den übersteigerten Materialismus,
       die Gewalt- und Dominanzbilder hat. Nur weil sich einer emanzipiert, muss
       das nicht progressiv sein.
       
       Können Sie dafür ein Beispiel nennen? 
       
       In „Mein Block“ macht Sido den Unterschichtenstolz stark. Er sagt: Ich
       scheiß auf euer Wertesystem, im Märkischen Viertel scheint mir die Sonne
       aus dem Arsch, das ist ein toller Block und wir sind hier Stars. Damit
       meint er: Was ihr mir als ein erstrebenswertes Leben vormacht, das brauche
       ich nicht, ich bin auch hier glücklich. Gleichzeitig rappt er von einem
       Haus, in dem sich einer erhängt hat; vom Pornostock, wo willige Frauen
       seien, eine patriarchale Welt. Und er sagt ja nicht: Wir renovieren den
       Block, kümmern uns um eine Seelsorge, erhöhen die Sozialhilfesätze, geben
       den Leuten Jobs. Sido deutet nur um. Einerseits ist das empowernd, weil er
       die Gegenidentität stark macht, anderseits verändert es nichts an den
       Verhältnissen.
       
       Wieso renoviert er den Block nicht einfach? 
       
       Weil er Aufmerksamkeit bekommt, indem er Stereotype bedient. Auch
       Haftbefehl kann seine Ungleichheitskritik formulieren, weil er erst mal
       sagt: Ja, ich bin der Ticker vom Bahnhofsviertel und wenn du mir quer
       kommst, dann Machete in die Zähne.
       
       5 May 2021
       
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