# taz.de -- Planwirtschaft in der Pandemie: Gesellschaftliche Nebenwirkungen
       
       > Privateigentum und Markt sind keine gute Ideen. Kommt jetzt die
       > Planwirtschaft – oder hat unser Kolumnist einen Impfschaden?
       
 (IMG) Bild: Symbol für „gute Ernte“: China ist im Jahr des Ochsen, und führt noch immer einen Fünfjahresplan
       
       Im Jahr 1895 entwickelte der Münchner Ingenieur Carl von Linde ein
       Verfahren, um Sauerstoff auf –183 Grad Celsius abzukühlen, bis dieser
       flüssig wurde. So konnte man ihn in Flaschen füllen und transportieren.
       
       125 Jahre später erlebt die Welt eine Pandemie, und Sauerstoff ist knapp.
       In indischen Krankenhäusern werden Beatmungsgeräte abgestellt, Menschen
       ersticken. Die Luft, die wir atmen, wenn wir krank sind, ist eine Ware.
       
       [1][Diese Ware gehört auch heute oft der Firma Linde], dem Weltmarktführer.
       Linde sitzt nicht mehr in München, sondern in Irland (die Steuern!) und
       produziert viel in Indien, aber für den Export. Der Aktienkurs ist im
       vergangenen Jahr um 40 Prozent gestiegen. Um es mit den Analysten von
       [2][deraktionaer.de] zu sagen: „Linde ist gut durch die Corona-Pandemie
       gekommen und zeigt sich auch für 2021 optimistisch.“
       
       Aber es gibt auch gute Coronanachrichten: Ich wurde geimpft! Die Ärztin hat
       mich über die Nebenwirkungen aufgeklärt, Schüttelfrost, Fieber, Thrombosen.
       Wenn ich Halluzinationen habe, solle ich schnell ins Krankenhaus. Ich spüre
       noch eine Nebenwirkung, keine persönliche, sondern eine gesellschaftliche:
       Der Sozialismus ist nah.
       
       ## Die Vorzüge der Planwirtschaft
       
       Lassen Sie mich ausreden, bevor Sie den Krankenwagen rufen! Es mag am
       steigendem Fieber liegen, mit dem ich diese Kolumne schreibe, aber während
       in Indien die Verheerungen des Marktes deutlich werden, zeigen sich im
       Westen gerade die Vorzüge der Planwirtschaft.
       
       Wer wann geimpft wird, entscheidet kein Markt, sondern Ethikrat und
       Impfkommission. Die Liste mit den Prioritätsgruppen mag nicht perfekt sein,
       aber in dieser Woche wurden gezielt Obdachlose in Hamburg geimpft, weil sie
       dem Virus besonders ausgeliefert sind.
       
       Die Überlegenheit der Planwirtschaft zeigt sich seit über einem Jahr – ob
       bei der Vorhaltung von Intensivbetten oder der fehlenden Produktion von
       Masken in Deutschland.
       
       Und nicht nur in der Pandemie kann man diesen Trend beobachten. Man sieht
       ihn auch bei der Avantgarde des Kapitalismus, den Tech-Giganten.
       [3][Amazon, Facebook und Google funktionieren längst wie riesige
       Planwirtschaften]. Amazon weiß, was wir suchen, bevor wir es wissen.
       Ausgeliefert wird entlang einer akribisch geplanten Logistik.
       
       Die Theoretiker des freien Marktes gingen davon aus, dass der Markt dem
       trägen Planungsstab einer nationalen Ökonomie überlegen ist, weil er aus
       Angebot und Nachfrage den besten Preis destilliert. Nun zeigen die
       Internetkonzerne, dass nicht der Markt, sondern [4][der auf Algorithmen
       basierte Plan] die ertragreichste Methode ist.
       
       ## Gebt die Patente frei!
       
       Wenn sich beim Impfen und im Silicon Valley zeigt, wie gut das funktioniert
       mit der gesteuerten Verteilung, wieso übertragen wir das nicht auf andere
       Bereiche? Klingt unrealistisch, aber wer hätte vor einer Woche gedacht,
       dass sich ausgerechnet die USA dafür einsetzen, die Patente für Impfstoffe
       auszusetzen, während die in der Planwirtschaft aufgewachsene deutsche
       Kanzlerin dagegen ist.
       
       Und wenn wir schon dabei sind, könnten wir noch ein paar andere Patente
       freigeben, nicht nur für geistiges Eigentum, sondern auch für materielles.
       Das Patent für Wohnungen, zum Beispiel, es nennt sich Grundbuch. Oder für
       den Sauerstoff von Linde.
       
       Sauerstoff und Impfstoff gehören nicht in Privateigentum. Denn während die
       deutsche Planwirtschaft in der nächsten Woche die Biergärten öffnet,
       ersticken in Indien die Kranken. Die Coronanachrichten werden in der
       Zeitung weiter nach hinten wandern. Aber das Virus wird sich nicht so
       leicht verdrängen lassen wie andere Krisen. Mutanten brauchen keine
       Schlauchboote.
       
       9 May 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Indiens-Gesundheitssystem-in-der-Krise/!5765107
 (DIR) [2] https://www.deraktionaer.de/artikel/aktien/linde-auf-rekordjagd-das-sagen-die-experten-zur-rallye-20228115.html
 (DIR) [3] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wann-kommt-der-digitale-sozialismus-17317735.html?premium
 (DIR) [4] https://dietzberlin.de/produkt/die-unsichtbare-hand-des-plans/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kersten Augustin
       
       ## TAGS
       
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