# taz.de -- Gewaltausbruch in Nigeria: „Am Rande des Zusammenbruchs“
       
       > In Nigeria erfasst Gewalt das ganze Land, nicht mal die Hauptstadt Abuja
       > gilt mehr als sicher. Präsident Buhari steht unter Druck wie nie zuvor.
       
 (IMG) Bild: Hat nur Phrasen als Antwort: Nigerias Präsident Muhammadu Buhari
       
       COTONOU taz | Nigerias Präsident [1][Muhammadu Buhari], seit 2015 an der
       Macht, steht unter Druck wie nie zuvor. Der Grund: Längst ist ganz Nigeria
       von [2][Unsicherheit und Gewalt] betroffen. Im Middle Belt kommt es zu
       Konflikten zwischen Farmern und Viehhirten; im Südosten werden
       Soldat*innen und Polizist*innen von Bewaffneten einer
       separatistischen Bewegung erschossen; der Nordwesten verzeichnet die
       höchste Entführungszahl, während die Terrormiliz [3][Boko Haram] Anschläge
       im Nordosten verübt und sich erneut ausbreitet. Anfang Mai protestierten
       Eltern in der Hauptstadt Abuja und in der Provinzhauptstadt Kaduna, in der
       es im März und April erneut zu Entführungen von Studierenden gekommen war.
       
       „Nigeria steht am Rande des Zusammenbruchs“, warnten am Sonntag die
       katholischen Bischöfe des Landes in einem Appell. Die Regierung verfolge
       eine Politik, die im Volk „Hass, Misstrauen und Spaltung“ säe, während
       immer mehr Nigerianer*innen ums tägliche Überleben kämpfen und
       schutzlos blieben.
       
       Gani Adams, der höchste traditionelle Führer des Yoruba-Volkes um Nigerias
       größte Stadt Lagos, warnte am Wochenende vor einer „Desintegration Nigerias
       im Krieg“, was man Buhari nicht verzeihen werde: „Schulen schließen,
       Kirchen und Moscheen werden nicht verschont, Banditen führen das Land in
       den Abgrund und dem Präsidenten fällt dazu anscheinend nichts ein.“
       
       Ein Bündnis von 127 zivilgesellschaftlichen Gruppen, das für das erste
       Quartal 2021 2.000 Tote aufgrund politischer Gewalt zählt, forderte Buharis
       Amtsenthebung, sollte er dem Blutvergießen kein Ende setzen. Die Aktivisten
       planen Massenproteste und am 28. Mai einen Tag der „Trauer und Erinnerung
       an die Opfer von Massengreueltaten“.
       
       ## Der Präsident reagiert nur mit Phrasen
       
       Nigerias Repräsentantenhaus fordert einen Sicherheitsgipfel als „letzte
       Chance“ für den Präsidenten, so Dachung Bagos, Vertreter der
       oppositionellen People’s Democratic Party (PDP) aus dem Bundesstaat
       Plateau. Falls nicht, hat er in einem TV-Interview gesagt, komme es zu
       einem Amtsenthebungsverfahren. Wenige Tage zuvor sagte Senator Smart
       Adeyemi, der Buharis regierendem All Progressives Congress (APC) angehört,
       dass die Sicherheitslage nie so schlimm war, schlimmer noch als der
       Biafra-Krieg.
       
       Laut Sani Bello, Gouverneur des Bundesstaates Niger, hat Boko Haram bereits
       in Kaure seine Flagge gehisst. Der Ort liegt tief in Zentralnigeria, 900
       Kilometer von Maiduguri entfernt, Ursprungsort der islamistischen Miliz. Es
       wäre ein Beleg dafür, dass sich die Terrorgruppe weiter ausbreitet und
       mit lokalen kriminellen Banden kooperiert.
       
       Laut Sani Bello ist nicht einmal mehr Nigerias Hauptstadt Abuja sicher. Die
       dort basierte Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische
       Wirtschaftsgemeinschaft) ruft ihre Mitarbeiter*innen zu besonderer
       Vorsicht auf: Reisen, Restaurantbesuche und Großveranstaltungen sollen
       gemieden werden.
       
       Buhari selbst reagiert auf die Kritik wie so oft mit Phrasen. Am Wochenende
       warnte er über seinen Sprecher die Jugend davor, sich für Gewalt gegen den
       Staat benutzen zu lassen: „Wenn wir die Institutionen angreifen, die uns
       bewachen, wer wird uns schützen?“ Dabei ist gerade der Mangel an Schutz für
       die Menschen das Problem. In Großstädten werden die Compounds der Reichen
       von der Polizei bewacht, während anderswo ganze Landstriche schutzlos sind.
       Die Tatorte der aktuellen Gewalt liegen meist in ländlichen, ungesicherten
       Regionen.
       
       ## Auf bewaffnete Gruppen zugehen oder nicht?
       
       Anfang Mai ließ Buhari durch den nationalen Sicherheitsberater Babagana
       Monguno – nigerianische Medien bezeichnen ihn als „lahme Ente“ –
       bekanntgeben, dass man nicht ruhen werden, bis die Sicherheitslage sich
       verbessert habe. Doch Ende Januar hatte er bereits die Armeespitze
       ausgewechselt. Verändert hat das bisher aber nichts.
       
       Nach Einschätzung des einstigen Senators Shehu Sani aus Kaduna müsse die
       Sicherheitsinfrastruktur an Nigerias schnell wachsende Bevölkerung
       angepasst werden. Diese wächst jährlich um etwa 2,5 Prozent und beträgt
       aktuell rund 219 Millionen. Auch herrscht Uneinigkeit darüber, wie mit
       Entführungen umgegangen werden soll. Buhari lehnt Verhandlungen ab; andere
       Politiker*innen haben durchaus Sympathien dafür, mit bewaffneten
       Gruppen zu sprechen.
       
       Als Vorbild sehen sie das 2009 gestartete Amnestieprogramm für das ölreiche
       Niger-Flussdelta, wo es in den frühen 2.000er Jahren zu zahlreichen
       Entführungen durch Rebellen kam, bis eine Amnestie und Demobilisierung
       folgte. Es heißt, dass dadurch Waffen und Munition von 29.000 Exkämpfern
       sichergestellt wurden. Langfristigen Frieden hat das aber nicht gebracht.
       Die Gegend bleibt vom Öl verschmutzt, ist kaum sicherer als früher und
       zahlreichen jungen Menschen fehlt bis heute eine Perspektive. Seit 2019
       steigt die Gewalt wieder an.
       
       Die Foundation for Partnership Initiatives in the Niger Delta (PIND)
       verzeichnet derzeit vor allem Angriffe auf die Polizei. Anfang April war
       mehr als 1.800 Gefangenen der Ausbruch aus dem Gefängnis der Stadt Owerri
       gelungen. Dahinter könnte der paramilitärische Flügel von IPOB, der
       separatistischen „Bewegung der Indigenen Menschen von Biafra“ von Nnamdi
       Kanu, stecken. Kanu fordert seit Jahren die Spaltung Nigerias und
       verbreitet dabei auch rassistische Äußerungen. Am vergangenen Wochenende
       wurden in der Region 12 Polizisten bei Angriffen auf Polizeistationen
       getötet.
       
       11 May 2021
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Gänsler
       
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