# taz.de -- Die vitalen Nacktmulle: Lockdown als Staatsform
       
       > Wir sind erst seit Monaten im Lockdown, Nacktmulle schon immer. Von ihnen
       > kann der Mensch lernen – über Gesundheit und das Altwerden.
       
 (IMG) Bild: So weit ist es schon gekommen: der Nacktmull als Vorbild
       
       Keiner rein, keiner raus. China hat es schon Anfang letzten Jahres
       bewiesen, Spanien Ende März: Ein harter Lockdown bringt’s. Denn wer sich
       wegschließt, fängt sich keine Keime ein. Was unsereins derzeit hochgradig
       an die Nieren geht, machen Nacktmulle schon immer so – und sind deshalb für
       die Wissenschaft hochgradig interessant, nicht erst seit Corona. Was
       Gesundheit und Altwerden betrifft, sind uns die rattenähnlichen Tiere
       nämlich viele Schritte voraus.
       
       Nacktmulle leben unter der Erde Ostafrikas, in langen Tunnelsystemen. Sie
       hören nicht viel, sehen nicht viel – und auch nicht sonderlich schön aus.
       Aber man sieht sie ja sowieso nicht. Nur die paar Exemplare, die im Zeichen
       der Wissenschaft durch Acrylglasröhren watscheln, etwa im Keller des
       Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin, bekommen
       Menschen zu Gesicht. Dort gehen die Tiere in gut gewärmten Glaskästen ihren
       Nacktmullgeschäften nach. Ein Stück Süßkartoffel von hier nach dort tragen.
       Ein bisschen Möhre von dort nach hier.
       
       In Laboren wie diesen fand man zum Beispiel heraus, wie sozial diese
       erstaunlichen Säugetiere organisiert sind. Nacktmulle leben in Staaten, wie
       wir es sonst nur von einigen Insekten kennen. In einer Kolonie mit bis zu
       300 Tieren arbeiten Soldaten, Bauarbeiter, Ammen, Reinemachkräfte –
       angeführt von einer Königin.
       
       Thomas Hildebrandt ist seit Mitte der Neunziger Nacktmullfan. „Ich habe
       eine trächtige Königin mit Ultraschall untersuchen dürfen“, erzählt der
       Wissenschaftler. „Damals war mir noch nicht klar, was für Sonderlinge das
       sind.“ Die allererste Kolonie hat Hildebrandt 2008 nach Berlin gebracht.
       Von Kollegen aus Albuquerque, New Mexico, im Tausch gegen ein
       Elefantenbaby. Oder besser gesagt: im Tausch gegen die erfolgreiche
       Besamung einer Elefantenkuh. Diese kostbare allererste Königin musste nun
       abdanken.
       
       Zwanzig Jahre hat sie mit eiserner Hand regiert. Sie ging über Leichen, um
       ihren Thron zu verteidigen. Dann wurde sie um die Ecke gebracht – ohne
       große Gegenwehr. Ein gezielter Biss in die Wirbelsäule besiegelte ihr
       Schicksal. Thomas Hildebrandt hat schon wesentlich größere Blutbäder
       erlebt. „Offenbar hatte die Königin keine Verbündeten mehr an ihrem Hof“,
       sagt der Tiermediziner. „Sie war ja auch schon sehr alt.“ Das
       Staatsoberhaupt hatte kaum noch Backenzähne.
       
       ## Zähne wachsen außerhalb der Schnauze
       
       Ordentliche Zähne brauchen Nacktmulle aber. Zum Fressen, zum Schleppen, zum
       Kämpfen und natürlich zum Graben. Dafür tragen sie ihre gewaltigen
       Schneidezähne außerhalb ihrer Schnauze. „Was wirklich praktisch ist“, sagt
       Hildebrandt, „wenn man beim Buddeln nicht ständig auf Dreck herumkauen
       will.“
       
       Nach dem Sturz der Königin herrschte eine Woche lang Anarchie. Thomas
       Hildebrandt hatte keine Ahnung, welche Mullin die Thronfolge übernehmen
       würde. Erst ein Ultraschall gab Aufschluss: Die Königsmörderin selbst führt
       das Matriarchat nun an. Das einzige Tier, das eine leichte Wunde an der
       Schnauze davongetragen hatte, ist trächtig.
       
       Unter dem Boden der Savannen und Steppen blieben Nacktmulle die längste
       Zeit unbemerkt. Die Tiere sind unter Tage sicher in ihren Bauten, ohne
       Kontakt zur Außenwelt. Harter Lockdown, für immer. Bei den äthiopischen
       Süßkartoffelbauern sind die Tiere als unheimliche Teufel bekannt. Nicht
       etwa, weil sie ihnen die Ernte wegfressen würden. Im Gegenteil, die
       cleveren Mulle nagen Knollen und Wurzeln immer nur so weit an, dass sie
       auch wieder nachwachsen. Stattdessen versetzen die kleinen Nager die
       Landwirte in Angst und Schrecken, weil sie versehentlich ihre Kamele
       umbringen.
       
       Kein Scherz. Nacktmulle graben mit ihren Zähnen, und das ziemlich schnell
       und rabiat. Wenn sie sich mit ihren Hauern in Richtung Erdoberfläche
       beißen, erwischen sie ab und an auch mal einen dort herumdösenden
       Paarhufer. Und weil die Zähne der Nacktmulle dermaßen mit Bakterien
       verseucht sind, fangen sich die Kamele lebensgefährliche Blutvergiftungen
       ein.
       
       Lange Zeit hatte die Wissenschaft keinen blassen Schimmer von den Mullen.
       Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie von einem deutschen Biologen
       beschrieben. Allerdings dachte der, dass es sich um Jungtiere anderer
       felltragender Nager handeln würde. Über hundert Jahre später wurden die
       Nacktmulle sozusagen zum zweiten Mal entdeckt. Seitdem werden die
       Geheimnisse dieser Tiere nach und nach gelüftet.
       
       ## Privileg, sich nicht anpassen zu müssen
       
       Thomas Hildebrandt sitzt in seinem Büro vor dem Rechner und zeigt Videos,
       die er in Äthiopien aufgenommen hat. Eines zeigt die Farmer und ihre Felder
       mit ein paar Löchern im rotbraunen Boden. Auf einem anderen ist die Erde zu
       sehen, wie sie in hohem Bogen aus den Löchern katapultiert wird. Viel mehr
       Hinweise auf die Nacktmulle sind über Tage nicht einzufangen.
       
       Dann folgt ein Video aus dem Inneren eines Mulltunnels, das der Forscher
       mit einem Endoskop gefilmt hat. Die Nacktmulle halten das Instrument für
       eine Schlange, ihre einzige Fressfeindin. Man kann sehen, wie ein großer,
       dicker Nacktmull an die Front geschickt wird. Er stellt sich dem Endoskop
       in den Weg. Seine Artgenossen verschließen hinter ihm den Gang. Der Dicke
       greift das Endoskop an, bereit, sich für sein Volk zu opfern. Hildebrandt
       tritt mit seinem teuren Messinstrument den Rückzug an.
       
       Die Mulle im Labor des Berliner IZW müssen keine Schlangenattacken
       abwehren. Sie tapsen durch die durchsichtigen Röhren, mit Chips unter der
       Haut, durch Lichtschranken registriert und von Kameras überwacht. So wollen
       die Forschenden mehr über das Sozialverhalten der Tiere lernen. Inzwischen
       sind die meisten Rollen und Aufgaben bekannt. Wer den Bau sauber hält, wer
       Nahrung beschafft, wer sich um den Nachwuchs kümmert, wer die Königin
       besteigen darf. Manche Nacktmulle dienen als lebende Wärmekissen. Wird es
       den anderen zu kühl, rennen sie ein paar Runden um den Block und heizen
       dann, außer Puste, mit ihrer eigenen Körperwärme das Nest wieder auf.
       
       Besonders faszinierend ist aber die Königin. Steigt ein Weibchen zum
       Staatsoberhaupt auf, verändert es sein Äußeres. Die Haut wird heller,
       manche Knochen beginnen zu wachsen. „Sie produziert ständig Biomasse und
       wird immer länger“, erklärt Hildebrandt. So passen gut zwei Dutzend Babys
       in die Königin. „Sie bricht biologische Gesetze. Wir haben noch längst
       nicht alle Zusammenhänge begriffen.“
       
       Der grundlegende Ursprung der biologischen Andersartigkeit könnte im harten
       Lockdown liegen. In ihren Tunneln müssen sich die Nacktmulle nicht an
       veränderte Umwelteinflüsse gewöhnen, während sich der Mensch und die
       meisten anderen Lebewesen ständig anpassen müssen. Wir tun das, indem wir
       unser Erbgut mischen und neu ausrichten. Wir produzieren neue Generationen.
       Die können sich dann mit den neuen Bedingungen da draußen herumschlagen.
       Rein biologisch gesehen ist unser Lebenssinn danach vorbei. Bei den
       Nacktmullen ist das anders. Sie genießen das Privileg, sich nicht anpassen
       zu müssen. Sie können es sich leisten, lange zu existieren.
       
       ## Quasi Methusalem
       
       Tatsächlich können Nacktmulle unheimlich alt werden. Gut zwei bis drei
       Jahrzehnte sind es. Verglichen mit anderen Nagetieren wie Meerschweinchen,
       Hamster und Ratte ist der Mull quasi Methusalem, und das ganz ohne
       Alterserscheinungen. Offenbar können Nacktmulle ihre Zellen besser und
       länger reparieren, auch die gebildeten Proteine bleiben stabil. Kommt
       hinzu: Eine langkettige Blutzuckerverbindung, die Zellen daran hindert,
       sich in Krebszellen zu verwandeln, bleibt in den kleinen Nagern konstant
       hoch. Nacktmulle sterben höchstens im Säuglingsalter, weil sie nicht genug
       Futter abbekommen, oder später an Bisswunden, aber nicht an Krebs oder
       Infekten.
       
       Darüber hinaus haben sie ein vermindertes Schmerzempfinden. Sie nehmen
       äußere Reize wie Hitze oder Bisse zwar wahr, jedoch scheint der Schmerz
       auszubleiben, da in der Haut das dafür verantwortliche Molekül fehlt.
       Kurzum: Was sich auf zellularer Ebene in den Nacktmullen abspielt, geht in
       Richtung Superheldenkräfte.
       
       Inzwischen sei der Nacktmull zum Star am biomedizinischen Forschungshimmel
       aufgestiegen, sagt Thomas Hildebrandt. Etliche Institute auf der ganzen
       Welt forschen an den Tieren; die einen tauschen ihre Ergebnisse aus, die
       anderen nicht.
       
       Im Verborgenen bleibt etwa die Mullforschung von Googles
       Biotech-Unternehmen Calico, das menschliches Altern untersucht. Die
       Forscher hoffen, die mullischen Mechanismen zu durchschauen und auf unsere
       Körper zu übertragen. Aber bis klar ist, wie das funktioniert mit Krebs
       heilen, Knochen wachsen lassen, und die Lebensdauer verzehnfachen, dauert
       es wohl noch eine Weile.
       
       9 May 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Philipp Brandstädter
       
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