# taz.de -- Migration über das Mittelmeer: Geflüchtet oder geschleust?
       
       > In Griechenland ist ein Syrer zu 52 Jahren Haft verurteilt worden. Ein
       > Gericht auf Lesbos behandelte den Mann als Schleuser – kein Einzelfall.
       
 (IMG) Bild: Ankunft von Geflüchteten in der EU: Lesbos, im November 2019
       
       BERLIN taz | Nur fünfzehn Minuten Autofahrt liegen zwischen dem
       eigentlichen Wohnort von K.S. im Flüchtlingslager Schisto in der
       griechischen Hafenstadt Piräus und dem Korydallos-Gefängnis bei Athen. Doch
       wegen der Coronabeschränkungen hat seine Ehefrau ihn noch nicht in der Haft
       besuchen können. Ein Jahr und zwei Monate ist es her, dass K.S. von der
       griechischen Küstenwache festgenommen wurde. Das syrische Ehepaar war zuvor
       mit drei kleinen Kindern in einem Flüchtlingsboot von der Türkei aus in
       griechische Gewässer gelangt. K.S. soll das Boot gesteuert haben, mit dem
       die Familie und weitere Geflüchtete an jenem Morgen die EU-Außengrenze
       überquerten.
       
       Obwohl K.S. die Vorwürfe abstreitet und es nach Angaben seiner Anwälte
       keine Beweise dafür gibt, wurde er am 23. April von einem Gericht auf
       Lesbos zu 52 Jahren Haft und einer Geldstrafe von 242.000 Euro verurteilt.
       Er wurde nicht nur der illegalen Einreise für schuldig befunden, sondern
       auch der Beihilfe zur illegalen Einreise – also Schleuserei. Dafür gibt es
       in Griechenland zehn Jahre Gefängnis, und ein weiteres Jahr für jede Person
       an Bord des Bootes.
       
       52 Jahre Haft wegen einer Grenzüberquerung – das klingt absurd, das Urteil
       ist jedoch kein Einzelfall. Griechenland hat im europäischen Vergleich eine
       der strengsten Rechtslagen in Sachen Schleuserei, wohl aufgrund seiner
       geographischen Lage an der EU-Außengrenze. Betroffen von den
       unverhältnismäßig hohen Strafen seien jedoch nicht nur die tatsächlichen
       Schleuser, kritisieren Menschenrechtsorganisationen. Fälle wie der von K.S.
       zeigten, wie die griechischen Behörden Flucht kriminalisierten, indem sie
       Asylsuchende selbst in unfairen Gerichtsprozessen zu Schleusern erklärten.
       
       Die Überfahrt am 1. März 2020 war nicht der erste Versuch der Familie S.,
       die EU zu erreichen. Die Familie hatte Syrien im Jahr 2019 in die Türkei
       verlassen und hatte von dort aus anschließend dreimal erfolglos versucht,
       über die Ägäis nach Griechenland zu gelangen. Beim letzten Versuch im März
       vergangenen Jahres gab es einen entscheidenden Unterschied: Der türkische
       Staatspräsident Recep Tayyip [1][Erdoğan hatte soeben die Grenzen
       geöffnet], um Druck auf die EU auszuüben, die Türkei stärker bei der
       Aufnahme syrischer Geflüchteter zu unterstützen. Tausende Geflüchtete
       drängten daraufhin in die EU.
       
       ## Der Prozess dauerte vier Stunden
       
       „Die türkische Küstenwache forderte uns auf, zu fahren“, sagte Ehefrau L.S.
       in einem Videoanruf Anfang Mai gegenüber der taz. Als die griechische
       Küstenwache auftauchte, sei der türkische Schlepper ins Wasser gesprungen
       und zurückgeschwommen. „Er drohte meinem Mann, uns alle zu töten, falls wir
       umkehren sollten.“
       
       Das Boot, erinnert sich L.S., sei von Anfang an instabil gewesen und habe
       gedroht zu sinken. Deshalb habe sie ihren Mann gebeten, die Küstenwache um
       Hilfe zu bitten. Er sei daraufhin ins Wasser gesprungen und auf deren Boot
       zugeschwommen. „Sie legten ihm Handschellen an und nahmen ihn mit“, sagt
       L.S. „Sie behaupteten, dass er das Boot gesteuert hätte. Aber er wollte nur
       unsere Kinder retten.“ Als die griechische Küstenwache auftauchte, habe ihr
       Mann zwei der kleinen Söhne an der Hand gehalten, sie den dritten. „Wie
       soll er der Fahrer sein? Welcher Schleuser würde seine Frau und Kinder
       mitbringen?“, fragt sie und weint.
       
       Seit der Festnahme ihres zwei Jahre älteren Mannes hat die 25-jährige
       Syrerin K.S. nur einmal gesehen. Das war Ende April im Gericht von Mytilini
       auf Lesbos, am Tag des Prozesses, der nur vier Stunden dauerte. K.S. sei
       kollabierte, als er seine Familie zum ersten Mal seit 13 Monaten wiedersah,
       erinnert sich seine Frau. Sie selbst sei während ihrer Zeugenaussage in
       Tränen ausgebrochen.
       
       Laut den Anwält:innen des Legal Center Lesvos, die den Syrer verteidigt
       haben, sagten außer ihr nur eine Vertreterin der Organisation Aegean
       Migrant Solidarity und ein Mitarbeiter der griechischen Küstenwache aus.
       Dieser habe zwar in einem ursprünglichen Statement gegenüber der Polizei
       angegeben, dass K.S. das Boot gesteuert habe. Vor Gericht habe er das
       jedoch nicht bestätigt, erklärt Vicky Angelidou, eine der beiden
       Anwält:innen von K.S., in einem Telefonat. Der Mitarbeiter habe K.S.
       lediglich beschuldigt, das Boot mit den Geflüchteten beschädigt zu haben.
       „Es gab überhaupt keine Beweise,“ sagt Angelidou.
       
       Dabei gibt es genügend potentielle Zeug:innen, die den Vorfall beobachtet
       haben und aussagen könnten: Laut Gerichtsurteil wagten 42 weitere Menschen
       auf demselben Boot die Fahrt nach Griechenland. Viele kamen aus dem Kongo
       oder Somalia, erinnert sich L.S., Syrer:innen seien außer ihrer Familie
       keine dabei gewesen. „Ich habe alles versucht, sie dazu zu bringen, als
       Zeugen auszusagen, zu bestätigen, dass mein Mann nicht der Schleuser war“,
       sagt L.S.. Doch niemand sei dazu bereit gewesen, aus Angst selbst angeklagt
       zu werden.
       
       Eine berechtigte Sorge: Laut einem gemeinsamen [2][Bericht] der
       Organisationen Aegean Migrant Solidarity, Borderline Europe und
       bordermonitoring.eu saßen Anfang 2019 fast 2.000 Personen wegen Beihilfe zu
       illegaler Einreise in griechischen Gefängnissen. In vielen Fällen sei die
       Urteilsbegründung auf Vorurteilen und einer undifferenzierten Gesetzgebung
       aufgebaut, kritisiert der Bericht. Denn selbst wer tatsächlich ein Boot
       gesteuert habe, sei nicht automatisch ein Schleuser.
       
       „Mitglieder von Netzwerken, die Überfahrten von Migrant*innen nach
       Europa organisieren, wissen selbst genau, dass das Steuern eines Bootes
       nach Griechenland mit einem massiven Risiko verbunden ist. Sie würden die
       Position des Fahrers selbst niemals einnehmen,“ stellen die Organisationen
       fest, die seit 2014 48 Gerichtsverfahren auf den griechischen Inseln
       beobachtet haben. Keines davon habe mit einem Freispruch geendet, im
       Durchschnitt seien die Angeklagten vielmehr zu knapp 20 Jahren
       Freiheitsstrafe verurteilt worden.
       
       ## Profit keine Voraussetzung für Schleuserei
       
       In einigen Fällen habe es sich bei den Fahrern um Geflüchtete gehandelt,
       die sich die Überfahrt für sich selbst und ihre Familien nicht leisten
       konnten und für einen günstigeren Preis das Steuer übernahmen. In anderen
       Fällen seien Menschen als Schleuser identifiziert worden, nur weil sie eine
       andere Nationalität gehabt hatten als die Mehrheit der Personen an Bord.
       Laut griechischem Recht ist finanzieller Profit keine Voraussetzung für
       Schleuserei, sondern lediglich ein erschwerender Umstand. Lebenslange
       Haftstrafen und horrende Geldstrafen drohen also auch jenen, die aus
       humanitären Gründen Migrant:innen helfen oder selbst auf der Flucht
       sind.
       
       Darüber hinaus stellen die Verfasser:innen des Berichts fest, dass
       Prozesse wegen illegaler Einreise und Beihilfe zur illegalen Einreise in
       Griechenland oft nicht rechtstaatlichen Standards entsprechen. So hätten
       die beobachteten Verhandlungen nur zwischen 15 und 75 Minuten gedauert und
       auf oberflächlichen Ermittlungen basiert. Es habe keine oder mangelhafte
       Übersetzung durch Dolmetscher:innen gegeben und den Angeklagten sei
       erst eine halbe Stunde vor Prozessbeginn ein rechtlicher Beistand
       zugewiesen worden.
       
       Auch im Fall von K.S. habe es Unregelmäßigkeiten gegeben, berichtet das
       Legal Center Lesvos in einer [3][Mitteilung]. „Während der Vorverhandlungen
       und des Verhörs erhielt K.S. einen Farsi-Dolmetscher, obwohl er Arabisch
       spricht“, heißt es dort. „Trotz der Einwände seiner Anwält:innen
       entschied das Gericht, diese vermeintlichen Aussagen zu berücksichtigen.“
       
       Die Anwält:innen des Legal Center Lesvos kritisieren auch, dass der
       einzige Belastungszeuge, der Offizier der Küstenwache, in seiner
       ursprünglichen Polizeiaussage in der dritten Person über die Vorfälle auf
       dem Meer gesprochen habe, als sei er selbst gar kein Augenzeuge gewesen.
       
       Das Gericht hat bisher keine Urteilsbegründung veröffentlicht. Auf
       mehrfache Nachfrage der taz antwortete es nicht. K.S.' Anwält:innen sind
       gegen das Urteil in Berufung gegangen. Eine Entwicklung in dem Verfahren
       erwarten sie jedoch erst in einem Jahr. So lange bleibt der Syrer in Haft,
       während seine Familie nur wenige Kilometer entfernt in einem
       Flüchtlingslager festsitzt.
       
       Seine Frau leidet eigenen Angaben zufolge unter schweren Depressionen. Auf
       dem Heimweg mit der Fähre nach dem Gerichtsprozess habe sie sich
       vorgestellt, ins Wasser zu springen und sich das Leben zu nehmen, erzählt
       sie. „Aber ich habe drei Kinder. Wer soll sich um sie kümmern?“ Es wäre
       vielleicht besser gewesen, denke sie manchmal, wenn die ganze Familie bei
       der Überfahrt nach Griechenland ertrunken wäre.
       
       1 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Tuerkei-geht-ueber-alle-Grenzen/!5667983
 (DIR) [2] https://www.borderline-europe.de/eigene-publikationen/stigmatisiert-inhaftiert-kriminalisiert-der-kampf-gegen-vermeintliche-schleuser?l=en
 (DIR) [3] https://legalcentrelesvos.org/2021/05/10/justice-for-k-s/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hannah El-Hitami
       
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