# taz.de -- Autorin über Tel Aviv unter Beschuss: Mein Kind singt heut Raketenlieder
       
       > So einen massiven Beschuss wie dieser Tage hat man selbst in Tel Aviv
       > noch nicht erlebt. Eindrücke aus den Nächten im Bunkerraum.
       
 (IMG) Bild: Der israelische Iron Dome schießt Raketen aus dem Gazastreifen ab
       
       Mein Kind singt heut Raketenlieder. Er steht mir im Wohnzimmer gegenüber,
       einen Ball aus Schaumstoff in den kleinen patschigen Händen, und singt:
       „Raketenalarm brauchen wir nicht, wir wollen nur Raketen aus dem All. Die
       Bösen dürfen nicht zu uns. Nur Raketen aus dem All.“
       
       Ich fange den Ball auf und schaue ihn besorgt an. Er wirkt fröhlich. Er ist
       so ein kleines Kämpferkind. Einer, der nie nachgibt und nie verhandelt,
       Kopf durch die Wand und so. Aber dass er das jetzt singt, das kann doch
       nicht gesund sein.
       
       Er ist vier. Ich nenne ihn seit seiner Geburt „meine Rakete“, weil er
       damals so schnell herauskam, dass ich nicht mal mehr Zeit hatte, eine PDA
       zu bekommen. Wir haben deshalb viele Raketenbücher. Ich nenne ihn auch
       gerne meinen „Israeli“, weil mein anderer Sohn, 7, so ordentlich, ruhig und
       rücksichtsvoll „deutsch“ ist und der Kleine eben eher Chaos, höchst
       unterhaltsam und warmherzig, „israelisch“. Und jetzt steht er hier und
       versucht zu verstecken, wie viel Angst er eigentlich hat. Und brüllt sein
       Raketenlied umso lauter. Ich verstehe ihn. Auch ich verstecke meine Angst.
       
       Als in dieser Woche zum ersten Mal seit langer Zeit [1][wieder mal die
       Sirenen heulten] und wir uns im Bunkerraum einsperrten, der immerhin
       praktischerweise auch das Schlafzimmer unserer Kinder ist, da war die Angst
       noch klein. Ich kenne diese Raketenalarme. Ich lebe seit 2010 in Tel Aviv,
       ich habe alle möglichen Kriege mitgemacht. Als 2014 das letzte Mal so
       richtig viele Raketen über unsere Köpfe flogen, saß ich mit meinem
       erstgeborenen Baby im Arm im Bunker. Allein, weil mein Mann als Major in
       Reserve eingezogen worden war. Und ja, das war unheimlich, aber noch
       unheimlicher waren die „Juden ins Gas“-Demonstrationen in Berlin.
       
       Damals wie auch später schoss die Hamas ein, zwei, vielleicht eine Handvoll
       Raketen gleichzeitig. Nichts, was der Iron Dome nicht mit Leichtigkeit
       abfangen könnte. Aber diese Mainacht vor ein paar Tagen war anders. Das
       wurde uns schnell klar. Das ganze Haus schien zu wanken, es ächzte und
       rumpelte, überall knallte es und die Explosionen hörten gar nicht mehr auf.
       Auf die eine Sirene folgte die nächste, und dann noch eine. Wir blieben im
       Bunker. Eine gute halbe, dreiviertel Stunde.
       
       ## Die Panikattacke rollt an
       
       Ich habe so etwas noch nie erlebt, sagte auch mein Mann. Und der war
       immerhin schon beim Golfkrieg dabei. Er wollte Händchen halten, ich nur
       mich selbst. Ich versuchte die Panikattacke abzuwehren, von der ich spürte,
       dass sie anrollte. Bloß nicht laut sein, bloß nicht die Kinder aufwecken.
       Atmen, ein und aus. Und dann beten. Ich bin zwar vor vielen Jahren zum
       Judentum übergetreten, aber ehrlicherweise kein großer Beter. Und plötzlich
       höre ich mich das Schma Israel sagen. Immer wieder. Die Kinder schlafen.
       Auch dafür bedanke ich mich bei G-tt.
       
       Bei den nächsten massiven Angriffen nachts um drei haben wir nicht so viel
       Glück. Die Kinder wachen beide auf. Und mein kleiner „Deutscher“, der beim
       letzten großen Krieg noch ein Baby war, stellt nun viele Fragen. Das heißt,
       eigentlich immer nur eine, immer wieder: Warum schießen die auf uns?
       
       Ich schaue auf den Boden und spüre trotzdem, wie er mich mit großen Augen
       ansieht. Im Dunklen kann man seine schönen großen braunen Augen nicht
       sehen. Ich denke, wenn die da drüben, die in Gaza, seine schönen braunen
       Augen jetzt sehen könnten, so voller Angst, dann würden die doch keine
       Raketen mehr schießen. Was natürlich kompletter Unsinn ist, so funktioniert
       Krieg ja nicht. Aber wenn man so verzweifelt mitten in der Nacht in einem
       stickigen dunklen Zimmer sitzt, die verschwitzen Kinderhände in den
       eigenen, denkt man solche Sachen eben. Da ist man nicht voller gut
       sortierter Gedanken.
       
       ## Dank für den Iron Dome
       
       Da kann man nicht mehr analysieren, dass mit dem Iron Dome, der ja wirklich
       ganze neunzig Prozent der Raketen abfängt, und noch dazu in einem
       Bunkerraum sitzend, der dafür gemacht ist, dass eine Rakete nicht durchs
       Metall dringen kann, die Todesgefahr eigentlich recht gering ist. Bessere
       Chancen als beim Autofahren hat man da auf jeden Fall. Aber all das zählt
       eben nicht, wenn sich die Sirene im Gehirn verirrt und dieses Heulen nicht
       mehr rauskommt.
       
       Ich drücke die Kinderhand und sage schließlich: „Aber weißt du, wir dürfen
       nicht vergessen, da in Gaza sitzen jetzt auch kleine Kinder im Dunklen. Und
       die haben genauso viel Angst wie du. Und die haben nicht mal einen Bunker
       oder ein Raketenabwehrschild.“
       
       Meine Söhne schlafen irgendwann wieder ein. Ich liege wach und lausche
       ihren leisen Schlafgeräuschen. In solchen Momenten denke ich immer,
       vielleicht sollten wir doch lieber in Deutschland leben. Wie ruhig und grün
       wir es dort hätten. Aber dann fallen mir [2][all die Hassnachrichten] ein,
       die meine jüdischen Freund*innen in Deutschland gerade bekommen. Und ich
       habe nun einmal eine jüdische Familie. Ja, eine israelische.
       
       ## Die Vielfalt lieben
       
       Wir lieben unser Leben hier, wir lieben unser Wetter, wir lieben unsere
       Menschen, wir lieben unsere Vielfalt. Wir lieben, dass wir hier wir selbst
       sein können und, ja auch, dass es eine Armee gibt, die uns als Jüdinnen und
       Juden wirklich schützt. Und wir müssen doch auch hier bleiben, damit das
       hier nicht alles völlig vor die Hunde geht. Wenn wir alle abhauen, all die,
       die ein normales Angstverhalten zeigen, dann bleiben vielleicht nur noch
       die Verrückten. Und die erzählen ihren Kindern bestimmt nicht, dass ja auch
       in Gaza Kinder leben, die jetzt große Angst haben.
       
       Über diesen Gedanken schlafe ich irgendwann ein. Unterm Strich schaffe ich
       es in dieser Nacht vielleicht auf drei Stunden. Am nächsten Morgen scheint
       die Sonne in mein unendlich erschöpftes Gesicht und wir leben weiter.
       Machen Wäsche, den Abwasch, spielen und lesen. Wir leben weiter, denn etwas
       anderes können wir nicht tun.
       
       Das hier ist nun einmal unsere Heimat. Und irgendwann, das hoffe ich, wird
       der Kleine wieder seine gewohnten Lieder von Elefanten und Traktoren
       singen. Irgendwann, wenn der Krieg vorbei ist und Raketen wieder aus dem
       All kommen.
       
       14 May 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Eskalation-in-Nahost/!5772181
 (DIR) [2] /Palaestina-Demos-in-Berlin/!5766329
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Höftmann Ciobotaru
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Israel
 (DIR) Palästina
 (DIR) Raketen
 (DIR) Naher Osten
 (DIR) GNS
 (DIR) Literatur
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Gaza
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Antisemitismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Neuer Roman von Zeruya Shalev: Im Gefängnis der Kindheit
       
       Zeruya Shalevs Roman „Schicksal“ ist ein Familien- und Freiheitsdrama.
       Zugleich ist es eine Anklage gegen die Gewalt in der Geschichte Israels.
       
 (DIR) Antisemitische Demonstrationen: Seehofer für harte Reaktionen
       
       Nach antiisraelischen Demonstrationen in mehreren deutschen Städten rufen
       Seehofer und Steinmeier zum Durchgreifen gegen Antisemitismus auf.
       
 (DIR) Schwere Krise in Israel: Vom tiefsten Punkt
       
       Noch vor Kurzem schien in Israel eine ganz andere Politik möglich. Unser
       Autor hofft weiterhin auf eine bessere Zukunft, ohne Benjamin Netanjahu.
       
 (DIR) Krieg zwischen Israel und der Hamas: „Meine Sorge sind die Vertriebenen“
       
       10.000 Menschen in Gaza haben durch Israels Luftschläge ihre Wohnung
       verloren. Die Radikalisierung wächst, sagt der Chef des dortigen
       UN-Palästinenserhilfswerks.
       
 (DIR) Antisemitische Proteste in Deutschland: Es geht nicht um Israel
       
       Deutschland hat ein manifestes Antisemitismusproblem. Der Nahostkonflikt
       dient vielen als Vorwand, um den eigenen Judenhass rauszuschreien.
       
 (DIR) Antisemitismus in Deutschland: Synagogen als Ziel
       
       Antisemitische Vorfälle auf Anti-Israel-Demos häufen sich. Der Zentralrat
       der Juden fordert Solidarität, die Bundesregierung sichert Schutz zu.
       
 (DIR) 9. November und Antisemitismus: „Deutschland wird dir gefallen“
       
       Als Kind zog Rafael Seligmann mit den Eltern von Israel in die
       Bundesrepublik. Und erlebte Antisemitismus: den alten und den der Neuen
       Linken.