# taz.de -- Ostbeauftragter Marco Wanderwitz: Das alte Gespenst
       
       > Teile der Ostdeutschen seien für die Demokratie verloren, sagt der
       > Ostbeauftragte des Bundes. Versäumnisse der CDU werden dabei überspielt.
       
 (IMG) Bild: Zivilgesellschaftliche Bewegungen gab es in Rostock schon im Jahr 1992
       
       Mehr als 30 Jahre sind vergangen seit dem Untergang der DDR. Jenes
       Gespenst, das einst umging in Europa und sich im Ostblock zu materieller
       Macht emporschwang, ist nur mehr blasse Erinnerung. Trotzdem oder gerade
       deshalb eignet es sich noch immer hervorragend als Popanz.
       
       Läuft etwas schief im Osten – die Kommunisten sind schuld. Wie flach die
       Analyse ausfällt, wenn es darum geht zu erklären, warum zum Beispiel die
       AfD zwischen Ostsee und Erzgebirge so stark ist, stellte erst kürzlich der
       [1][Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU)], unter
       Beweis, als er im Gespräch mit der FAZ konstatierte, dass man es mit
       Menschen zu tun habe, „die teilweise in einer Form diktatursozialisiert
       sind, dass sie auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen“
       seien.
       
       Gewiss, das Erbe der DDR war einer lebendig demokratischen Verfasstheit des
       preisgünstig erworbenen Landstrichs östlich der Elbe nicht gerade
       zuträglich. Genauso wie die heftigen sozialen Verwerfungen im Laufe des
       Transformationsprozesses vielleicht nicht die allerbeste Werbung für das
       neue politische System und seine in großen Teilen importierten
       Repräsentant*innen waren.
       
       Beides kann aber nicht als alleinige Erklärung oder gar Entschuldigung für
       [2][den offen ausgelebten Rechtsradikalismus], nicht nur in der Wahlkabine,
       herhalten. Hier muss der gebürtige Sachse Wanderwitz auch und besonders
       seine eigene Partei befragen. Was hat sie außer der reflexhaften
       Verteufelung der DDR denn seit 1990 zur Heranbildung einer demokratischen
       Zivilgesellschaft beigetragen?
       
       Nicht, dass Wanderwitz’ Feststellung, dass es in den fünf Ostländern eine
       höhere Bereitschaft gibt, rechtsradikal zu wählen und es sich dabei nicht
       ausschließlich um ein paar verwirrte Proteststimmen handelt, empirisch
       falsch wäre. Nur kommt diese Erkenntnis ein paar Jahrzehnte zu spät. Nicht
       zuletzt die Parteifreund*innen des Ostbeauftragten, allen voran der
       langjährige sächsische Landesfürst Kurt Biedenkopf, leugnen zum Teil bis
       heute, dass es überhaupt ein Problem gibt. Immer war man besorgter um den
       Ruf der Region als um die Opfer rechtsradikaler Angriffe. Kritik an
       mangelnder Wehrhaftigkeit gegen Neonazis, antifaschistische Praxis gar, war
       schnell als ruhestörende Nestbeschmutzung abgetan.
       
       Ihre Vertreter*innen wurden misstrauisch beäugt und dem rechten Mob
       ausgeliefert. Die massiven Stahltüren der dünn gesäten alternativen
       Jugendzentren waren in jener Zeit nicht zum Schutz gegen gewöhnliche
       Einbrecher angeschafft worden. Von der sich entwickelnden rechtsradikalen
       Durchdringungen vieler Lebensbereiche wollte man, bis hinein in die
       CDU-geführten Landesregierungen, schlicht nichts wissen.
       
       ## Kein robustes Eingreifen
       
       Wanderwitz’, in diesem Kontext fast schon mutige Beschreibung des
       Offensichtlichen, der verfestigten rechtsradikalen Einstellungen in einem
       erheblichen Teil der Bevölkerung nämlich, ist also längst überfällig. Nur
       bietet sie nicht einmal den Hauch eines seriösen Erklärungsversuchs jener
       vermaledeiten antidemokratischen Neigung und bietet somit auch keine
       Perspektive zu ihrer Überwindung. So bleibt Wanderwitz nur, auf Nachfrage
       gleich ganze Alterskohorten für die Demokratie verloren zu geben, darunter
       selbstverständlich auch die Wähler*innen der Linkspartei, so viel
       Hufeisen muss anscheinend sein.
       
       Der CDU-Politiker kann am Ende nicht anders, als reichlich nebulös auf die
       nächste Generation zu hoffen. Nur, welche Generation soll das sein? Marco
       Wanderwitz wurde 1975 geboren und gehört damit selber, wie viele aktive
       Mitglieder und Wähler*innen der AfD, bereits jener Altersgruppe an, die
       für sich nur noch sehr eingeschränkt die DDR-Sozialisierung und das Trauma
       der heftigen Brüche der Wendejahre reklamieren kann. Sollen die heutigen
       Mittvierziger auch noch aussterben, bevor es im Osten mal vorangeht? Oder
       werden dann noch die Nazienkel den vermeintlich kommunistischen Großeltern
       zugerechnet?
       
       Der Unwille, robust einzuschreiten, als [3][die ersten Todesopfer] nach der
       Wende zu beklagen waren, als staatliche Organe die Nazitrupps gewähren
       ließen, während die ihre Fantasie der national-befreiten Zonen bis hin zum
       brutalen Straßenkampf nachhingen, hat eben nicht nur terroristische
       Strukturen wie den NSU befördert. Diese wohlwollende Gleichgültigkeit
       selbst gegenüber den schlimmsten Auswüchsen, hat wesentlichen Anteil an der
       Normalisierung eines Faustrechts, dass sich eher überraschend erst in den
       letzten Jahren in Wahlstimmen für eine rechtsradikale Partei übersetzte.
       
       Denn dass die sogenannten Baseballschlägerjahre der frühen 1990er
       kulturprägend sein würden, dass die von offizieller Seite sehenden Auges
       geduldete [4][Vertreibung linker Kräfte, zivilgesellschaftlicher
       Organisationen], Migrant*innen und überhaupt aller „Anderen“ eine
       nachhaltige Verrohung der politischen Landschaft zur Folge haben würde, war
       bereits damals absehbar. Spätestens nach Hoyerswerda und
       Rostock-Lichtenhagen wusste man, was da auf dem Boden brutaler Landnahme
       gedeihen würde.
       
       ## Fehlender Aufbau im Osten
       
       Vielleicht ließe sich Wanderwitz ergänzend korrigieren, dass nicht nur die
       Menschen nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind,
       sondern umgekehrt auch die Demokratie nicht so recht bei den Menschen. Was
       nicht zuletzt daran liegt, dass das westdeutsche Parteiensystem einfach
       übertragen wurde, ohne zu bedenken, dass die Mechanismen
       selbstverständlichen bürgerschaftlichen Engagements und
       außerparlamentarischer politischer Kritik eben wesentlich zum Funktionieren
       eines demokratischen Gemeinwesens gehören – diese im Osten aber erst hätten
       aufgebaut und gefördert werden müssen.
       
       Diese Defizite zu ignorieren und mit dem lapidaren Verweis auf die
       unverbesserlichen Demokratieverweigerer die eigenen Versäumnisse zu
       überspielen, ist dabei nicht nur Bequemlichkeit. Wanderwitz bedient
       absichtlich eine Erzählung, in der die Suche nach Gründen für Probleme
       lieber in eine Gespenstergeschichte, denn in fundierte Selbstkritik mündet.
       Das mag für den Wahlkämpfer – Marco Wanderwitz will im Herbst wieder in den
       Bundestag – ganz passend sein. Von einem Ostbeauftragten der
       Bundesregierung sollte man aber mehr erwarten dürfen.
       
       2 Jun 2021
       
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