# taz.de -- Bauen und Wohnen: Kampf um Grund und Boden
       
       > Die Ressource Land ist endlich. Das sorgt oft für Streit – auch in
       > Neuenhagen. Von Wildschweinen, Verkehrslärm und der Frage: Wie wollen wir
       > leben?
       
 (IMG) Bild: Aus der Luft betrachtet: Das Neubaugebiet Jahnstraße/Gruscheweg in Neuenhagen bei Berlin
       
       Die Sache mit dem Wildschweinkopf löst in der Einfamilienhaussiedlung rund
       um den Gruscheweg immer noch Kopfschütteln aus. Sauber abgetrennt habe er
       eines Morgens im Garten gelegen. So erzählt es ein Nachbar in der
       drückenden Mittagssonne auf seiner Terrasse in Neuenhagen. Der
       Wildschweinskopf-Empfänger selbst will nicht mit der Presse sprechen.
       Andere Nachbarn bestätigen den Vorfall. Als der Gemeindejäger den Kopf am
       nächsten Tag abholen wollte, erzählt der Nachbar weiter, sei er wieder
       verschwunden gewesen. Merkwürdig. Ein gruseliger Teenagerstreich? Oder hat
       das etwas mit dem Streit um das Neubaugebiet zu tun?
       
       In Neuenhagen, einer kleinen Brandenburger Gemeinde, die östlich an Berlin
       grenzt, leben rund 19.000 Menschen. Sie wohnen größtenteils in Eigenheimen,
       viele pendeln morgens zum Arbeiten nach Berlin und kehren abends zu ihrem
       Haus mit Garten zurück. Die S-Bahn fährt im 20-Minuten-Takt. Man ist hier
       stolz auf das Rathaus, einen alten 42 Meter hohen Wasserturm mit
       Backsteinfassade, und auf das über die Gemeindegrenzen hinweg bekannte
       Neuenhagener Freibad. Es gibt drei Anglervereine, zwei Fußballklubs und
       eine Ortsgruppe des Vereins für Deutsche Schäferhunde. Suchte man Drehorte
       für eine Vorstadt-Vorabend-Serie, man würde in Neuenhagen sicher fündig.
       
       Selbst die Wildschweinposse fügt sich in dieses Bild einer Gemeinde, deren
       größtes Problem auf den ersten Blick ihre Nähe zur Natur zu sein scheint.
       Der Streit um die Wildtiere hatte sich seit Längerem zugespitzt. Die
       Bewohner:innen eines neuen Wohngebiets im Norden von Neuenhagen, das
       hier seit 2017 entsteht, hatten nach einigen zu innigen Begegnungen mit der
       ortsansässigen Rotte Schutzmaßnahmen gefordert. Ein Zaun um das
       Neubaugebiet wurde errichtet.
       
       Andere Neuenhagener sahen darin den Lebensraum der Wildtiere beschnitten.
       Die „Neubürger“ hätten wohl noch nie ein Wildschwein gesehen und würden
       jetzt „Panik verbreiten“, kommentierte jemand auf Facebook unter der
       Zaun-Meldung. Bereits zuvor tauchten Aufkleber rund um die Siedlung am
       Gruscheweg auf, an Laternen oder auf Mülleimern. „Wildschweinreservat
       Gruscheweg“ steht auf einem. Auf einem anderen ist der Cartoon eines
       Wildschweins abgebildet. Oben drüber steht: „Our hood. Our rules.“ Unser
       Viertel. Unsere Regeln. Darunter: „Gegen das Projekt Gruscheweg.“
       
       ## Aufreger Neubaugebiet
       
       Das Projekt „Gruscheweg 6“, so der offizielle Name, das ist eines der
       größten Wohnneubaugebiete im Umland von Berlin. Auf rund 17 Hektar sollen
       hier in den kommenden Jahren Einfamilienhäuser, Reihenhäuser und Wohnungen
       für rund 1.000 Menschen entstehen. Die meisten Häuser sind bereits bewohnt,
       größtenteils von jungen Familien. In der Bienenstraße, im Tulpen-, Krokus-
       und Maiglöckchenweg reiht sich nun Stadtvilla an Stadtvilla. Die meisten
       weiß gestrichen, ein oder zwei Autos in der Einfahrt, perfekt geschnittene
       Rasen. Auch zwei Reihen mit viergeschossigen Mehrfamilienhäusern stehen am
       Rand. An weiteren Häusern wird noch gebaut, bei anderen steht noch nicht
       mal das Fundament. Die Wildschweine, die diesen Lebensraum ebenfalls für
       sich beanspruchen, sind der jüngste Aufreger in Neuenhagen. Der größte aber
       ist das Wohngebiet selbst.
       
       Der „Gruscheweg 6“ und die Frage nach dem Zuzug spalten einen Großteil des
       Ortes. Die einen sprechen mit Blick auf die dicht bebaute Fläche von
       „Großmannssucht“ und „Gigantismus“, die anderen von dringend benötigtem
       Wohnraum für Familien. Als Anfang des Jahres auf einer Bauankündigung für
       drei Eigentumswohnungen jemand mit einem Edding „Raus aus NHG“ kritzelte,
       schrieb ein Mitglied der Linken auf der Fraktionswebseite, dass sie dies an
       die Nazi-Umtriebe Anfang der 90er Jahre erinnere.
       
       Der Konflikt um den Gruscheweg mag bizarr wirken. Neben Wildschweinkopf und
       Nazivergleich wird es um einen Poller gehen, der scheinbar magisch im Boden
       verschwindet. Um Drohschreiben von Baufirmen und einen Bürgermeister,
       dessen Verwaltung, möglicherweise sogar in seinem Sinne, von dessen eigenem
       Bruder verklagt wird.
       
       ## Einfamilienhäuser und Verbotsdebatten
       
       Eigentlich geht es in Neuenhagen um eine uralte Frage: Wer entscheidet, was
       mit der Ressource Land passiert? Einer Ressource, die wertvoll ist und die
       man nicht vermehren kann. Eine Ressource, die alle nutzen, aber nur wenige
       besitzen.
       
       Die drängt gerade zurück an die Oberfläche. Medial taucht sie vor allem
       dann auf, wenn es um Großprojekte und Großflächen geht. Das [1][Tesla-Werk
       in Grünheide], das [2][Steinkohlekraftwerk Datteln IV] in
       Nordrhein-Westfalen, das [3][Tempelhofer Feld in Berlin]. Dabei geht es
       neben vielen anderen Konflikten auch immer um die Frage: Wer hat Anspruch
       auf so viel Platz und für welchen Zweck?
       
       Aber auch im Kleinen stellt sich die Landfrage immer öfter und drängender.
       In der ersten Verbotsdebatte, die den Grünen in diesem Jahr aufgezwungen
       wurde, ging es nicht um Autos, sondern um Eigenheime. Die Grünen (und die
       SPD) wollen im Norden von Hamburg in Neubaugebieten keine Einfamilienhäuser
       mehr errichten lassen. Ökologisch und sogar städtebaulich ist das sinnvoll.
       Doch als Grünen-Bundestagsfraktionschef Anton Hofreiter diese Politik in
       einem Spiegel-Interview verteidigte, [4][brach die Hölle los]. Dass jemand,
       der ein Stück Land erwirbt, nicht sein eigenes Haus bauen können soll,
       brachte das konservative Deutschland in Rage. Die Grünen erklärten eilig,
       dass sie Einfamilienhäuser nicht per se verbieten wollen – verwiesen aber
       gleichzeitig auf die Nebeneffekte von Flächenfraß und Zersiedelung. „Wir
       stecken in der Klimakrise. Da kann nicht alles bleiben, wie es war“, sagte
       Hofreiter dem Spiegel.
       
       So wie es ist, soll es auch nach dem Willen der aktuellen Bundesregierung
       nicht ewig bleiben. Bis 2050 soll Deutschland nicht nur treibhausgas-,
       sondern auch flächenfraßneutral sein. Netto soll von da an kein Land mehr
       für neue Häuser und Straßen beansprucht werden. Soll heißen: Für jede
       Fläche, die neu versiegelt wird, soll woanders entsiegelt werden.
       
       Doch zurzeit entstehen in Deutschland jeden Tag immer noch etwa drei
       Versionen des Gruschewegs. Die Siedlungs- und Verkehrsfläche ist zwischen
       2016 und 2019 durchschnittlich um rund 52 Hektar pro Tag gewachsen. Der
       Trend ist zwar rückläufig, im Jahr 2000 lag der Wert noch bei 129 Hektar
       pro Tag. Aber gerade um Städte herum wird es von Jahr zu Jahr enger, werden
       immer mehr Flächen bebaut. Als Donut-Effekt beschreiben
       Stadtentwickler:innen das Phänomen aussterbender Ortskerne und
       aufgeblähter Peripherien.
       
       Ähnliches gilt für das Umland von Großstädten. Hier steigt der Druck zwar
       auch im Inneren, die Immobilienpreise in den Speckgürteln sind im
       vergangenen Jahr aber so stark gestiegen wie in den Metropolen selbst. Im
       Berliner und Düsseldorfer Umland lagen die Preissteigerungen sogar erstmals
       deutlich über denen der Stadt.
       
       In Neuenhagen haben sich die durchschnittlichen Grundstückspreise in den
       vergangenen zehn Jahren verdreifacht. Die Bevölkerung wuchs seit der Wende
       auf fast das Doppelte an, von rund 10.000 auf gut 19.000 Menschen. Diese
       Entwicklung lässt sich in jeder Gemeinde um Berlin herum beobachten. Die
       Kommunen profitieren vom Zuzug, selbst wenn die Menschen nicht im Ort
       selbst arbeiten. Einen Großteil ihrer Einnahmen generieren sie über die
       Grundsteuer, ihren Anteil an der Einkommensteuer und die Zuweisungen des
       Bundeslandes. All das steigt, je mehr Menschen in der Gemeinde leben.
       
       Bloß lässt sich das Geld oftmals gar nicht so schnell ausgeben, wie die
       Ansprüche steigen. Einfamilienhäuser sind meist zügiger gebaut als Straßen
       und Schulen. Und rasantes Wachstum ist nicht nur eine Herausforderung für
       die Natur, sondern auch für das Zusammenleben. Christian Hentschel, der
       Bürgermeister von Schönefeld, einer Gemeinde nur wenige Kilometer von
       Neuenhagen entfernt, brachte das kürzlich ganz bürokratisch auf den Punkt:
       „Ein Spannungsverhältnis ergibt sich dann hinsichtlich des
       Veränderungsdrucks, dem auch die angestammte Bevölkerung ausgesetzt ist.“
       
       ## Ein Bürgermeister will die „Gartenstadt“
       
       Im Fall von Neuenhagen wirkt das Wort Spannungsverhältnis fast
       euphemistisch. An einem Frühlingstag steht Ansgar Scharnke, ein Mann mit
       kurzen, grau melierten Haaren und runder Rahmenbrille, in der Mitte des
       Baugebiets „Gruscheweg 6“. Zahlreiche Mähroboter drehen emsig ihre Runden
       in den Vorgärten. „Die wirken schon wie ein Fremdkörper im Ortsbild“, sagt
       Scharnke und zeigt auf die weißen Viergeschosser, die auffallen im
       ansonsten flach bebauten Ort.
       
       Ihm ist das hier alles zu viel, die Viergeschosser zu hoch, die
       Einfamilienhäuser zu dicht aneinander gebaut. Scharnke, Jahrgang 1973 und
       in Neuenhagen ausgewachsen, ist nach Stationen in Frankfurt am Main und
       London 2011 wieder in seinen Heimatort zurückgekehrt. Mit der Gemeinde, wie
       er sie kannte, mit der „Gartenstadt“, wie es im Neuenhagener
       Gemeinde-Marketing heißt, hat diese Bebauung nicht mehr viel zu tun, findet
       er. Er erzählt mit ruhiger und klarer Stimme, oft mit der Präzision des
       Juristen, der er ist. Dass der Konflikt hier sein Leben in eine andere
       Richtung gelenkt hat, merkt man ihm nicht an.
       
       Nur rund 100 Meter vom Gruscheweg entfernt rauscht die sechsspurige A 10
       vorbei, der Berliner Autobahnring. Den Verkehrslärm kann man auch um die
       Mittagszeit gut hören. Und er ist einer der Gründe, warum Scharnke das
       Gebiet nicht oder zumindest anders bebaut hätte. „Das Lärmschutzgutachten
       von 2001 passt vorne und hinten nicht für die aktuell geplante Bebauung“,
       sagt der Jurist Scharnke.
       
       Noch mehr als der Autobahnverkehr treibt Scharnke jedoch der Verkehr im Ort
       um. Südlich des Neubaugebiets führen zwei kleine Straßen, ebenfalls gesäumt
       von Einfamilienhäusern mit großzügigen Gärten, entlang. Die Jahnstraße und
       die Fichtestraße. Die Straßen sind so schmal, dass zwei Autos, wenn sie
       aufeinander zufahren, abbremsen müssen, um sicher aneinander
       vorbeizufahren. Dass hier künftig ein Großteil des Verkehrs einer
       1.000-Einwohner-Siedlung durchgeleitet werden soll, empört Scharnke. Er ist
       in der Jahnstraße aufgewachsen. Seine Mutter und auch sein Bruder wohnen
       noch hier. Scharnke unterstützte von Anfang an eine Bürgerinitiative der
       Anwohner:innen, die sich 2017 gründete. Ihr Ziel: Jahn- und Fichtestraße
       vom „Gruscheweg 6“ zu trennen.
       
       In der Gemeindevertretung ist Scharnke seit 2014 aktiv, als Mitglied einer
       Wählergemeinschaft namens „Die Parteilosen“. Mit dem „Gruscheweg 6“ hat er
       ein Thema gefunden, das ihn nicht mehr loslässt. Er will sich noch stärker
       engagieren, und er bekommt ein Mandat dafür: Am 18. März 2018 wählen 76,8
       Prozent der Neuenhagener:innen Ansgar Scharnke zu ihrem
       Bürgermeister. Eines seiner Wahlversprechen lautet: Neuenhagen als
       „Gartenstadt“ erhalten.
       
       ## Eine CDUlerin will Entwicklung
       
       Man kann diese Wahl auch als eine Abstimmung über den Gruscheweg lesen.
       Seine Gegenkandidatin in der Stichwahl ist die ehemalige Leiterin der
       Bauverwaltung, unter deren Federführung das Baugebiet entwickelt wurde. Die
       Erwartungen an Scharnke sind groß. Aber kann ein Bürgermeister in einem
       großteils fertiggestellten Wohngebiet noch viel ausrichten? Oder ist die
       Landfrage hier schon entschieden?
       
       Fragt man Corinna Fritzsche-Schnick, dann ist sie das. Fritzsche-Schnick
       ist wie Scharnke in Neuenhagen aufgewachsen und ebenfalls Juristin. Sie
       sieht die Dinge hier ganz anders. „Nur weil einige hier Idylle wollen,
       können wir nicht die Entwicklung des Ortes stoppen“, sagt sie mit lauter
       Stimme in einem Gespräch, das aufgrund der Coronalage am Telefon
       stattfindet. Als sie Kind war, erinnert sie sich, habe man sich zwar noch
       gegrüßt auf der Straße, aber es habe auch nicht gerade jeder jeden gekannt.
       „Neuenhagen war noch nie ein Nest“, sagt sie.
       
       Fritzsche-Schnick hält einen Großteil der Kritik für eine Neiddebatte.
       Nimby – Not in my backyard – nennt man das, wenn Menschen, die eine
       Veränderung zwar generell befürworten, sich dagegen wehren, wenn sie selbst
       davon betroffen sind. In Deutschland wird der Begriff immer häufiger im
       Kontext der Energiewende gebraucht und beschreibt zum Beispiel das
       Phänomen, dass eine Mehrheit der Bürger:innen den Ausbau erneuerbarer
       Energien zwar befürwortet, viele aber Windräder und Stromtrassen nicht in
       eigener Sichtweite haben wollen.
       
       Folgt man Fritzsche-Schnick, dann sind Scharnke und die anderen Mitglieder
       der Bürgerinitiative Nimbys. Individuelle Interessen würden vor jene der
       Gemeinde gestellt: Verkehr ja, aber bitte nicht vor meiner Haustür. „Ich
       sehe auch, dass hier mehr Autos fahren als früher“, sagt Fritsche-Schnick.
       Anders als Scharnke hält sie den Verkehr aber für beherrschbar. „Wir sind
       ein gesundes Mittelzentrum. Wem das nicht passt, der muss in die Uckermark
       gehen“, sagt sie. Auch Fritzsche-Schnick weiß eine demokratische Mehrheit
       hinter ihrer Haltung. Sie ist Fraktionsvorsitzende der CDU in der
       Neuenhagener Gemeindevertretung. Einer Gemeindevertretung, die die Planung
       zum Gruscheweg mehrheitlich beschlossen hat.
       
       Zwei Menschen, beide im Ort verwurzelt und politisch engagiert. Und beide
       mit komplett unterschiedlichen Interessen und Wünschen bezüglich ihrer
       Heimat und der Frage, was mit einer Fläche im Ort geschehen soll. Das
       Verhältnis der beiden ist, vorsichtig formuliert, angespannt. „Die
       Parteilosen“ hat der politische Wettstreit Ende 2020 gar dazu inspiriert,
       eine groteske Weihnachtsgeschichte über die beiden zu veröffentlichen, in
       der sie den Gelehrten „Anselm“ für das „Burgenland“ und gegen die herrische
       „Carina“ antreten lassen. Lässt sich die Landfrage hier überhaupt lösen?
       
       ## Die Sache mit dem Bebauungsplan
       
       Die naheliegende Antwort klingt zunächst öde. Sie heißt: öffentliches
       Baurecht. Oder genauer: der Bebauungsplan. Das Grundrecht auf Eigentum gilt
       grundsätzlich auch für ein Stück Land. Kapitalistisch übersetzt bedeutet
       das: Mit Grund und Boden wird natürlich Geld verdient. Der Philosoph
       Jean-Jacques Rousseau sieht das Landeigentum sogar als Ursprung des
       Kapitalismus an: „Der Erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und
       auf den Gedanken kam, zu sagen: „Dies gehört mir“, und der Leute fand, die
       einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der
       bürgerlichen Gesellschaft“, schreibt Rousseau im „Diskurs über die
       Ungleichheit“.
       
       Im Fall vom „Gruscheweg 6“ gehörte das Land nach der Wende der Kirche.
       Diese verkaufte es in den 90er-Jahren an das Immobilienunternehmen SIWOGE.
       2016 betrug der Jahresüberschuss der SIWOGE, die nur in Neuenhagen und der
       benachbarten Gemeinde Rehfelde Land besitzt, 1.600 Euro. Ende 2016 wurde
       der Gruscheweg Bauland, die SIWOGE begann die Flächen zu veräußern. 2017
       sprang der Jahresüberschuss der SIWOGE auf knapp 3 Millionen Euro.
       
       Aber: Eigentum verpflichtet auch, und hier kommt der Bebbauungsplan ins
       Spiel. Dieser konkretisiert das Eigentum und ist damit das Instrument, das
       die Landfrage in Deutschland demokratisiert. So erklärt es der Baurechtler
       Franz Dirnberger. „Das Eigentumsgrundrecht des Grundgesetzes erlaubt nicht,
       das Grundeigentum nach Belieben zu nutzen“, sagt Dirnberger. Etwas
       einfacher formulierte es Anton Hofreiter während der
       Einfamilienhaus-Debatte im Spiegel: „Wo was steht, entscheidet allerdings
       nicht der Einzelne, sondern die Kommune vor Ort.“ Formal ist ein
       Bebauungsplan ein Gesetz, das mit einfacher Mehrheit beschlossen werden
       muss. Und nicht nur das: Die Kommune muss dabei die Bürger:innen und
       öffentliche Stellen beteiligen und „eine dem Wohl der Allgemeinheit
       dienende sozial gerechte Bodennutzung unter Berücksichtigung der
       Wohnbedürfnisse der Bevölkerung gewährleisten“. So steht es im Paragraf 1
       des Baugesetzbuches.
       
       Natürlich gibt es auch für das streitige Neuenhagener Wohngebiet
       „Gruscheweg 6“ einen Bebauungsplan. Beschlossen von der Gemeindevertretung
       am 8. Dezember 2016 mit 17 zu 5 Stimmen bei 3 Enthaltungen.
       Fritzsche-Schnick stimmte für den Plan, Scharnke dagegen. Punktsieg für
       die CDU-Frau, könnte man meinen. Das Problem – und hier wird es wirklich
       verzwickt: Der Plan enthält einen Fehler.
       
       Im Oktober 2020 setzte das das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
       den Bebauungsplan in einem Eilverfahren vorläufig außer Vollzug. Neue
       Bauvorhaben konnten damit nicht beginnen. Am 25. März 2021 erklärte das
       Gericht den Bebauungsplan dann für vollständig nichtig. Rechtlich ist das
       Gebiet aktuell also wieder Brachland, als hätte es nie einen Bebauungsplan
       geben. Gegen die Gemeinde hatten fünf Anwohner:innen der Jahn- und
       Fichtestraße geklagt, darunter auch der Bruder von Ansgar Scharnke. Das
       Gericht rügte, wovor die Anwohner:innen und die „Parteilosen“ jahrelang
       gewarnt hatten. Ein Verkehrsgutachten wurde ignoriert. Die
       Verkehrsanforderungen und die Interessen der Anwohner:innen seien nicht
       ausreichend gegeneinander abgewogen worden. „Das war keine gute Arbeit“,
       sagte der Vorsitzende Richter während der Verhandlung. „Es fehlt die
       ordnende Hand.“
       
       Dass Bebauungspläne für nichtig erklärt werden, passiert eher selten.
       Oftmals können Fehler, wenn sie auftreten und erkannt werden, von der
       Gemeinde korrigiert werden. In Neuenhagen ist die Gemengelage
       komplizierter. Der Gemeindeverwaltung sitzt mit Ansgar Scharnke jemand vor,
       der ein erklärter Gegner des Projekts ist. Hatte er überhaupt ein Interesse
       daran, den Bebauungsplan nach seiner Wahl zum Bürgermeister zu korrigieren?
       Die Klage gegen den Plan und seine eigene Gemeinde müsste ihm im Grunde ja
       recht gewesen sein.
       
       ## Immobilienkonzerne machen Druck
       
       Der Baustopp in Neuenhagen zeigt, welche Interessen und Erwartungen
       unterschiedliche Akteur:innen an einen Bebauungsplan und die Ressource
       Land haben. Die Landfrage, die oft komplex und undurchsichtig erscheint,
       wird in Neuenhagen recht gut ausgeleuchtet.
       
       Da sind zum Beispiel die beteiligten Immobilienkonzerne. Seit dem Baustopp
       drohen die SIWOGE und die mit dem Bau beauftragten Firmen der Gemeinde mit
       Schadensersatzforderungen. In einem Ton, der nicht allzu viel Raum für
       Interpretationen lässt.
       
       In einem Brief, der der taz vorliegt, schreiben vier am „Gruscheweg 6“
       tätige Baufirmen – Heinz von Heiden, Hermann Gruppe, Immogain und
       Norddeutsche Wohnbau – am 30. November 2020 an Bürgermeister Scharnke: „Es
       dürfte Ihnen sicherlich klar sein, dass den beteiligten Projektentwicklern
       und der SIWOGE damit ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden entsteht, den
       wir als unmittelbar Betroffene an die Verursacher dieser misslichen
       Situation weiterleiten werden.“ Und die Verfasser lassen keinen Zweifel
       daran, wen sie als Verursacher der misslichen Lage sehen: Scharnke.
       
       Tatsächlich war die ungelöste Verkehrsfrage schon ein Problem für die
       Gemeinde, bevor Scharnke Bürgermeister wurde. Kurz vor seiner Wahl wurde
       der Bau eines absenkbaren Pollers zwischen dem Gruscheweg und der
       Jahnstraße beschlossen. Aufgestellt wurde er im Juni 2018, doch schon im
       August war er wieder unten, der Verkehr konnte weiter ungehindert fließen.
       Dies sei „unter Zutun der Gemeinde erfolgt“, behaupten die Baufirmen im
       Brief an Scharnke. Damit habe er den Baustopp „geradezu provoziert“. Und
       weiter: „Wir behalten uns daher jegliche Schadensersatzansprüche gegen die
       Gemeinde Neuenhagen bei Berlin vor. Insbesondere für den Fall, dass
       entgegen besseren Wissens nicht umgehend eine Heilung des fehlerhaften
       Bebauungsplans herbeigeführt wird.“ Das Wort umgehend ist gefettet und
       unterstrichen.
       
       Scharnke weist diese Vorwürfe in einem Antwortschreiben zurück. Er habe als
       einer von nur fünf Gemeindevertretern 2016 gegen den fehlerhaften
       Bebauungsplan gestimmt und dabei auf die Verkehrsproblematik hingewiesen.
       Außerdem habe seine Verwaltung viermal versucht, den Bebauungsplan zu
       korrigieren, sei aber jeweils an der Gemeindevertretung gescheitert. Was
       Scharnke nicht schreibt: Bei seinen Versuchen, den Bebauungsplan zu
       korrigieren, ging es gar nicht um Verkehr, sondern um den Lärmschutz, den
       er ebenfalls für nicht ausreichend gesichert hält. Um die
       Verkehrsproblematik im Bebauungsplan zu lösen, hätte die Zeit bis zum
       Urteil ohnehin nicht gereicht, sagt Scharnke der taz.
       
       Der Eindruck, dass der Verkehr zu Recht von den Anwohner:innen
       beanstandet wird und dies Scharnke ganz gelegen kam, lässt sich nicht ganz
       von der Hand weisen. Nach dem Urteil schreibt er auf der Webseite der
       „Parteilosen“: „Wir sollten uns jedoch nicht dazu verpflichtet sehen, die
       bisher geplante, dichte Bebauung der noch unbebauten Grundstücke entgegen
       dem Gartenstadtcharakter unserer Gemeinde nun in Beton zu gießen.“ Dennoch
       weiß auch Scharnke, dass ein kompletter Baustopp, wenn überhaupt, nur mit
       erheblichen Verwerfungen durchzusetzen wäre, nicht zuletzt für jene
       Menschen, die bereits Bauland auf dem Gebiet erworben haben. Sein Ziel sei
       nun eine „lockere Bebauung mit Einfamilienhäusern, die auch Platz für
       Gärten und Naturräume lässt“. Punktsieg für Scharnke?
       
       Auf der anderen Seite steht immer noch Corinna Fritzsche-Schnick, die das
       offensichtlich mit allem Mitteln verhindern will – auch mit fragwürdigen
       Mitteln. Zusammen mit einer Gemeindevertreterin der Linken traf sie sich in
       der Hochphase der zweiten Coronawelle im Bürgerhaus mit Vertretern der
       Baufirmen. Was dort beredet wurde, steht in keinem Protokoll. Die seien auf
       sie zugekommen, sagt Fritzsche-Schnick zu dem Treffen. Besprochen wurden
       „keine Interna“, sondern nur „Allgemeines“. Dass ein solches exklusives
       Treffen mit Baufirmen, die der Gemeinde mit Schadensersatz drohen,
       zumindest komisch aussehe, teilt Fritzsche-Schnick nicht. „Ich spreche mit
       jedem“, sagt sie.
       
       ## Erst bauen, dann kümmern?
       
       Nun ist die Landfrage kein Boxkampf, auch nicht zwischen Scharnke und
       Fritzsche-Schnick in Neuenhagen. Der Konflikt um den Gruscheweg zeigt aber,
       wie ernst den Menschen die Frage werden kann, wenn sie sich bei der Suche
       nach der Antwort übergangen fühlen. In einem rbb-Beitrag aus dem Jahr 2017
       sieht man den alten Neuenhagener Bürgermeister auf dem noch unbebauten
       Gruscheweg stehen. Auf die sich damals schon abzeichnenden Probleme
       angesprochen, sagt er sinngemäß: Wir bauen erst mal, den Rest klären wir
       später. Und vielleicht liegt hierin ein Teil der Antwort. Wo Flächen
       knapper werden, braucht es umso mehr Einbindung und Öffentlichkeit. Die
       Landfrage, so könnte man es formulieren, muss wieder politischer werden.
       
       Die Gemeinde Neuenhagen wartet aktuell auf die Urteilsbegründung des
       Oberverwaltungsgerichts. Viele hoffen auf eine detaillierte Ausführung der
       Richter, die einen Weg vorzeichnen könnten zu einem Ende des jahrelangen
       Streits. Und auch wenn es derzeit nicht danach aussieht: Es wird eine
       Lösung für den „Gruscheweg 6“ geben, da sind sich alle Beteiligten
       ausnahmsweise einig. Alternative Verkehrskonzepte werden erarbeitet. „Wir
       sind dabei, uns anzunähern“, sagt Bürgermeister Ansgar Scharnke. „Wir haben
       alle Fehler gemacht, aber wir werden einen Weg finden“, sagt
       Gemeindevertreterin Corinna Fritzsche-Schnick.
       
       Auch wenn man mit den Bewohner:innen des „Gruscheweg 6“ spricht,
       entsteht der Eindruck, dass die Landfrage in Neuenhagen zwar mit
       ungewöhnlichen Mitteln ausgefochten wird, aber doch lösbar ist. Mit Namen
       will sich zwar keine:r der Befragten zitieren lassen. Aber die Mehrheit
       sagt, dass sie trotz allem gern in Neuenhagen wohnt.
       
       Es scheint, als wären die meisten hier auf Frieden aus. Auch der Nachbar,
       der vom Wildschweinkopf berichtet, fühlt sich wohl in seinem Haus mit
       Garten am Gruscheweg. Er habe einen Verdacht, wer den Kopf geworfen habe,
       wolle der Sache aber nicht weiter nachgehen. Der Blick gehe nach vorn.
       
       Die Landfrage wird die Kommunen weiter beschäftigen, nicht nur in
       Neuenhagen. Der Baurechtler Dirnberger, der auch Geschäftsführer des
       bayrischen Gemeinde- und Städtetages ist, sagt, dass es in Bayern kaum noch
       einen Bebauungsplan gibt, gegen den nicht geklagt wird. Die Hürden dafür
       seien relativ niedrig, und die Bürger:innen würden es immer stärker
       nutzen.
       
       Der Siedlungsdruck, angeheizt durch die jahrelang niedrigen Zinsen, wird
       erst mal weiter zunehmen. Verstärkt wird er durch Instrumente wie das
       Baukindergeld und das kürzlich verlängerte Baumobilisierungsgesetz. Wie es
       nach der Bundestagswahl im Herbst weitergeht, ist offen. Die Grünen wollen
       den Flächenverbrauch bis 2030 halbieren. Im CDU-Wahlprogramm findet sich
       der Satz: „Wir wollen mehr Flächen für den Wohnungsbau mobilisieren.“ Die
       Idee eines Flächenzertifikathandels, im Entwurf noch enthalten, flog in der
       endgültigen Fassung raus.
       
       Auch Neuenhagen wird weiter wachsen. Die Gemeindevertretung hat bereits die
       Erarbeitung eines neuen Bebauungsplans angestoßen, es soll das vorerst
       letzte große Baugebiet im Ort werden. Sein Name: Gruscheweg 7.
       
       27 Jun 2021
       
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