# taz.de -- Arbeiten in der Pandemie: Abschied vom festen Schreibtisch
       
       > Nach dem Auslaufen der Pflicht zum coronabedingten Homeoffice entwickeln
       > sich in vielen Betrieben Mischformen aus Präsenzarbeit und Homeoffice.
       
 (IMG) Bild: Kann die Arbeit im Callcenter, wie hier in Lietzow auf Rügen, auch im Homeoffice verrichtet werden?
       
       BERLIN taz | Vom riesigen Bildschirm an der Wand lächeln die KollegInnen
       mit fast lebensgroßen Gesichtern, als säßen sie vor Ort mit den
       MitarbeiterInnen, die sich hier live zum Meeting [1][mit den Zugeschalteten
       versammelt haben.] Kameras unter dem Wandbildschirm sind auf Augenhöhe auf
       die im Raum Sitzenden gerichtet. Es soll so wirken, als seien die
       Zugeschalteten und die Präsenten hier ganz gleichberechtigt vertreten, fast
       wie im selben Raum. Microsoft wirbt mit diesen Bildern für die neue
       „hybride“ Arbeitswelt.
       
       Nach dem Abflauen der Coronapandemie und dem Auslaufen der Pflicht zum
       Homeoffice am 30.Juni werden sich in vielen Betrieben Mischformen aus
       mobiler Arbeit und Präsenzarbeit entwickeln. „Es wird in den Unternehmen
       kaum noch möglich sein, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter komplett in
       den Betrieb zurückzubeordern. Dass zumindest ein Teil der Arbeit weiter im
       Homeoffice gemacht werden kann, das wird bleiben. Wenn das Unternehmen das
       nicht ermöglicht, besteht die Gefahr, dass ein Teil der Mitarbeiter
       abwandert“, sagt Fabiola Gerpott, Professorin für Personalführung an der
       privaten WHU – Otto Beisheim School of Management in Düsseldorf.
       
       Die Frage lautet, wie dieses „hybride Arbeiten“ dann organisiert wird.
       Einer [2][Umfrage] der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zufolge
       arbeiteten während der Pandemie 44 Prozent der abhängig Beschäftigten
       gelegentlich oder ausschließlich im Homeoffice. Die Mehrzahl wollte diese
       mobile Arbeit auch nach der Pandemie zumindest teilweise beibehalten. Läuft
       die coronabedingte Pflicht zum Homeoffice aus, haben Beschäftigte keinen
       Anspruch mehr auf die Arbeit von zu Hause aus. Unternehmen haben aber ein
       Interesse am „hybriden Arbeiten“, nicht nur, um Personal zu halten, sondern
       auch, um langfristig Büroflächen zu sparen.
       
       Im Siemens-Konzern gibt es seit März eine neue
       [3][Gesamtbetriebsvereinbarung] zum mobilen Arbeiten. „Das Ziel ist, dass
       alle Beschäftigten, bei deren Tätigkeiten es sinnvoll und machbar ist, im
       Schnitt zwei bis drei Tage pro Woche mobil arbeiten können“, sagt eine
       Siemens-Sprecherin*. Die Beschäftigten haben laut der Vereinbarung kein
       Recht auf bestimmte Wochentage für das Homeoffice. Es steht weiterhin jedem
       ein Schreibtisch im Betrieb zu, es gibt aber keinen Anspruch auf einen ganz
       bestimmten Tisch.
       
       ## Mobiles Arbeiten erfordert eine gute Selbstorganisation
       
       Einen festen Arbeitsplatz im Unternehmen zu haben oder den Tisch immer
       wechseln zu müssen, ist psychologisch ein heikles Thema. Der persönliche
       Schreibtisch mit den Fotos der Liebsten, vielleicht noch einem
       Landschaftsbild, dem vertrauten Blick aus dem Fenster, kann den
       Arbeitsplatz heimeliger machen und Stabilität vermitteln.
       
       Gerpott berichtet, dass manche Unternehmen schon seit Längerem versuchten,
       von der Regel, dass jedem Mitarbeiter ein bestimmter Schreibtisch zur
       Verfügung steht, abzuweichen. MitarbeiterInnen hätten dann beispielsweise
       eigene Boxen oder Kästen, in die sie ihr Arbeitsmaterial einschließen
       können. „Der feste Schreibtisch im Unternehmen kann aber ein wichtiges
       identitätsstiftendes Element sein“, sagt die Wissenschaftlerin,
       „Mitarbeiter versuchen dann oft, ihren Schreibtisch dennoch zu halten.“ Für
       die Unternehmen aber rechne es sich nicht, Büroflächen bereitzustellen, die
       dann an vielen Tagen leer stünden, so Gerpott.
       
       Schon die lange Phase des Homeoffice war für viele Angestellte eine Zeit
       der Herausforderung. Das mobile Arbeiten erfordert eine gute
       Selbstorganisation. „Ob einem Homeoffice liegt, hat auch mit der
       Persönlichkeitsstruktur zu tun“, sagt Gerpott. Die Kontakte über Zoom sind
       zudem anders als Kontakte vor Ort. Erfahrungsgemäß haben Zoom-Meetings zwar
       den Vorteil, dass Vielredner durch die Regel der Wortmeldungen
       diszipliniert werden, weil sie nicht einfach unterbrechen können,
       beziehungsweise das sehr unhöflich wirkt. In virtuellen Meetings sehe man
       die Kollegen aber ständig aus einer unnatürlichen Nähe, nämlich als Gesicht
       in Großaufnahme, so Gerpott. Das könne ermüden. Außerdem erblickt man auch
       sich selbst beständig in Nahaufnahme auf dem Schirm, ein Tatbestand, der
       möglicherweise mit dazu beitrug, die Zahl der [4][Schönheitsoperationen zu
       Coronazeiten in die Höhe zu treiben], wie die Ärztezeitung unlängst
       meldete. Gerpott rät: „Man kann unter Umständen das eigene Bild während der
       Zoom-Konferenz abdecken, so dass es zwar für die andern, aber nicht für
       einen selbst sichtbar ist.“
       
       Manche MitarbeiterInnen haben auch mit der heimischen Beleuchtung vor der
       Webcam experimentiert. [5][Ein natürliches Tageslicht von vorne, also durch
       ein Nordfenster, sei am Günstigsten, raten Visagisten im Netz.]
       
       ## Die hohe Kunst des hybriden Arbeitens
       
       Für das neue „hybride Arbeiten“ planen manchen Firmen ihre Büros um. Bei
       Siemens gebe es aktuell Pläne für eine architektonische Umstrukturierung
       der Büroflächen, in Zukunft gebe es neue Ruhezonen, neue
       Kollaborationsflächen für Teams, so die Unternehmenssprecherin.
       Grundsätzlich verfügten die Mitarbeiter über kleine Spinde, meist aber
       nicht mehr über große Aktenschränke.
       
       Die Frage, wann wer am besten im Betrieb sei, regelten die Standorte
       individuell und in der Folge dann auch die Abteilungen, so die
       Siemens-Sprecherin. Denkbar sei, dass sich Teams beispielsweise auf feste
       Tage einigten, an denen möglichst alle im Büro sind. Dort werden dann auch
       die für alle relevanten Meetings abgehalten. Eine Regel für Treffen könnte
       sein, dass diese immer dann virtuell abgehalten werden, wenn es Kollegen
       gibt, die an anderen Standorten sitzen, schildert die Sprecherin.
       
       Die hohe Kunst des hybriden Arbeitens ist die Gestaltung der Meetings mit
       KollegInnen vor Ort und Zugeschalteten. Wichtig bei hybriden Meetings sei,
       dass die zugeschalteten Kollegen gleichberechtigt mit den Mitarbeitern vor
       Ort wahrgenommen werden, betont Gerpott, „es gibt die Tendenz, dass die
       Zugeschalteten weniger präsent sein können, dass sie weniger Redeanteile
       haben. Dadurch besteht die Gefahr einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der
       es die Zugeschalteten schwerer haben“.
       
       Um der Gefahr einer Benachteiligung zu begegnen, rät Gerpott sogar, dass
       bei virtuellen Meetings von KollegInnen im Unternehmen und im Homeoffice
       von vorneherein keine Mitarbeiter vor Ort in einem Raum zusammen sind.
       Stattdessen sollten alle Beteiligten, „allein vor ihrem Bildschirm sitzen“
       und so gleichberechtigt miteinander kommunizieren, auch wenn sie sich in
       der Firma nur wenige Meter voneinander entfernt befinden.
       
       Ob das neue „hybride Arbeiten“ mit tageweisem Homeoffice von Vorteil ist,
       hängt auch von persönlichen Faktoren ab: der Wohnsituation, der familiären
       Situation, dem Anfahrtsweg. „Ich kann mir vorstellen, dass es zum Beispiel
       Kollegen gibt, denen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Die können
       natürlich auch nach wie vor jeden Tag ins Büro kommen“, sagt die
       Siemens-Sprecherin. Die neuen Arbeits-Mischformen nach Corona sind in
       vielen Unternehmen ein Experiment, dessen Ausgang offen ist.
       
       *In einigen Unternehmen und Behörden ist es Praxis in den Pressestellen,
       dass die Sprecher:innen nicht namentlich genannt werden.
       
       23 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.microsoft.com/en-us/microsoft-teams/microsoft-teams-rooms?rtc=1
 (DIR) [2] https://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_65_2021.pdf
 (DIR) [3] https://www.dialog-igmetall.de/nachrichten/podcast-reihe-zu-mobiler-arbeit
 (DIR) [4] https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Schoenheits-Operationen-erleben-einen-Corona-Boom-416814.html
 (DIR) [5] https://internet-fuer-architekten.de/5-tipps-gut-aussehen-video-konferenzen-online-meetings/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Dribbusch
       
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