# taz.de -- Die Erfindung Kreuzbergs: Mühlenhaupts Montmartre
       
       > Zum 100. Geburtstag feiert Berlin Kurt Mühlenhaupt, den Maler der kleinen
       > Leute. Höhepunkt ist die Werkschau über die Kreuzberger Bohème.
       
 (IMG) Bild: Auf dem Bildermarkt vor Mühlenhaupts Trödel in der Blücherstr. 11 in Kreuzberg, um 1960
       
       BERLIN taz |. Eine kleine Szene, ein Missverständnis und ein großes Lachen,
       als es sich auflöst. „Ich hab das Café Achteck vergeblich gesucht“, räumt
       der ältere Herr ein und lächelt. Kurz zuvor hat Martin Düspohl, der die
       Gruppe an diesem Mittwoch auf den Spuren des Malerpoeten Kurt Mühlenhaupt
       durch den Kreuzberger Chamissokiez führt, erklärt, dass es sich beim
       Treffpunkt nicht um ein Café handelt, sondern um ein Pissoir. Auf einem
       seiner Bilder hat es Mühlenhaupt verewigt.
       
       Um Kurt Mühlenhaupt kommt man in diesem Jahr nicht herum. Im Januar hätte
       der Maler der kleinen Leute und Mitbegründer der Kreuzberger Bohème seinen
       100. Geburtstag gefeiert. In den Höfen in der Fidicinstraße 40 wächst das
       Kurt-Mühlenhaupt-Museum, und im Sockel des Kreuzbergdenkmals findet gerade
       die Ausstellung [1][„Mühlenhaupt trifft Schinkel und Schadow statt“].
       Höhepunkt der Feierlichkeiten dürfte aber die Ausstellung über die
       Kreuzberger Bohème der sechziger und siebziger Jahre sein. Sie startet
       unter dem Titel [2][„Die Erfindung Kreuzbergs“] am 6. August im Kunsthaus
       Bethanien.
       
       Kurt Mühlenhaupt war einer, der sich nichts sagen ließ, eigenwillig, stur.
       Man ahnt es, wenn man ein Foto von ihm sieht am Chamissoplatz 8, der ersten
       Station der Führung von Martin Düspohl. Dort hatte Mühlenhaupt ab 1970 sein
       erstes Atelier.
       
       „Doch die Kreuzberger Geschichte von Mühlenhaupt beginnt schon früher“,
       sagt der Mitbegründer von [3][Stattreisen] und langjährige Leiter des
       [4][Friedrichshain-Kreuzberg-Museums]. 1958 zieht Mühlenhaupt, damals 37
       Jahre alt, von Ost-Berlin nach Kreuzberg. Zuvor hatte er eine Ausbildung an
       der Hochschule für Bildende Künste abgebrochen. „Es hieß, aus ihm werde nie
       ein Maler, er male zu grau“, sagt Düspohl. Mühlenhaupt selbst schreibt in
       seinen Erinnerungen: „Ich war in der Schule kein glücklicher Mensch. Ich
       fand keine Freunde, uns trennten Welten. Ich trug eine andere Kleidung, und
       wo die Schüler in den Kunsthallen meist leise wandelten, da fiel ich mit
       meinen Klotzpantinen jedem auf den Wecker.“
       
       Vielleicht war das Urteil gar nicht persönlich gemeint. Ja, Mühlenhaupt
       malte viel Grau, die Fassaden der Berliner Mietskasernen waren damals nicht
       bunt. Aber auch mit seiner figürlichen Malerei passte er nicht zum
       Zeitgeist damals, denn der war in Ost wie West abstrakt, erinnert Düspohl.
       Doch Mühlenhaupt war nicht nur eigensinnig, sondern als Vertreter der
       Kriegsgeneration auch traumatisiert, sagt Düspohl. „Er kam in
       psychiatrische Behandlung und ging dann in den Westen.“
       
       Kreuzberg also, Blücherstraße unweit der Heilig-Kreuz-Kirche, auch so eines
       seiner wiederkehrenden Kreuzberger Motive. Im Hinterhof eines Abrisshauses
       beginnt Mühlenhaupt von neuem, als Trödler. „Bald wird sein Trödelladen zum
       Treffpunkt von Kreuzberger Malern und Poeten“, sagt Düspohl und zeigt ein
       Bild, das Mühlenhaupt selbst von seinem Trödelladen gemalt hat.
       
       1961 eröffnet er dann mit seiner Geliebten Rosi um die Ecke die Kneipe
       „Leierkasten“. „Im Trödelladen war es ihm zu voll geworden. Ständig kam
       jemand mit einem Kasten Bier vorbei und wollte nicht mehr gehen“, sagt
       Düspohl. „Der Leierkasten war dann die erste Künstlerkneipe in Kreuzberg.“
       Und er war der Beginn der Kreuzberger Bohème.
       
       Zwei Stunden vor der Führung sitzt Düspohl im Keller der Fidicinstraße 40
       und bereitet mit Ulrike Treziak die letzten Schritte für die Ausstellung im
       Bethanien vor. „Die Bezeichnung Bohème war eine Zuschreibung von außen“,
       sagt Treziak, die wie Düspohl im Friedrichshain-Kreuzberg-Museum gearbeitet
       hat. „Die Maler hätten sich selbst nie so genannt, aber sie haben es auch
       nicht abgelehnt, wenn vom Berliner Montmartre die Rede war.“
       
       Über 400 Originale, Druckgrafiken, Ölgemälde, aber auch Zeichnungen und
       Aquarelle, haben Treziak, Düspohl und ihr Team für die Schau im Bethanien
       gesammelt. „Es wird aber keine reine Kunstausstellung“, betont Treziak,
       „eher wollen wir die Kunst in einen kulturgeschichtlichen Kontext stellen.“
       Denn Mühlenhaupt, Günter Bruno Fuchs, Günter Grass oder Friedrich
       Schröder-Sonnenstern hatten eines gemeinsam, sagt Treziak. „Sie gehörten
       zur Kriegsgeneration. Und sie verweigerten sich.“ Ein Vorläufer der
       Studentenbewegung seien sie aber nicht gewesen, ergänzt Düspohl. „Sie waren
       eher proletarisch und nicht explizit politisch. Dutschke hat mal gesagt,
       ihre Kunst sei gesellschaftlich nicht relevant.“
       
       „Vor allem waren es Männer“, sagt Ulrike Treziak und lacht, „ihre Frauen
       waren viel besser ausgebildet. Sie mussten den Lebensunterhalt verdienen.
       Wenn die Männer ein Bild verkauft haben, haben sie das Geld gleich wieder
       in der Kneipe ausgegeben.“ Über die wenigen Frauen in der Kreuzberger
       Bohème hat Treziak einen eigenen Ausstellungsraum im Bethanien vorbereitet.
       
       Oben im Vorderhaus in der Fidicinstraße hat Hannelore Mühlenhaupt ihre
       Wohnung. Nach dreißig Jahren im brandenburgischen Bergsdorf, [5][wo
       Mühlenhaupt 2006 starb], ist die zweite Ehefrau von Kurt Mühlenhaupt nach
       Kreuzberg zurückgekehrt. „Auch Kreuzberg ist ein Dorf“, sagt die
       72-Jährige. „Ständig begegnet man hier Bekannten.“ Doch das proletarische
       Milieu der Maler und Poeten ist verschwunden, weggentrifiziert. Alleine die
       Mühlenhaupt-Höfe, die das Ehepaar 1989 gekauft hat, haben noch diesen
       Altkreuzberger Charme. Sie sind ein Ort geblieben, an dem man ausprobieren
       oder einfach nur sitzen und sich ausruhen kann.
       
       In ihrer Wohnung breitet Hannelore Mühlenhaupt jene Bilder von Friedrich
       Schröder-Sonnenstern aus, die bei der ersten offenen Kunstausstellung im
       Rathaus Kreuzberg 1960 einen Skandal verursachten. Weil sie als zu
       anzüglich galten, sollten sie in einen Extraraum verbannt werden. Daraufhin
       packten die Künstler ihre Werke zusammen und stellen sie im Trödel von
       Mühlenhaupt aus. Nun werden sie in der Bohème-Asstellung gezeigt.
       
       Auch das Porträt der Rosi soll zur Ausstellung ins Bethanien. Unter der
       Betreiberin des „Leierkasten“, verrät Hannelore Mühlenhaupt, verberge sich
       Kaiser Wihelm. „Leinwand war damals teuer, also hat Kurt einfach alte
       Bilder übermalt.“
       
       Wenige Stunden später endet die Führung von Martin Düspohl im Sockel des
       Nationaldenkmals auf dem Kreuzberg. Auch Hannelore Mühlenhaupt ist
       gekommen. „Die Ausstellung kann hier nur stattfinden, weil das
       Nationaldenkmal in die Zuständigkeit des Grünflächenamts fällt“, sagt sie.
       „Und dessen Leiter, der Erfinder der Pop-up-Radwege, hat hier einfach eine
       Pop-up-Galerie gemacht.“
       
       Ein bisschen lebt er also noch immer, der Geist des Widerspruchs in
       Kreuzberg.
       
       22 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.muehlenhaupt.de/veranstaltungen/82-videoartfestival-iv-in-den-muehlenhaupt-hoefen-2
 (DIR) [2] https://www.muehlenhaupt.de/images/PDF/Flyer_Die_Erfindung_Kreuzbergs.pdf
 (DIR) [3] https://www.stattreisenberlin.de/stadtfuehrungen/stadtfuehrung/zum-100-geburtstag-des-maler-poeten-kurt-muehlenhaupt/
 (DIR) [4] https://www.fhxb-museum.de/
 (DIR) [5] https://www.muehlenhaupt.de/biographie
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uwe Rada
       
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