# taz.de -- Christopher Street Day 2021: Wie wollen wir leben?
       
       > Der CSD im Wahljahr ist unserer Autorin Anlass, über ihr Schwarzes und
       > queeres Leben nachzudenken – und politische Ansprüche zu formulieren.
       
 (IMG) Bild: Pride war immer politisch und soll es auch bleiben. Hier der Dyke* March 2020 in Berlin
       
       Wie möchten wir als Angehörige der LGBTQ-Community in Zukunft leben? Wie
       wollen wir überhaupt die Gegenwart überleben? Sollten wir uns mit unseren
       Nischen und glamourösen Gettos zufriedengeben? Oder dürften wir ernsthaft
       in Erwägung ziehen, unsere Safe Spaces endlich auf das gesamte
       Gesellschaftsgebiet und kreuz und queer durch das Cyberuniversum
       auszuweiten? Und auf wen könnten wir uns verlassen, wenn die Sonntagsreden
       verhallen? Diese Fragen kommen nicht von ungefähr. Die Drohungen, denen wir
       zunehmend ausgesetzt sind, dürfen wir nicht verharmlosen.
       
       Doch solche Kassandrarufe stoßen nicht überall auf Resonanz. Schon wenn ich
       damit anhebe, begegnen mir manche mit einem Schmunzeln, einem Seufzen oder
       sogar Staunen. „Eure Lage ist doch besser geworden“, beteuern einige
       Heteros, die uns vermeintlich nahestehen. „Man sieht überall die
       Regenbogenflaggen. Ihr seid angekommen. Ihr sollt es auch mal genießen.“ –
       „Mensch, geh nicht immer auf die Barrikaden!“, ermahnen andere, Lesben oder
       Schwule. „Wenn wir das tun, rufen wir die Ewiggestrigen wieder auf den
       Plan. Und dann machen sie Stimmenfang auf unseren Rücken.“
       
       Als würden die das nicht schon jetzt tun. Hier eine Meldung mit
       Triggerwarnung: [1][„Ich lehne jede Form von Homopropaganda und
       Frühsexualisierung ab. Wäre Homosexualität normal, wäre die Menschheit
       schon längst ausgestorben.“] Die Urheberin dieser Sprüche ist eine
       Zahnärztin aus Baden-Württemberg. Sie legt bissig nach: „Eine äußerst
       aggressive und lautstarke Minderheit dieser Personen möchte […] ihre
       Lebensweise dominierend der Mehrheitsgesellschaft aufzwingen und wird dabei
       immer penetranter.“ Sie meint uns. Zum Schutz der Kinder werde sie die
       „Diktatur der Minderheiten“ nicht akzeptieren. Ihr eindeutig auf Pädophilie
       anspielendes Postulat wurde vor wenigen Tagen auf Facebook veröffentlicht.
       Das wäre nicht weiter relevant, wenn die Frau nicht wahrscheinlich in den
       nächsten Bundestag einziehen würde. Sie hat einen sicheren Listenplatz: für
       dieselbe Partei, deren maroder Schlachtkreuzer über [2][eine Lesbe als
       Galionsfigur und als Rammsporn] verfügt.
       
       Breitseiten gegen das Bunte, Pinkwashing im braunen Sumpf, die interne
       Schmutzwäsche zum Trocknen raushängen? Nichts Neues beim Affentheater für
       Deutschland. Aber genau das birgt Gefahren in sich. Man gewöhnt sich an die
       „prolet-arischen“ Poltergeister im Parlament, wie man sich auch an
       Pegidist*innen, Querdenker*innen und Reichsbürger*innen gewöhnt
       hat, wie man sich an Begriffe wie „Schwuchtelbinde“ gewöhnt. Die Diktion
       und der Duktus der Demagogen waren immer, sind und bleiben
       menschenverachtend – und trotzdem fällt diese wüste Hetze kaum mehr auf.
       
       ## Wir haben genug gelitten
       
       Das Schicksal von Rudolf Brazda bezeugt, wie die Entmenschlichung bereits
       mit dem Wort anfängt. Es zeigt auch, was der robuste Wille zum Widerstand
       erreichen kann. Brazda, der im KZ Buchenwald inhaftiert war, galt als
       [3][der letzte Häftling, der den Rosa Winkel tragen musste]. Er starb fast
       hundertjährig, 16 Jahre nach der überfälligen Abschaffung des Paragrafen
       175.
       
       Pride geht nicht ohne Politik, auch und gerade heutzutage. Wir haben
       Stimmen. Wir müssen sie an der Urne abgeben, wir müssen sie überall
       erheben. Denn wir können es uns weder leisten, der Empörung überdrüssig zu
       werden, noch, Angst davor zu haben, als Vertreter*innen der Cancel
       Culture geoutet zu werden.
       
       Es sind die Homo- und Transphoben und die TERFs, die uns abkanzeln wollen.
       Gegen uns kämpfen sie mit harten Bandagen, sie freilich wollen mit
       Samthandschuhen angefasst werden, wenn wir Widerstand leisten. Dann
       inszenieren sie sich als Opfer progressiver, familienfeindlicher
       Machenschaften. Die Opferrolle sollten wir ihnen gerne überlassen.
       
       Wir haben genug gelitten. Es ist Zeit, dass wir erhobenen Hauptes in
       Erscheinung treten und unsere Ansprüche geltend machen. Das heißt auch, mit
       den demokratischen Parteien Tacheles reden, wenn ein Kandidat für den
       CDU-Vorsitz Homosexualität reflexhaft mit Pädophilie in Zusammenhang
       bringt oder die SPD sich mehrheitlich weigert, das unwürdige
       Transsexuellengesetz abzuschaffen. Mit allen legitimen Mitteln müssen wir
       uns Gehör verschaffen.
       
       ## Der Silberstreif entpuppt sich als graue Wolke
       
       Ich bin Jahrgang 1961. Im selben Jahr wurde in Berlin die Mauer gebaut. Ich
       allerdings erblickte das Licht der Welt im Schatten der Freiheitsstatue.
       Doch auch in den USA musste ich Mauern durchbrechen, Black und queer, wie
       ich bin. In meiner Jugend war alles politisch. Aufbruchstimmung lag in der
       Luft, Tränengas auch. 1969, als Judy Garland über den Regenbogen ging, sah
       ich live im Farbfernsehen den Aufstand entlang der Christopher Street.
       Flüchtige Szenen. Noch nicht ahnend, dass eine Schwarze trans* Frau namens
       Marsha P. Johnson den ersten Stein von Stonewall warf. Gays mussten sich
       wehren. Pride war immer politisch.
       
       1979 in San Francisco, am Anfang meiner Seeoffiziersausbildung,
       befand ich mich in einem tosenden Menschenmeer. Ein Doppelleben, ein
       Aufleben. Es war meine erste Pride-Parade. Wonne und Wutreden zugleich. Der
       Aktivist Harvey Milk war erschossen worden, die Aids/HIV-Krise brandete
       auf, Fundamentalist*innen dämonisierten uns. Wir mussten uns wehren.
       Pride war immer politisch. Mitte der 1980er im Jurastudium im Lande der
       unbegrenzten Freiheit erkannte ich das Ausmaß der strukturellen
       Diskriminierung gegen Gays, die damals leicht im Knast oder in der Klapse
       landen konnten. Wir mussten uns wehren. Denn Pride war immer politisch.
       
       Jahrzehnte später setzte sich Präsident Obama, zögernd, für LGBTQ-Rechte,
       [4][die gleichgeschlechtliche Ehe] und den Schutz der
       Transgendersoldat*innen, ein. Dann kam Trump, und mit ein paar Tweets
       und Dekreten warf er die mühsam erkämpfte Rechte um ein halbes Jahrhundert
       zurück. Auch heute, nach seinem Abgang, zielen US-Republikaner*innen
       feindlich auf die Rechte von Transgenderjugendlichen. In Europa, in Polen
       und Ungarn etwa, werden ähnliche Feldzüge geführt. Der Regenbogen wird
       überschattet, der Silberstreif am Horizont entpuppt sich als graue Wolke.
       Pride muss weiterhin politisch artikuliert werden. Weder die Visionen von
       [5][Magnus Hirschfeld] noch die Vorstöße von [6][Marsha P. Johnson] dürfen
       in Vergessenheit geraten.
       
       31 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.queer.de/detail.php?article_id=39494
 (DIR) [2] /Alice-Weidel/!t5403258
 (DIR) [3] /Christopher-Street-Day/!5179794
 (DIR) [4] /Entscheid-des-Obersten-US-Gerichts/!5207308
 (DIR) [5] /150-Geburtstag-von-Magnus-Hirschfeld/!5501995
 (DIR) [6] /Trans-Aktivisten-kritisieren-Netflix-Doku/!5453095
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michaela Dudley
       
       ## TAGS
       
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