# taz.de -- Transsexuellengesetz: „Deutschland ist kein Vorbild“
       
       > Intimste Fragen hätten nichts in der Bürokratie zu suchen, sagt Kalle
       > Hümpfner vom Trans*-Verband. Der nächste Bundestag solle das TSG
       > abschaffen.
       
 (IMG) Bild: Die CSD-Paraden gingen in diesem Jahr auch gegen das TSG auf die Straße. Hier Berlin Pride 2020
       
       taz: Kalle Hümpfner, der grüne Bundestagsabgeordnete Sven Lehmann spricht
       von Würdelosigkeit, Doris Achelwilm von der Linken fordert eine
       Entschädigung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Die Rede ist
       vom Transsexuellengesetz, kurz TSG. Was hat es damit auf sich? 
       
       Kalle Hümpfner: Das TSG regelt seit Anfang der Achtziger, wie trans*
       Personen ihren Vornamen und Geschlechtseintrag ändern können. Es greift
       massiv in ihr Leben ein und stand deshalb mehrfach vor dem
       Bundesverfassungsgericht. Bis 2011 mussten sich trans* Personen
       sterilisieren lassen, wenn sie einen Geschlechtseintrag ändern wollten; bis
       2008 war es notwendig, sich scheiden zu lassen.
       
       Heute müssen trans* Personen noch immer zwei Gutachten einreichen, für
       welche sie private Details über ihre geschlechtliche Entwicklung offenlegen
       und [1][intimste Fragen über sexuelle Vorlieben beantworten] müssen. Diese
       Übergriffigkeit hat nichts in einem bürokratischen Verfahren wie der
       Änderung des Geschlechtseintrags zu suchen.
       
       Immer wieder wird Kritik laut, dass durch das TSG
       Trans*geschlechtlichkeit mit einer psychischen Krankheit gleichgesetzt
       wird. 
       
       Richtig. Schon vor Jahren wurde durch die Weltgesundheitsversammlung
       festgestellt, dass es falsch war, trans* als psychische Störung zu
       klassifizieren. Eine allgemeine Pathologisierung aufgrund der
       geschlechtlichen Identität, wie sie durch die TSG-Gutachten stattfindet,
       ist eine starke Stigmatisierung.
       
       Klar, es gibt trans* Personen, die Depressionen oder Angststörungen haben –
       allerdings oft in Folge von Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Gewalt.
       Durch die Pathologisierung herrscht trans* Personen gegenüber Skepsis;
       ihnen wird schnell unterstellt, sie würden sich Vorteile erschleichen oder
       Verbrechen begehen wollen – beispielsweise auch durch die Änderung des
       Geschlechtseintrags.
       
       Warum nicht den Geschlechtseintrag komplett abschaffen? 
       
       Das ist eine spannende Frage, die 2017 im Zuge der Beratungen um die
       sogenannte dritte Option diskutiert wurde. Die Gesetzgebung entschied sich
       mit der Einführung des Eintrags ‚divers‘ für einen anderen Weg.
       
       Nun gibt es Stellenausschreibungen mit dem Kürzel m/w/d, und uns erreichen
       Anfragen, in denen sich Personen nach der sprachlichen Umsetzung einer
       geschlechtergerechten Anrede erkundigen. All diese Gespräche würden nicht
       geführt, wäre der Geschlechtseintrag abgeschafft und ein Vorschlag zu einem
       Selbstbestimmungsgesetz nicht debattiert worden.
       
       Geschlechtliche Selbstbestimmung trifft Bürokratie – kann das gut gehen? 
       
       Letztlich soll es bei geschlechtlicher Selbstbestimmung darum gehen, dass
       Menschen dem Standesamt erklären können, was ihr passender
       Geschlechtseintrag ist. Es bräuchte keine Gutachten, Atteste oder sonstige
       Hürden. Aktuell ist im TSG ein Amtsgerichtverfahren verankert, das
       zeitaufwendig und sehr kostspielig ist.
       
       All das könnte durch einen simplen Verwaltungsakt ersetzt werden.
       Verschiedene EU-Mitgliedstaaten haben das umgesetzt und gute Erfahrungen
       gemacht: Die Regelung hat einen positiven Effekt auf trans* Personen,
       fördert gesellschaftliche Teilhabe und empowert die Community.
       
       Im Gegensatz dazu sind die Vorlagen zur TSG-Abschaffung und zur Einführung
       eines Selbstbestimmungsgesetzes im Mai dieses Jahres gescheitert. 
       
       Innerhalb der EU ist Deutschland in Sachen Trans*-Rechte kein Vorbild. Die
       Abschaffung des TSG wird seit mehreren Legislaturperioden verschleppt. Es
       scheint, in Deutschland herrsche eine Politik in Reaktion auf Beschlüsse
       durch das Bundesverfassungsgericht – [2][welche wiederum auf Klagen von
       Inter*- und Trans*aktivist:innen zurückgehen].
       
       Die Regierung ergreift selbst keine Initiative. Es ist gut, dass es die
       Entwürfe der Grünen und der FDP für ein Selbstbestimmungsgesetz gab. Das
       Thema wurde im Bundestag besprochen und öffentliches Interesse geweckt.
       Allerdings waren es Vorschläge aus der Opposition, die aufgrund
       parteipolitischer Logik kaum eine Chance hatten, beschlossen zu werden.
       
       Die SPD hisst zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi- und
       Trans*-Feindlichkeit die Regenbogenflagge und stimmt zwei Tage später gegen
       die Vorschläge. Wie kommt das? 
       
       Zum Zeitpunkt der Abstimmung gab es einen Koalitionsvertrag, der die
       SPD-Bundestagsfraktion stark gebunden hat. Wir sehen das als Problem der
       Großen Koalition: Es ist unter Schwarz-Rot sehr schwierig, bei queeren
       Themen eine progressive Einigung zu erreichen.
       
       Wäre das bei Schwarz-Grün anders? 
       
       Unsere Hoffnung ist, dass durch die Bildung einer neuen Regierung das Thema
       TSG nach oben auf die politische Agenda rückt. Bei Schwarz-Grün wird es
       davon abhängen, ob seitens der Grünen Druck aufgebaut wird, ein
       Selbstbestimmungsgesetz einzuführen, das diesen Namen auch verdient.
       
       Mittlerweile haben Abgeordnete aller demokratischen Parteien anerkannt,
       dass es ein neues Gesetz braucht. Ich befürchte dennoch, dass nach den
       Wahlen weiterhin die starken Widerstände innerhalb der Union gegen ein
       Selbstbestimmungsgesetz fortbestehen.
       
       Nicht nur in AfD und Union ist die Rede von vermeintlichen
       Gender-Ideologien. Der Diskurs um Identitätspolitik suggeriert, dass queere
       Politik im Interesse einer akademisierten Elite, nicht aber der
       Arbeiter*innenklasse sei. 
       
       Es stimmt uns besorgt, dass es diese Diskussion in vielen Parteien gibt,
       sobald es um LGBTIQA+-Rechte geht. In der Debatte um [3][Wolfgang Thierse
       in der SPD] oder um [4][Sahra Wagenknecht in der Linken] werden ähnliche
       Diskurse wie auf rechter Seite bedient. Es ist sehr problematisch, dass
       hier keine Distanzierung von rechtspopulistischen Begriffen und Annahmen
       stattfindet.
       
       Es ist ebenfalls erschreckend, wie salonfähig Aussagen sind, dass es sich
       bei Antidiskriminierungsmaßnahmen um Anliegen einer Elite handle oder sich
       Minderheiten diktatorisch einmischten. Es ist wichtig, verschiedene
       Diskriminierungsverhältnisse zusammenzudenken. Kämpfe gegen Rassismus,
       Queer-Feindlichkeit, Klassismus, Sexismus und viele weitere
       Diskriminierungsverhältnisse in unserer Gesellschaft sind miteinander
       verbunden. Queerpolitik kann daher nicht unabhängig von Sozialpolitik
       gedacht werden.
       
       2 Aug 2021
       
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