# taz.de -- Digitale Klassengesellschaft: Mit der rosa Datenbrille am Pool
       
       > Das Netz sollte mal ein herrschaftsfreier Raum werden. Heute gibt es
       > Grundbesitz, Proletarier:innen und Ausbeutung wie überall sonst.
       
 (IMG) Bild: Schon in dem Online-Game „Second Life“ aus den 2000ern konnte man mit Immobilien Kohle machen
       
       Neun Parzellen virtuelles Land für umgerechnet 1,5 Millionen Dollar – die
       wurden im Februar auf der Gaming-Plattform „Axie Infinity“ verkauft. Das
       Krypto-Game, das auf der Blockchain Ethereum läuft, ist eine Art virtuelles
       Fantasialand, wo man pokémonähnliche Monster züchtet und in Kämpfe schickt.
       Die Macher:innen des Spiels wollen „digitale Nationen“ bauen.
       
       Es gibt mittlerweile eine Reihe solcher Spielewelten, wo Gamer:innen mit
       Kryptogeld und virtuellem Bauland spekulieren. So wurde in der Onlinewelt
       „Decentraland“ vor einigen Wochen ein Grundstück für umgerechnet fast eine
       Millionen Dollar veräußert.
       
       Die Grundstückspreise steigen also auch im virtuellen Raum. Im Gegensatz
       zum physischen Raum sind Grund und Boden im virtuellen Raum jedoch keine
       begrenzte Ressource. Es gibt außerdem keine Bauvorschriften, keine
       Maklergebühren, keine Grunderwerbssteuer. Das macht virtuelle Immobilien zu
       einem attraktiven Anlageobjekt. Auf der Jagd nach schnellen Gewinnen kaufen
       Kryptofonds ganze virtuelle Landstriche auf. Schon in dem Onlinespiel
       „Second Life“ blühte der virtuelle Immobilienmarkt. Die Chinesin Ailin
       Gräf, die 2007 mit ihrem Avatar zehn Prozent des verfügbaren Lands besaß
       und von CNN als „Rockefeller von Second Life“ bezeichnet wurde, ist in dem
       Spiel zur Millionärin geworden.
       
       Dass sich im virtuellen Raum solche – wenn auch instabilen – feudalen
       Strukturen etabliert haben (nichts anderes ist digitaler Großgrundbesitz),
       ist eine bemerkenswerte Entwicklung, schließlich war mit dem Internet die
       Utopie eines herrschaftsfreien Raums verknüpft. Das World Wide Web würde
       soziale Hierarchien einebnen, Güter dematerialisieren und [1][Orte
       bedeutungslos machen], so die Hoffnung. Doch selbst die größten Utopisten
       glaubten nicht, dass der „Information Superhighway“ den Weg in eine
       klassenlose Gesellschaft ebnen würde.
       
       ## Der Mensch bleibt billige Arbeitskraft
       
       Die postmodernen Denker Arthur Kroker und Michael A. Weinstein entwickelten
       in ihrem Buch „Data Trash“ (1994) die Theorie einer „virtuellen Klasse“:
       Die neuen „Cyber-Kapitalisten“ würden mit „kriegsähnlichen
       Kommunikationsstrategien“ Güter an sich reißen und das Web kontrollieren.
       Insofern würden sich im Cyberspace die Strukturmerkmale kapitalistischer
       Gesellschaften bloß reproduzieren.
       
       Es bedarf keiner Kühnheit zu behaupten, dass die GAFA-Konzerne (Google,
       Apple, Facebook, Amazon) den digitalen Raum kolonisiert haben: Milliarden
       Nutzer:innen bestellen die digitalen Felder – man möchte fast sagen:
       Monokulturen – und bekommen für ihre unbezahlte Datenarbeit kostenfreie
       Dienste. Falls sich jemand wundert, warum man bei Google auf einem
       Bilderrätsel Fahrzeuge oder Ampeln erkennen muss, um zu beweisen, dass man
       kein Roboter ist: So werden die Bilderkennungsalgorithmen der
       Google-Schwester Waymo trainiert.
       
       Durch die Gig Economy ist ein neues Prekariat entstanden, das durch die
       Fortschritte der Robotik und künstlichen Intelligenz immer stärker unter
       Druck gerät. Eine ganze Armada von Clickworker:innen schuftet in den
       Maschinenräumen der Tech-Konzerne: Sie kategorisieren Bilder und Videos,
       transkribieren Audiodateien oder sortieren den Müll. Nach Recherchen des
       Guardian beschäftigt allein Google rund 100.000 Zeitarbeiter:innen, die für
       den Kartendienst Google Maps Straßenzüge abfahren, Youtube-Filter
       trainieren oder Bücher scannen.
       
       Die Tragik besteht darin, dass der Mensch noch immer die billigere
       Sortiermaschine ist. Doch die Frage, ob Clickworker:innen eine Klasse
       im marxistischen Sinn bilden oder nicht doch viel mehr die Vasallen eines
       digitalen Feudalismus sind, erscheint diskussionswürdig.
       
       ## Antikapitalistische Ansätze haben es schwer
       
       Das konstitutive Merkmal einer Klassengesellschaft ist nach Marx das
       Eigentum: Es gibt die herrschende Klasse der Produktionsmittelbesitzer,
       Bourgeoisie und Adel, und die Klasse der Besitzlosen, das Proletariat, das
       außer seiner Arbeitskraft nichts hat. Die Produktionsmittel, mit denen
       heute Mehrwert generiert wird – Suchmaschinenalgorithmen zum Beispiel –
       stehen im Eigentum großer Konzerne. Und haben den Vorzug, dass sie
       immateriell sind.
       
       Man kann den Google- oder Facebook-Algorithmus nicht wie einen Webstuhl
       zerstören, so sehr man manchmal Lust hätte, weshalb alle pauschal
       technikfeindlichen Anwandlungen ins Leere laufen. Auch der Gedanke, das
       Smartphone als Produktionsmittel zu bestreiken, erscheint verwegen – die
       Datenmaschinerie läuft ständig weiter. Nur, ihr Rohstoff gehört rein
       rechtlich niemandem – Daten sind nicht eigentumsfähig, sondern im Grunde
       herrenlose Sachen. Und wo es kein Eigentum (an Daten) gibt, kann es der
       marxistischen Theorie nach auch keine Klassen geben. Löst sich die
       Klassengesellschaft also in den Daten auf?
       
       Die Musiktauschbörse Napster machte bis zu ihrer Zwangsschließung 2001 die
       mächtige Musikindustrie zu Besitzlosen – da es noch kein tragfähiges
       Geschäftsmodell gab, konnten die Plattenfirmen ihre Songs im Netz nicht zu
       Geld machen. Die Filesharing-Plattform zeigt ein zentrales Paradox im
       Kapitalismus auf: dass sich jenseits von Marktkräften funktionierende
       Tauschwirtschaften etablieren können. Der Ökonom Jeremy Rifkin
       argumentierte bereits 2000 in seinem Buch „Access – Das Verschwinden des
       Eigentums“, dass menschliche Beziehungen nicht mehr über Eigentum, sondern
       über Vernetzung strukturiert werden.
       
       Genau das war ja immer die Forderung von anarcholibertären Aktivist:innen:
       Niemand darf im Netz etwas besitzen! Texte, Bilder, Musik – das Internet
       gehört niemandem und jedem. Der Plattformökonomie ist es gelungen, sich mit
       dem Smartphone als Kollektivierungsmaschine den digitalen
       Gemeinschaftsbesitz doch noch anzueignen. Sie hat den
       Social-Commons-Gedanken kapitalisiert. In der Sharing Economy teilt man
       nicht nur Wohnungen und Autos, sondern auch Texte und Gedanken. Selbst
       Wikipedia, die letzte Bastion, die der kommerziellen und auch kulturellen
       Vereinnahmung widerstehen konnte, wird von Amazon als Trainingsmaterial
       für seine Sprachassistentin Alexa genutzt. Der Marxismus wird hier
       dialektisch umgekehrt: Die Abschaffung des Privateigentums, die Hand in
       Hand mit der Aufhebung der Privatsphäre geht, dient nicht der Schaffung,
       sondern der Aneignung von Gemeinschaftseigentum.
       
       ## Vorsicht Utopie!
       
       Um sich nicht dem Verdacht der Enteignung auszusetzen, gerieren sich die
       Tech-Konzerne als Treuhänder und ummanteln ihre Geschäftspraktiken zuweilen
       mit einer klassenkämpferischen Rhetorik. So gab es bei Google eine „Data
       Liberaton Front“, deren revolutionäres Logo eine zur Faust geballte Hand
       zierte. Die Botschaft: Wir befreien eure Daten!
       
       Facebook baut derweil an einem [2][„Metaverse“], das in der Romanvorlage
       von Neal Stephensons „Snow Crash“ auch die Geschichte einer Überwindung von
       Klassenstrukturen erzählt: Der Romanheld Hiro, der als Pizzakurier für die
       Mafia arbeitet, flieht aus der kapitalistischen Dystopie mit bankrotter
       Regierung und galoppierender Inflation in die neue Welt des Metaversums, wo
       er ein schönes Haus besitzt. Wo das Versprechen von sozialem Aufstieg in
       den Industrienationen brüchig geworden ist, kann es in der virtuellen
       Realität eingelöst werden. Künftig könnten wir uns mit unserer Datenbrille
       mit unseren Avataren in dieses Paralleluniversum einklinken, Partys feiern
       und arbeiten. Im Metaversum gibt es keine Klassen, keine Konflikte, keine
       Kriminalität. Jeder kann nach seiner Fasson glücklich werden.
       
       Doch so verlockend diese Utopie auf den ersten Blick erscheint, so sehr
       drängt sich der Verdacht auf, dass soziale Probleme in der Matrix einfach
       wegprogrammiert werden. Wo man sich zur Arbeit teleportiert, sieht man
       keine Bettler oder Plakate am Straßenrand. Mit der rosaroten Datenbrille
       auf dem Kopf im Infinitypool seiner virtuellen Villa paddelnd merkt man
       auch nicht, dass man in einer viel zu kleinen und teuren Wohnung lebt.
       Dieser Derealisierungseffekt spielt letztendlich denen in die Hände, die
       mit für soziale Missstände wie Armut, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit
       mitverantwortlich sind: die Tech-Konzerne.
       
       19 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Wandel-der-Stadt-durch-das-Internet/!5773370
 (DIR) [2] /Zukunftsideen-der-Tech-Konzerne/!5789527
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Adrian Lobe
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Arbeiterklasse
 (DIR) Virtuelle Realität
 (DIR) Schwerpunkt Bundestagswahl 2021
 (DIR) Google
 (DIR) Schwerpunkt Armut
 (DIR) Amazon
 (DIR) Share Economy
 (DIR) Digitale Medien
 (DIR) künstliche Intelligenz
 (DIR) Online-Plattform
 (DIR) Debattenkultur
 (DIR) Roboter
 (DIR) Schwerpunkt Facebook
 (DIR) Digitalwirtschaft
 (DIR) Datenschutz
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Internet
 (DIR) Digital
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Studie zu Datenarbeitern: Harte Arbeit, niedriger Lohn
       
       Ohne Datenarbeiter würde KI, wie wir sie kennen, nicht funktionieren. Die
       Kehrseiten dieser Arbeit zeigt ein neues Forschungsprojekt.
       
 (DIR) Studie zu Arbeit für Online-Plattformen: Die Hoffnungen wurden enttäuscht
       
       Eine Studie zur Plattform-Ökonomie stellt fest: Arbeit im Internet wird
       viel schlechter bezahlt als analoge Arbeit. Es brauche EU-weite
       Regulierung.
       
 (DIR) Was heute politisch ist: Überall und nirgendwo
       
       Konsum und Lebensmittel werden zunehmend ideologisiert. Das ist Ausdruck
       einer Hyperpolitik: Alles ist politisch, aber immer weniger politikfähig.
       
 (DIR) Künstliche Intelligenz im Service: Die miauende Robo-Kellnerin
       
       Roboterdesign wirkt oft stereotyp, dabei steckt darin sogar utopisches
       Potenzial. Die Dienstleistungs-Zukunft könnte der KI gelten.
       
 (DIR) Facebooks eigene Regeln: Zu groß darf es nicht geben
       
       Plattformen wie Facebook schaffen sich nahezu ein eigenes Rechtssystem. Die
       Größe der Konzerne ist das Problem – eine Entflechtung wäre richtig.
       
 (DIR) Provisionen für Käufe in Apps: Apples Salamitaktik
       
       Der Tech-Konzern will auf einen Teil seiner Provisionen in App-Stores
       verzichten. Großzügig – doch warum dulden Gesetzgeber überhaupt derartige
       Monopole?
       
 (DIR) Scannen von iPhones durch Apple: Alles ist durchleuchtet
       
       Apple will Fotos beim Hochladen in die Cloud künftig auf Abbildungen
       scannen, die sexualisierte Gewalt gegen Kinder zeigen. Das ruft Protest
       hervor.
       
 (DIR) Protokolle zum Klassenkampf: Was ist heutzutage schon gerecht?
       
       Soziale Gerechtigkeit hat viele Aspekte. Wir haben 27 Menschen mit
       unterschiedlichen Perspektiven auf die Gesellschaft gefragt, was der
       Begriff für sie bedeutet.
       
 (DIR) Zukunftsideen der Tech-Konzerne: Science-Fiction wird real
       
       Digitalkonzerne bereiten sich auf das Metaversum vor, den Nachfolger des
       Internets. Wie genau es aussehen wird, ist aber noch unklar.
       
 (DIR) Wandel der Stadt durch das Internet: Das digitale Dorf ist segregiert
       
       Die ortlose digitale Gesellschaft war einst eine Utopie. In der Realität
       könnte sie spalten: in digitale NomadInnen und prekäre ArbeiterInnen.