# taz.de -- Wandel der Stadt durch das Internet: Das digitale Dorf ist segregiert
       
       > Die ortlose digitale Gesellschaft war einst eine Utopie. In der Realität
       > könnte sie spalten: in digitale NomadInnen und prekäre ArbeiterInnen.
       
 (IMG) Bild: Die Verlierer der Digitalisierung: Logistik-Mitarbeiter bei Amazon
       
       Geschlossene Geschäfte, verwaiste Plätze, leere Gebäude – das Coronavirus
       [1][hat pulsierende Metropolen in Geisterstädte verwandelt]. Viele
       Geschäfte und Angestellte werden nach der Krise nicht zurückkehren.
       Konzerne wie Facebook, Twitter, Spotify oder Goldman Sachs haben bereits
       angekündigt, dass ihre MitarbeiterInnen künftig von überall arbeiten können
       – auch von zu Hause. Das Amerika-Hauptquartier von Spotify, das sich über
       16 Stockwerke im noblen 4 World Trade Center erstreckt und nach
       Medienberichten 2,77 Millionen US-Dollar Miete im Monat kostet, wird wohl
       nie wieder voll sein. Auch andere Unternehmen geben teure Büroflächen auf
       und lassen ihre MitarbeiterInnen im Homeoffice arbeiten. Das spart Geld und
       Platz.
       
       Das Open-Source-Softwareunternehmen GitLab hat die
       Work-From-Everywhere-Kultur schon vor Jahren etabliert: Die rund 1.300
       SoftwareingenieurInnen schrauben von ihrer heimischen Werkbank aus in über
       60 Ländern an Codes, auch der Vorstand arbeitet von zu Hause aus. Büroräume
       gibt es keine, Meetings finden ebenso virtuell statt wie
       Bewerbungsgespräche. Manche ProgrammiererInnen sind sich noch nie im realen
       Leben begegnet. Wenn man sich die jüngste Entwicklung anschaut, fragt man
       sich, warum Homeoffice noch nicht viel früher eingeführt wurde.
       
       Der Schriftsteller Willam Knoke entwickelte in seinem 1996 erschienenen
       Buch „Kühne neue Welt“ die Utopie einer „ortlosen Gesellschaft“ (placeless
       society), einer Gesellschaftsform, in der Orte keine Rolle mehr spielen.
       Neue Technologien wie Hyperschallflugzeuge oder das Internet würden die
       Welt zu einem elektronischen Dorf machen, wo es völlig egal ist, ob man in
       Mumbai oder München sitzt. Ein Versicherungsvertreter, so Knokes Vision,
       könne von zu Hause aus arbeiten, eine Computerfirma ihre Software in einer
       Kleinstadt in Utah schreiben, Konzerne und NGOs Sitzungen in Telepräsenz
       abhalten. Klingt alles wohl bekannt und vertraut.
       
       In der Utopie der „ortlosen Gesellschaft“ steckt auch eine radikal
       antikapitalistische Idee, die schon immer zum Cyberspace gehörte: die
       Umverteilung von Grund und Boden. Denn wenn Orte keine Rolle spielen, fällt
       auch ein zentraler Produktionsfaktor weg: der Standort. Wenn Informationen
       über Daten-Autobahnen um den Globus gejagt werden, ist es egal, ob der
       Programmierer in einem sündhaft teuren Büro in San Francisco oder bei sich
       zu Hause am Küchentisch in einem schmucklosen 1-Zimmer-Apartment in
       Buxtehude sitzt. Und es ist auch egal, ob ein älterer Mensch in der Stadt
       oder auf dem Land wohnt, wenn er telemedizinische Sprechstunden in Anspruch
       nehmen kann. Das World Wide Web hat wie keine zweite
       Kommunikationstechnologie Distanzen relativiert.
       
       ## Das Gefühl, am selben Ort zu sein
       
       Microsoft hat vor ein paar Monaten eine Plattform präsentiert, wo mittels
       „Holoportation“ ein lebensechtes 3D-Abbild in ein virtuelles Setting
       eingefügt wird. MedizinstudentInnen aus aller Welt könnten sich aus ihrem
       WG-Zimmer mit einem VR-Headset in einen virtuellen Hörsaal einloggen und an
       einem holografischen Modell die Anatomie des Körpers studieren;
       IngenieurInnen aus aller Welt könnten in einer virtuellen Werkstatt an
       einem Motor schrauben. Man sitzt nicht einfach vor dem Bildschirm: Durch
       die Immersion entsteht das Gefühl, tatsächlich am selben Ort zu sein.
       
       Seitdem der Schriftsteller Neal Stephenson mit seinem Science-Fiction-Roman
       „Snow Crash“ 1992 einen Bestseller landete, hegt das Silicon Valley eine
       Obsession mit dem Metaversum, einer Art dreidimensionalem Internet, in das
       man sich mit seinem Avatar einklinkt. Ein ganz neuer Raum könnte entstehen,
       den man mit eigenen Regeln und Vorgaben bespielen könnte.
       
       ## Das World Wide Web ist exklusiv
       
       Doch so emanzipatorisch die Cyberpunk-Vision eines ortlosen Raums auf den
       ersten Blick erscheint – sie ist von der Wirklichkeit noch ein ganzes Stück
       entfernt. Denn natürlich macht es einen Unterschied, ob man in [2][der
       „Breitband-Wüste“ auf dem Land] oder in der Stadt mit schnellem Internet
       wohnt. Das World Wide Web, das vergisst man beim Sprechen über die
       Digitalisierung gerne, ist eine exklusive Angelegenheit. Nach Angaben der
       Internationalen Fernmeldeunion (ITU) sind noch immer weltweit 3,6
       Milliarden Menschen ohne Internetanschluss. Die Menschen in der
       Offline-Community können nicht einfach ins Homeoffice – sie müssen teils
       dutzende Kilometer ins nächste Internetcafé fahren, um eine E-Mail
       abzuschicken.
       
       Und auch das globale elektronische Dorf ist stark segregiert. Nicht jeder,
       der einen Internetanschluss hat, kann Dienstleistungen über das Netz
       erbringen. SupermarktkassiererInnen oder PflegerInnen müssen vor Ort sein.
       Die Polarisierung am Arbeitsmarkt zwischen den flexiblen „digitalen
       Nomaden“, die überall auf der Welt ihren Laptop aufschlagen können, und den
       ortsgebundenen „somewheres“ (David Goodhart) hat sich durch die
       Coronapandemie verstärkt.
       
       ## „Instrumente der Verdrängung“
       
       Der amerikanische Architekt William J. T. Mitchell spricht in diesem
       Kontext von „Instrumenten der Verdrängung“ (instruments of displacement):
       Elektronische Geräte wie Laptops oder Smartphones werden in einem ersten
       Schritt zu „Erweiterungen des mobilen Körpers“, um schließlich Teil der
       Architektur zu werden. Wo Café-Tische oder Klapptische in Flugzeugen zum
       Schreibtisch werden, sinke die Nachfrage nach „spezialisierten Plätzen der
       Informationsarbeit“ wie Büros oder Lesekabinen. Das mobile Büro ist
       überall.
       
       In den USA schießen sogenannte „Zoom Towns“ wie Pilze aus dem Boden,
       Mittelstädte in der Provinz, die hochqualifizierte Fachkräfte mit Prämien
       anlocken. So bietet die Stadt Tulsa in Oklahoma Zugezogenen einen Bonus von
       10.000 Dollar an, wenn sie sich verpflichten, mindestens ein Jahr zu
       bleiben. Auch im texanischen Austin haben sich Unternehmen wie eBay,
       PayPal, Microsoft und Facebook angesiedelt. Das nächste Silicon Valley,
       sagen Analysten, ist nirgendwo – es ist mehr eine Idee, die im Raum
       verteilt ist.
       
       ## Konsumtempel werden zu Lagerhallen
       
       Das Internet und seine mobilen Apparaturen [3][werden – befeuert durch
       Corona – die Raumstruktur grundlegend verändern]. Die Innenstädte als
       Zentren des Konsums, Handels und Wissens stehen zur Disposition, weil
       Waren- und Informationsströme in den digitalen Raum abfließen und dort
       durch algorithmische Systeme viel besser kanalisiert werden können. Der
       Online-Riese Amazon, der größte Profiteur der Pandemie, hat zwischen 2016
       und 2019 in den USA [4][25 Shopping-Malls in Logistikzentren
       transformiert], weitere Umwandlungen sind geplant. Einst florierende
       Konsumtempel werden zu Lagerhallen.
       
       Wo Arbeit und Konsum zunehmend in den eigenen vier Wänden stattfinden, wird
       sich auch die Konsumlandschaft von Städten verändern: Geschäfte werden zu
       Showrooms, Parkhäuser zu Sportanlagen, Kinosäle zu Packstationen. Schon
       jetzt werden [5][Discotheken und Bordelle zu Testzentren umfunktioniert].
       Die postpandemische Stadt könnte sich noch mehr in einen kontaktarmen,
       klinischen Freizeitpark verwandeln.
       
       ## Gig Worker in verödenden Städten
       
       Während die mobilen Wissensarbeiter auf begrünten Radwegen an
       „Attraktionen“ wie Riesenrädern oder Schaufenstern vorbeiradeln und in
       Popup-Restaurants speisen, liefern [6][die von Algorithmen ferngesteuerten
       Gig Worker] im Akkord Pakete an die Haustür. Diese Menschen brauchen die
       Stadt zum Arbeiten. Und sie tragen auch das größte Risiko, dass ihre Arbeit
       automatisiert wird – etwa durch Drohnen oder Lieferroboter.
       
       Die scheinbar ortlosen Technologien werden den Ort als sozialen Marker
       verstärken: Die digitalen NomadInnen, die es sich leisten können, werden in
       den florierenden „Zoom Towns“ ihre Zelte aufschlagen. Die Gig Worker
       dagegen werden in den verödenden Städten und ihren teuren Mietwohnungen
       zurückbleiben.
       
       9 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.nytimes.com/2021/03/29/nyregion/remote-work-coronavirus-pandemic.html
 (DIR) [2] /Der-Staat-und-das-Homeoffice/!5745638
 (DIR) [3] https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2021/02/remote-work-revolution/617842/
 (DIR) [4] https://www.nbcnews.com/business/business-news/amazon-snapping-disused-shopping-malls-turning-them-fulfillment-centers-n1262914
 (DIR) [5] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/friedrichshafen/disco-in-konstanz-wird-zum-testzentrum-100.html
 (DIR) [6] https://qz.com/2006628/us-delivery-workers-are-losing-their-jobs/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Adrian Lobe
       
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