# taz.de -- Therapeut über die Psyche nach der Flut: „Es trifft immer die Armen“
       
       > Christian Falkenstein lebt im von der Flut zerstörten Ahrtal. Der
       > Psychotherapeut spricht über selbstlose Helfer, gute Nachbarschaft und
       > das Tal der Tränen.
       
 (IMG) Bild: Die Zerstörungen haben ein ganzes Tal verwüstet. Das Ahrtal bei Dernau am 19. August
       
       taz: Herr, Falkenstein, Sie sind selbst massiv betroffen? 
       
       Christian Falkenstein: Ja, unsere Familie wohnte unten im Tal in Dernau,
       alles ist größtenteils weg, das Haus überschwemmt, verwüstet bis zur ersten
       Etage, auf unabsehbare Zeit unbewohnbar. Aber wir haben in der Nacht noch
       den Keller räumen können; Werkzeug, Fahrräder, Computer, Papiere. Das haben
       wir im Dachgeschoss auf dem Schlafzimmerbett verteilt und drum herum. Im
       Gegensatz zu vielen anderen konnten wir ein paar persönliche Sachen retten,
       nur weil wir eine Etage mehr haben. Ansonsten geht es uns, ja: relativ gut.
       Wir sind weitgehend unverletzt, haben überlebt und sind jetzt in einer
       Ferienwohnung oberhalb der Ahr untergebracht.
       
       Fühlen Sie sich als Opfer oder Betroffener? 
       
       Opfer sind immer Menschen, die nach einer Katastrophe völlig hilflos
       zurückbleiben. Meine Frau und ich sind zumindest handlungsfähig geblieben.
       Es blieb das Handy, das irgendwann wieder funktionierte, eine Bankkarte.
       Opfer ist, wer sein Leben verloren hat oder, wie ein lieber Nachbar, der
       bis auf die kurze Hose und das Hemd am Leib alles verloren hat, alles.
       Vereinzelt haben sich Menschen danach das Leben genommen: Ein älterer Herr
       von 95, der hat gesagt, ich hab den Krieg durchgestanden, jetzt kann ich
       nicht mehr. Der hat sich erhängt.
       
       Gleich nach der Flut kam die große Hilfsbereitschaft. Hat Sie die
       Solidarität überrascht, gerade als Kenner der menschlichen Seele? 
       
       Das Ausmaß konnte einen wirklich nur staunen lassen und wie schnell. Am Tag
       danach kam ein Anruf zu uns durch, von Fremden, ob wir ein Bett für die
       nächsten Nächte brauchen. Dann waren Menschen in einer solchen Masse im
       Dorf! Rübenbauern kamen mit großen Traktoren und Baggern einfach den Berg
       runter und fingen, ohne groß zu fragen, einfach an, Schutt abzuräumen.
       Selbst aus Norddeutschland kam einer, Traktor auf dem Hänger, abladen und
       los. Die Jungs von der Freiwilligen Feuerwehr Kirchheimbolanden haben drei
       Tage am Stück gearbeitet, die haben sich geweigert aufzuhören.
       
       Es gibt viele Menschen, die reagieren auf Krisen, ob selbst- oder
       fremderlebt, mit Zupacken, mit Anpackreflexen. Die sagen, ich kann nicht
       anders, ich muss jetzt angreifen. Sonst kann ich dieses Trauma nicht
       überwinden. Etwas, wofür ich stehe, ist ins Ungleichgewicht geraten, und
       dann muss ich etwas tun, um das zu beseitigen. Und sie helfen einfach los.
       
       Sie haben in einem Facebook-Post geschrieben, Hilfsbereitschaft habe
       geholfen, den Mut nicht zu verlieren und die Würde zu bewahren. 
       
       Die Art des Helfens! Leute haben intimste Dinge aus dem Schlamm gerettet,
       Kleidung, Erinnerungsfotos; einer hatte im Dreck ein altes Hochzeitsbild
       gefunden und herumgefragt: Das ist doch bestimmt wichtig, wem kann das
       gehören? Man kann Dinge, neue Möbel zum Beispiel, so oder so aus dem
       Fenster werfen. Ich habe viele Menschen erlebt, die das mit Feingefühl
       gemacht haben. Gerade die ersten Helfer sind sehr taktvoll vorgegangen.
       
       Ob manche nur ihr Glück gefeiert haben, dass sie nicht betroffen waren?
       Oder mit Spenden ihr schlechtes Gewissen erleichtert? 
       
       Ich würde mir nicht anmaßen, über die Motivation zu spekulieren. Ich habe
       viel Betroffenheit erlebt, Klarheit und Ehrlichkeit. Die Anrufe von
       Halbfremden: Was braucht ihr, sollen wir kommen oder wollt ihr zuerst Geld?
       Nun bin ich ja wahrlich kein Schlechtverdiener, aber wenn alles erst mal
       weg ist, musst du lernen, Geld auch anzunehmen. Manche haben privat
       gesammelt und einen Briefumschlag mit tausend Euro darin abgegeben. Und
       gesagt: Verteilt es, wo es am nötigsten ist.
       
       Es gab zu wenige Warnungen, Behörden hätten alles verschlafen, heißt es
       überall. Hätte das geholfen? Wie war das bei Ihnen? 
       
       Ich weiß es nicht. Es ist wie an der Börse: Nachher sind immer alle
       schlauer. Nachher habe ich einen Bericht über die riesige Flut von 1804
       gelesen. Vorher kannte ich das nicht und wohl auch kein Landrat. Menschen
       vergessen gern. Die Aufarbeitung ist wichtig, damit es das nächste Mal
       hilft. Ja, man hätte besser warnen können. Es sind Menschen gestorben, und
       das ist ganz, ganz schlimm. Jetzt fragen wir: Wie bauen wir wieder auf und
       wo?
       
       Ich bin an dem Abend aus der Klinik die [1][Ahr] heruntergefahren und sah
       schon, das wird aber ein ganz schön kräftiges Hochwasser. Zu Hause hieß die
       Prognose Pegel dreimeternochwas; da weiß ich, das gibt ein paar Zentimeter
       Wasser im Keller wie damals 2016. Als dann abends im Radio kam, in Altenahr
       ginge der Pegel in der Nacht wohl bis über sechs Meter, da wusste ich als
       logisch denkender Mensch: Das wird richtig mies, Keller voll, Straßen unter
       Wasser. Dass dann Wasser auf vier Meter Höhe durchschießen würde, hätte ich
       niemandem geglaubt. Ich weiß nicht, ob ich gegangen wäre. Das
       Unvorstellbare ist dadurch gekennzeichnet, dass es unvorstellbar ist, weil
       wir keine Blaupause hatten. Die Flutlage war zu komplex. Vor Tschernobyl
       hat auch keiner Warnungen geglaubt.
       
       Oder was die Klimakatastrophe noch machen wird!? 
       
       Genau, wir hatten ja [2][Klimakatastrophe] en miniature. Dann über Schuld
       vor Ort zu urteilen, wie es manche tun, das ist jetzt würdelos. Aber es
       tangiert mich nicht, denn wer in dieser Nacht nicht im Tal war, der wird es
       nicht bis ins Mark spüren und verstehen, was mit uns passiert ist. Und wie
       gleichgültig uns das Wie, das Weshalb und Warum in Anbetracht der
       Unfassbarkeit der Geschehnisse noch ist. Das kommt später.
       
       Sie haben am Anfang das Wort „traumatisiert“ gebraucht. Inwieweit sind wie
       viele Menschen traumatisiert? 
       
       Ich glaube wirklich, dass jeder im Ahrtal traumatisiert ist. Es ist ja
       alles weg. Auch wer zum Glück höher lebt, ist traumatisiert, weil alle ihre
       Heimat verloren haben. Jetzt ist die Frage, wie die Menschen darauf
       reagieren. Wer vorher ein gutes soziales Netz hatte, einen sicheren Job,
       kann am Ende gut rauskommen, auch ohne Therapeuten. Wer schlechter dran
       ist, hat weniger Ressourcen, um das zu bewältigen. Es ist wie bei Corona:
       Es trifft immer die Armen!
       
       Ist die Verwurzelung denn so stark, dass die Menschen zurückwollen? Gehen
       Sie zurück? 
       
       Ja, aber ein, zwei Jahre wird das dauern. Viele Leute sagen mal so, mal so:
       Ja, nein, oder doch? Das hängt von vielem ab: Heute bekommst du noch eine
       Gänsehaut, wenn es nur kurz etwas mehr regnet. Ändert sich das mit der
       Zeit? Wird es wieder eine Infrastruktur geben? Wird mich je wieder jemand
       versichern? Manche müssen auch bleiben, weil sie sich bei einem nicht
       abbezahlten Haus nichts anderes leisten können. Sie wohnen jetzt auf dem
       Speicher, bauen unten, und die Kinder spielen im vergifteten Boden. Da wird
       mir ganz anders. Wieder trifft es die ohne große Ressourcen.
       
       Jetzt kommt der [3][30-Milliarden-Rettungsfonds] für Häuser, Infrastruktur
       und anderes. Wäre nicht so etwas wie ein Fonds für Seeleninfrastruktur
       sinnvoll? Wer will: zehn Stunden beim Therapeuten? 
       
       Generell geht das ja, theoretisch, in unserem Gesundheitssystem auch so
       schon. Das Problem ist aber gar nicht das Geld. Wenn Sie in der Gemeinde
       Altenahr in zehn Kilometer Umkreis suchen, wie viele kassenzugelassene
       Verhaltenstherapeuten es gibt …
       
       … dann findet man mit Glück zwei? 
       
       … es sind sogar vier oder fünf. Alle haben Wartelisten von mindestens einem
       halben Jahr, schon vor der Flut. Wenn Sie das auf hausärztliche Versorgung
       übertragen, würde jeder lauthals schreien: Skandal! Für akute Fälle ist
       viel passiert, Hotlines, Helfernetzwerke, auch von Kirchen und Seelsorgern,
       wirklich beeindruckend. Aber das ist kein Sprint, sondern ein Marathon.
       Menschen werden über Jahre Hilfe brauchen.
       
       Jetzt betäuben viele ihre Schmerzen mit Arbeit ohne Ende – kommt dann
       irgendwann Hoffnungslosigkeit? Ein Sisyphos-Gefühl? 
       
       Es gibt eine bekannte Kurve bei Schockereignissen: zuerst die Fantasie des
       Verneinens, dann dagegen ankämpfen. Wie beim Klimawandel, da lehnen sich
       zunächst alle dagegen auf und verneinen ihn, dann soll viel Technik helfen
       oder neue Kraftstoffe, von denen unser Verkehrsminister faselt. Jetzt
       werden auch im Ahrtal Riesenenergien hineingesteckt, um zu retten, was zu
       retten ist. Irgendwann gehen diese Energien aus. Dann kommt das Tal der
       Tränen. Dieses Tief werden wir bei den Menschen in den nächsten Wochen
       stark erleben.
       
       Und dann? Wie ist der Mensch gestrickt – bald wieder jeder für sich? Oder
       bleibt da Gemeinschaft? 
       
       Das hängt von der persönlichen Betroffenheit ab. Und vom kollektiven
       Gedächtnis. Es bleiben Symbolbilder, die sich einbrennen, etwa der
       Straßentunnel bei Altenahr, der älteste Deutschlands: Statt der Straße ist
       hinter dem Tunnel jetzt ein 15 oder 20 Meter tiefes Loch von blankem Fels.
       Das wird nie wieder sein, wie man es Generationen lang gekannt hat: So viel
       Erde und Bagger gibt es gar nicht, dass man das reparieren könnte.
       
       Menschen lernen im Kleinen. Niemand hier, der nach sechs Wochen noch durch
       die stinkenden Öllachen im ganzen Ort tapst, kauft sich wieder eine
       Ölheizung.
       
       Der Zusammenhalt mit der Nachbarschaft war nie so toll wie jetzt. Wir
       hatten kleine Mauern zwischen den Grundstücken. Die sind alle von der Flut
       weggerissen. Alle sagen jetzt: Die bauen wir nie wieder auf! Jetzt haben
       wir einen großen gemeinschaftlichen Garten. Das schweißt sehr zusammen, und
       das wird bleiben.
       
       Ist das ein Trost, diese Zukunftszuversicht? 
       
       Trost ist vielleicht nicht das richtige Wort … Es stimmt mich
       hoffnungsfroh. Kollektives Ertragen hilft. Ob unsere Katastrophe im
       kollektiven Gedächtnis bleibt, als Mahnmal zum Klimaschutz? Jetzt ist
       längst Afghanistan im Fokus, das ist viel schlimmer, da redet keiner mehr
       über die Ahr, völlig verständlich. Man darf Leid nie vergleichen, das ist
       immer individuell. Ich kenne das als Therapeut: Ich akzeptiere, wenn ein
       Patient traumatisiert ist, weil seine Katze gestorben ist.
       
       Was wir verloren haben, ist bloß viel Geld, Materie. Jetzt schmeckt die
       Bratwurst mit dem Nachbarn besser, als wenn ich in ein Sternerestaurant
       gehen würde. Und für den Sommer 2023 ist schon ein großes Helferfest
       geplant.
       
       26 Aug 2021
       
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