# taz.de -- Pastor Götz (95) über Gestern und Heute: „Ich pflege meine Sprachen“
       
       > Rudolf Götz ist 95, arbeitet immer noch als Pastor in Fürstenwalde. Er
       > liest die Bibel täglich in vier Sprachen. Ein Gespräch über Gott und die
       > Welt.
       
 (IMG) Bild: Rudolf Götz, hier mit seinen Tomatenpflanzen, man muss ihn sich als glücklichen Menschen vorstellen
       
       taz: Herr Götz, Sie haben vor drei Wochen Ihre Abschlusspredigt gehalten.
       War es wirklich die letzte? 
       
       Rudolf Götz: Offiziell schon (lacht). Aber nach meiner Predigt kam gleich
       der Gemeindeleiter und sagte: Aber Herr Pastor, wenn wir in Not sind? Ich
       sagte, na ja, dann will ich nicht so sein. Wissen Sie, auch Pastoren werden
       mal krank.
       
       Und Sie vertreten sie dann? 
       
       Ich könnte ja sagen: Pfeif drauf, ich bin Rentner. Aber soll ich hier faul
       herumsitzen?
       
       Also hören Sie nicht auf zu arbeiten? 
       
       Ich bin lieber in Bewegung und roste nicht. Ich muss kreativ sein, am
       Schreibtisch sitzen. Ich lese zum Beispiel täglich in meinen Bibeln. Ich
       will Ihnen mal zeigen, was wir lernen mussten. (Holt zwei Bibeln vom
       Couchtisch.) Schauen Sie mal: Hier auf der rechten Seite, das ist das
       Altgriechische, und links ist das Lateinische. Da kann ich immer
       vergleichen. Und in der anderen Bibel habe ich rechts den russischen und
       links den englischen Text. Ich pflege meine Sprachen.
       
       Brauchen Sie diese Sprachen noch? 
       
       Wenn ich die Predigt vorbereite, dann lese ich zunächst den altgriechischen
       Text, denn in dieser Sprache ist das Neue Testament geschrieben worden.
       Eine meiner letzten Predigten trug die Überschrift: Ich bin so unglücklich,
       was kann ich tun? Das altgriechische Wort für Glück bedeutet auch
       Zufriedenheit, dass man sich wohlfühlt, lachen kann und die ganze Welt
       umarmen möchte. Das ist alles in diesem einen Wort enthalten. Die Deutsche
       Sprache gibt das gar nicht so her.
       
       Ist es schwer, eine Predigt zu schreiben? 
       
       Es ist ganz unterschiedlich. Die Überschrift einer anderen Predigt lautete
       mal: Ich habe deine Tränen gesehen. Gott schickt den Propheten Jesaja zum
       israelischen König Hiskia und sagt ihm, dass er sterben wird. Hiskia wendet
       sein Angesicht zur Wand und weint bitterlich – Gott sieht das und sagt ihm:
       Ich schenke dir noch 15 Jahre Lebenszeit, weil ich deine Tränen gesehen
       habe. Meine Predigt handelte davon, dass jeder Mensch weint. Im
       altgriechischen Wort für weinen schwingt mit, dass beim Weinen alles
       beteiligt ist: Herz, Lunge, alle Organe, Muskeln, alles. Na ja. Jedenfalls
       war ich mit dieser Predigt in einer Stunde fertig. Wenn mich ein Text
       ergreift, ja dann geht das schnell. Aber manchmal habe ich mich auch
       schwergetan mit Themen. Jede Predigt braucht eine Linie, einen
       Grundgedanken. Und: je einfacher, desto besser. Keine hohen Worte.
       
       Hätten Sie in letzter Zeit beispielsweise über Afghanistan gepredigt? 
       
       Ja. Ich hätte über Hilfsbereitschaft gesprochen. Zur Zeit der DDR musste
       ich oft vorsichtig sein. Unsere Kinder hatten gute Noten, aber die beiden
       Söhne durften nicht zur Erweiterten Oberschule, weil sie nicht in der FDJ
       waren. Das habe ich denen oft bei der Predigt aufs Brot geschmiert. Darum
       gibt es auch eine Akte über mich.
       
       Haben Sie die gelesen? 
       
       Ja, das war eigenartig (lacht). Die wussten alles.
       
       Sie sind ja bei einer Freikirche, bei den Siebenten-Tags-Adventisten. Gibt
       es da eigentlich große Unterschiede zu den Volkskirchen? 
       
       Kaum. Wir halten den Samstag heilig, aber das sind Äußerlichkeiten. Wie bei
       den anderen steht bei uns Christus im Mittelpunkt.
       
       Waren Sie vor der Wende am kirchlichen Widerstand beteiligt? 
       
       Ja, ich habe friedlich gestreikt. Tausende waren auf der Straße, und die
       Pastoren immer vorneweg. Aber als die jungen Leute Fenster einschmeißen
       wollten, haben wir das nicht zugelassen. Wenn man Kerzen in der Hand hat,
       kann man keine Steine werfen.
       
       Haben Sie als Pastor auch mit Geflüchteten gearbeitet? 
       
       Wir sind alle Flüchtlinge auf dieser Erde. Es gab so viele Kriege und
       Verpflanzungen. Nach dem Mauerfall habe ich in einem Asylheim als
       Dolmetscher gearbeitet. Ich hatte dort auch Ärger, manchmal wollten sie
       mich sogar verhauen, aber ich habe immer alle gut behandelt. Menschen aus
       33 Nationen, das hat meinen Horizont erweitert.
       
       Sicher war es hilfreich, dass Sie viele Sprachen sprechen? 
       
       Ich hatte beim Studium das Englische liegen gelassen und dann viel
       vergessen. Also musste ich mich mit 56 Jahren noch mal auf den Hosenboden
       setzen und am Abend an der Hochschule das Englisch-Abitur machen. Wir haben
       aber auch viele Russendeutsche in den Gemeinden. (Das Telefon klingelt,
       Rudolf Götz entschuldigt sich kurz.)
       
       Sie bekommen wohl noch viele Anrufe aus Ihrer Gemeinde? 
       
       Ja, sie rufen alle an, vor allem die Russendeutschen. Pastor Götz, können
       Sie mir helfen? Pastor Götz, wir haben Probleme! Pastor Götz, können wir zu
       Ihnen kommen? Ja, und dann sitze ich hier mit ihnen (lacht).
       
       Wie kam es denn dazu, dass Sie so gut Russisch können? 
       
       Wir hatten während des Studiums einen tollen Dozenten. Er hat uns ein gutes
       Fundament gelegt. (Er beginnt, ein Verb auf Russisch zu deklinieren.)
       Später habe ich bewusst versucht, die Sprache weiterzuentwickeln. Und hier,
       in der DDR, waren ja so viele russische Soldaten. Manchmal habe ich sie zu
       uns nach Hause eingeladen. Wenn ich in einem Geschäft war und Soldaten
       getroffen habe, habe ich sofort meine Hilfe angeboten. Einmal um zu lernen,
       und zweitens, um Menschlichkeit zu zeigen. Hier ging es auch im Werte. Sie
       konnten ja nichts dafür, dass sie als Soldaten hier waren.Wissen Sie, ich
       war ja auch als junger Soldat allein in Frankreich.
       
       Möchten Sie von dieser Zeit auch ein wenig erzählen? 
       
       Wissen Sie, meine Dame: Ich möchte nicht im Mittelpunkt stehen. Aber ich
       höre immer wieder Menschen sagen, meine Generation sterbe aus. Das macht
       mir Mut zu erzählen.
       
       Vielleicht fangen Sie einfach am Anfang an? 
       
       Gern. Ich bin Bauernkind, Wolhyniendeutscher. Deshalb liebe ich bis heute
       die Gartenarbeit, baue immer noch selbst meine Tomaten und Kartoffeln an.
       Meine Großeltern sind aus Süddeutschland nach Wolhynien ausgewandert, also
       in die heutige Ukraine. Im Ersten Weltkrieg sind die Wolhyniendeutschen
       nach Sibirien verbannt worden. Meine Familie auch. Meine Großeltern sind in
       der sibirischen Stadt Orenburg an Hunger gestorben, auch andere
       Familienmitglieder haben es nicht überlebt. 1920 ist Wolhynien zwischen
       Polen und Russland aufgeteilt worden. Im polnischen Teil hatten die
       polnischen Freiheitskämpfer die Landwirtschaften der Wolhyniendeutschen
       besetzt. Mein Vater, der bei seiner Rückkehr Anfang zwanzig war, musste von
       vorn beginnen. Als Kinder mussten wir in den Schulen Polnisch lernen. Das
       war für uns anfangs schwer, aber Kinder lernen schnell und nach zwei Jahren
       konnten wir so gut sprechen wie die polnischen Kinder.
       
       Können Sie etwa auch noch Polnisch? 
       
       Die junge Frau, die mir im Haushalt hilft, bat mich kürzlich, sie in Polen
       auf Polnisch zu trauen. Da waren 70 Gäste, alle schön gekleidet, in einem
       herrlichen Park. Ich habe auf Polnisch gepredigt. Und ich wurde verstanden,
       zumindest haben sie das behauptet. (lacht). Aber ich musste mich natürlich
       sehr gut vorbereiten.
       
       Glauben Sie, dass Ihr guter Draht zu den Menschen, die aus Russland kamen,
       auch daher kam? Dass es Parallelen zwischen deren Geschichten und Ihrer
       Geschichte als Wolhyniendeutscher gibt? 
       
       Es ging mir eher darum zu helfen, entgegen zu kommen. Meine eigene
       Geschichte habe ich längst vergessen. (lächelt verschmitzt)
       
       Sind Sie noch einmal in Wolhynien gewesen? 
       
       Ja, und ich wusste noch ganz genau, wo alles gestanden hatte: das Haus, der
       Stall, die Scheune. Ich war ein Teenager, als wir Wolhynien verlassen und
       uns rund ums heutige Łódź ansiedeln mussten. Als mein Zwillingsbruder und
       ich 17 Jahre alt waren, hat der Vater uns dann in die Agrarfachschule
       geschickt. Und mit 19 bin ich Soldat geworden. 1943 war das. Ja.
       
       Zwei Jahre vor Kriegsende. 
       
       Es war ein schrecklicher Krieg. Mein Cousin und ich, wir haben in Marburg
       an der Lahn eine harte Ausbildung bekommen, immer an den Waffen, an der
       Vierlingsflak zur Abwehr von Tieffliegern. Dann ging es über Fulda nach
       Frankreich, zunächst an die spanische Grenze, an den Golf von Biskaya, um
       Bunker auszubauen. Wir haben in Zelten geschlafen, wir hatten immer Hunger.
       Wir waren Besatzungsmacht und nicht beliebt, wenn wir mal Ausgang hatten,
       sagten die Franzosen „Allemand! Boche!“ zu uns. Wir haben ihnen das aber
       nicht übel genommen, denn natürlich haben sich die deutschen Soldaten
       überall furchtbar verhalten, haben Dörfer angezündet und Frauen
       vergewaltigt. Da ist viel Unrecht geschehen. Ich schäme mich als Christ bis
       heute sehr dafür.
       
       Wie ging es weiter für Sie? 
       
       Als die Amerikaner in Frankreich landeten, mussten wir Tag und Nacht bis in
       die Vogesen marschieren und dann Wochen und Monate im Schützengraben
       kämpfen. Wir haben jede Minute gedacht, jetzt ist es aus. Ich konnte leider
       gut schießen, also musste ich einen Lehrgang zum Scharfschützen machen, als
       Christ! Sie wollten meinen Cousin und mich sogar bei der SS haben. Da sind
       wir weggelaufen. Das waren brutale Soldaten.
       
       Haben Sie jemanden getötet? 
       
       Ich hätte an der Front viele Menschen erschießen können, Sie können mir
       glauben. Ich hatte ein Schnellfeuergewehr. Einmal hat der Feldwebel einen
       Schuss durchs Handgelenk bekommen und geschrien: „Götz, schießen Sie!“ Da
       war eine Wiese vor uns, und da kamen sie ungedeckt. Ich habe geschrien:
       „Ich schieße ja!“ Aber ich habe immer danebengeschossen. Bei diesem
       Wirrwarr konnte das niemand sehen. Ich kann mit gutem Wissen sagen, dass
       ich niemanden bewusst erschossen habe. Allerdings war ich auch kurze Zeit
       bei den Panzern, da mussten wir auf amerikanische Panzer schießen. Ich
       hoffe bis heute, dass die Soldaten heil rausgekommen sind.
       
       Haben Sie nie an Gott gezweifelt? 
       
       Nie. Wenn die Bomben schwiegen, habe ich immer in der Bibel gelesen. Das
       hat mich getröstet.
       
       Wie ist der Krieg für Sie ausgegangen? 
       
       Mein Cousin ist von einer Granate getroffen worden, er war etwa vier Meter
       von mir entfernt. Er war gleich tot. Ich habe ein daumenlanges Geschoss in
       die Wange und einen weiteren Splitter in den Hinterkopf bekommen. Der eine
       hat den Kiefer verletzt und zwei Zähne weggeschlagen, der andere die
       Schädeldecke durchschlagen, aber das Gehirn blieb unverletzt. Ich musste
       ins Lazarett in Bad Nauheim. Im März 1945 kam ich in Kriegsgefangenschaft.
       
       Wohin kamen Sie? 
       
       Ich wurde auf die andere Seite des Rheins geschafft. In meinem Lager waren
       120.000 gefangene Soldaten, ja, Sie hören richtig. Die meisten hatten keine
       Zelte und lagen bei Frost und Schnee unter freiem Himmel auf der blanken
       Erde, Mann an Mann, damit es ein bisschen wärmer war. Und ich war noch
       nicht ganz gesund, das war schlimm. Nach zwei, drei Tagen hatten wir Läuse,
       Läuse, Läuse. Am Anfang haben wir vier kleine Konservenbüchsen am Tag
       bekommen, vielleicht interessiert Sie das, in einer war ein bisschen Ei mit
       Kartoffeln, wie Kartoffelsalat, so etwas, oder Reis mit Tomaten,
       Limonadenpulver, das war ja gut, und Bohnenkaffee, aber wir konnten ja
       nicht kochen, wie denn, dann haben wir das runter gekaut. Nach dem
       Waffenstillstand haben wir am Tag manchmal vier rohe Kartoffeln bekommen,
       manchmal drei, und am Abend ein Stückchen schneeweißes Kommissbrot. Und
       dann mussten zehn Mann ein Stück Teilen. Da ist eine Decke ausgebreitet
       worden, und dann wurden mit dem Messer Zeichen gemacht, dann war eine
       Scheibe zu breit und man musste von vorn anfangen, man hat mit Andacht
       gegessen, kein Krümelchen durfte runter fallen, und wenn, dann hat man es
       von der Erde aufgehoben. Ich schäme mich zu erzählen, wie egoistisch der
       Mensch ist, wenn er Hunger hat. Erst im Mai wurden die ersten Gefangenen
       entlassen. Zuerst waren die Eisenbahner, die Grubenleute und die Landwirte
       dran, wegen der Infrastruktur.
       
       Und weil Sie, bevor Sie in den Krieg mussten, Landwirt waren, sind Sie
       relativ bald freigekommen? 
       
       Ja, und zwar ist da immer am Abend durch die Lautsprecher aufgerufen
       worden. Und da hörte ich eines Tages im Juli meinen Namen. „Grenadier
       Rudolf Götz, morgen zur Baracke soundso.“ Das war eine große Freude. Ein
       Tag des Glücks.
       
       Was passierte dann? 
       
       Ich musste vor Ort ein Jahr lang in Bad Nauheim in der Landwirtschaft
       arbeiten.
       
       Wann haben Sie Ihre Familie wiedergefunden? 
       
       Ich habe ja nie aufgehört, zu Gottesdiensten zu gehen. Dort hat man sich
       immer ausgetauscht, über die Flucht, woher man kommt und, und, und. So
       hatte ich mich mit zwei Krankenschwestern bekannt gemacht. Die kamen dann
       beim Gottesdienst in ihrem Heimatort mit einer anderen Krankenschwester ins
       Gespräch. Das war meine Schwester. Meinen Zwillingsbruder, der in den USA
       in Kriegsgefangenschaft war und nach seiner Rückkehr in Bottrop in der
       Zeche gearbeitet hat, habe ich durch das Rote Kreuz gefunden. Wir vier
       Geschwister haben uns immer gut vertragen.
       
       Und Ihre Eltern? 
       
       Meine Schwester hatte inzwischen herausbekommen, dass sie mit meiner
       kleinsten Schwester geflüchtet waren und nach Oberthau bei Schkeuditz
       gekommen sind. 1946 sind wir zu ihnen gefahren. Und ich habe da zunächst in
       der Landwirtschaft mitgearbeitet. Aber eines Tages hat uns mal ein Pfarrer
       besucht und gesagt: Hei, Rudi Götz, ich will dich nach Friedensau schicken.
       Da ist eine theologische Hochschule der Siebenten-Tags-Adventisten. Da habe
       ich dann eine Schnupperwoche gemacht und gesehen, wie die Studenten
       Sprachen und Geschichte lernten. Das hat mich so interessiert! Also habe
       ich 1950 angefangen, Theologie zu studieren. Da war ich 24 Jahre alt.
       
       Haben Sie auch wegen des Kriegs Theologie studiert? 
       
       Wohl weniger, aber vielleicht zum Teil. Ich habe gesehen, wie die Menschen
       sterben, und das hat mir so weh getan. Aber nein. Das war es nicht nur.
       Gott und die Welt, das hat mich interessiert. Ich war neugierig. Ich wollte
       lernen.
       
       War es für einen Landwirt eine Art sozialer Aufstieg, Theologie zu
       studieren? 
       
       Ich hätte als Landwirt in der DDR keine Perspektiven gehabt, denn die
       Landwirtschaften wurden dann ja alle kollektiviert, die meiner Eltern auch.
       Aber daran habe ich gar nicht gedacht, als ich mit dem Studium begann.
       
       Hatten Sie ein Stipendium? 
       
       Ja, aber das war wenig. Auf dem Campus gab es Landwirtschaft eine große
       Gärtnerei. Man hat gern Studenten genommen, die schon einen Beruf hatten,
       mit der Begründung, wer einen Beruf hat, der versteht die Kirchenleute
       besser. Nun ja, ich war ja ausgebildeter Landwirt und habe in der Gärtnerei
       gearbeitet. Man musste sehr fleißig sein. Der Tag begann mit dem Wecken um
       kurz vor sechs und endete um dreiviertel zehn am Abend.
       
       Sie waren sicher begabt? 
       
       Ach, das will ich gar nicht sagen (lacht). Viele sind mit den Sprachen
       nicht zurechtgekommen. Ich habe mich für die Sprachen sehr interessiert,
       das hat mich wohl gerettet.
       
       Bis wann haben Sie Theologie studiert? 
       
       Bis 1955. Und dann habe ich meine erste Stelle in Erfurt bekommen. Eine
       wunderbare Stadt. Aber kurz zuvor – Sie werden lachen …
       
       … ja? 
       
       An unserem Campus haben ja auch junge Damen studiert. Und viele haben sich
       auch während des Studiums verliebt, sind dann aber auf der Strecke
       geblieben. Also dachte ich, dass ich mich besser nicht verliebe. Aber dann,
       als ich nur noch ein halbes Jahr zu studieren hatte, da sah ich ein junges
       Mädchen und dachte sofort: Oh, ist das ein schickes Mädchen, die gefällt
       mir! In der Mensa kamen wir ins Plaudern. Und da fragten mich meine
       Kameraden: Hei Rudi, du bist wohl verliebt? Und ich sage: Ja, ich bin
       verliebt. Und da sagt mein Freund zu mir, der, der Chef in der Bibliothek
       war: Ich gebe dir den Schlüssel, dann könnt ihr euch da mal richtig treffen
       und euch erzählen. Da habe ich mich gut angezogen (lacht). Wir hatten ja
       als Studenten nicht viel, aber einen Anzug hatte ich doch. Und ich habe ihr
       einen Brief geschrieben, wann und wo wir uns treffen können. Und ich sitze
       also in der Bibliothek und schaue aus dem Fenster und denke, sie kommt
       nicht. Ich bin böse geworden. Aber nach zehn Minuten sehe ich sie über den
       Hof laufen, schön angezogen. Und so haben wir uns verliebt und sie ist
       meine Frau geworden. 2014 ist sie gestorben. Ich weine noch immer jeden Tag
       um sie.
       
       Was hat Ihre Frau in Friedensau gemacht? 
       
       Sie wollte Krankenschwester werden, hat das aber aufgegeben. Und wir haben
       in Erfurt mit wenig angefangen. Die Gehälter der Pastoren in der DDR waren
       schlecht, gleich welcher Couleur, katholisch, evangelisch, freikirchlich.
       289 Ostmark, das war alles. Aber es war auch gut so. Wir haben in der
       Kirche den Grundsatz, nicht mehr zu verdienen als ein durchschnittlicher
       Handwerker. Es soll Gerechtigkeit sein. Wir haben also nicht gemurrt – und
       meine Frau hat als Schneiderin dazuverdient. Wissen Sie, meine Dame, ich
       bin gegen diese ganze kapitalistische Ausbeutung. Diese Raffgier der
       Menschen, mich ärgert das! Ich sage immer in meinen Predigten: Schwestern
       und Brüder, Teilen ist angesagt!
       
       Da haben Sie recht. Wie ging es denn weiter für Sie? 
       
       Ich wurde oft versetzt. Von Erfurt acht Jahre nach Sondershausen. Dann ging
       es sechs Jahre nach Arnstadt. Dann acht Jahre Neuruppin, dann zwölf Jahre
       Finsterwalde. Und schließlich kamen wir hierher, nach Fürstenwalde.
       
       Sie wurden immer wieder entwurzelt, fast wie Ihre Eltern. 
       
       Es war schon schwer, einpacken und auspacken, einpacken und auspacken. Es
       gab immer Tränen, von uns und auch von den Gemeinden. Und dann die Kinder,
       die gute Zeugnisse hatten, die hat man dann in den neuen Schulen nicht
       respektiert, die mussten sich das alles immer wieder neu erobern. Als wir
       in Fürstenwalde angekommen sind, war ich 64 und kurz davor, in den
       Ruhestand zu gehen. Da haben wir beschlossen, dieses Haus zu bauen.
       
       Aber Sie sind dann gar nicht in den Ruhestand gegangen? 
       
       Offiziell schon. Aber dann kam die Perestroika, und in Russland sind die
       Kolchosen und Betriebe zusammengebrochen. Die Kirche bekam von der
       Bundesregierung 3,5 Millionen, um einzukaufen. Und dann haben die Herren
       gehört, dass ich mit der russischen Sprache befasst war, und haben mich
       angesprochen: Herr Pastor, würden Sie die erste Spendenaktion übernehmen?
       Ich war erschrocken, wusste nicht, ob ich das schaffe. Ich habe das alles
       mit meiner Frau besprochen und bin dann doch nach Moskau geflogen, um alles
       vorzubereiten. Und dann hat die Kirche große Lastwagen gechartert und mit
       Lebensmittelpaketen bepackt, in jedem Paket waren zehn Kilogramm, jedes
       enthielt Mehl, Zucker, Milchpulver, Bohnen, Margarine, Büchsen und alles,
       was dazu gehört. Die Lastwagen habe ich dann alle in Brest-Litowsk, heute
       Brest, abgeholt und an verschiedene Orte begleitet. 1991 war das.
       
       Wo haben Sie sie hingebracht? 
       
       Zum Beispiel nach Gorki, heute Nischni Nowgorod. Das Rote Kreuz hat uns
       geholfen, die wussten, wo die armen, kinderreichen Familien sind, die
       Rentner und Studenten, die zuerst Pakete bekommen sollten. Das war
       natürlich eine große Hilfe. Und in jener Zeit: Was gab es? Ich bin damals
       viel in Moskau in den Einkaufsläden herumgelaufen. Kraut. Und Möhren. Es
       hieß immer: Unsere Supermärkte sind leer gefegt.
       
       Haben Sie auch selbst Pakete verteilt? 
       
       Ja. Eines Tages stehe ich am Rande eines Marktplatzes, und da kommt eine
       alte Frau. Es schneit. Und es ist kalt. Über ihre Schuhe hat sie Strümpfe
       gezogen, damit sie nicht fällt. Und da spreche ich sie an. Großmutter,
       wohin? Sie: Ich will ein bisschen Milch und Brot kaufen. So vergrämt, so
       vergrämt. Ich rufe meinen Leuten zu, sie sollen ein Paket bringen und sage
       zu ihr, dass der junge Mann es ihr ins Quartier tragen wird. Sie ruft:
       Gott! Ein Engel ist gekommen! Wissen Sie, meine Dame, so etwas vergisst man
       nicht. Ich bin dann noch einige Male vond er Kirche nach Russland geschickt
       worden und habe das Land t kennen gelernt. Und da ist mir erst bewusst
       geworden, was uns mein Russischdozent damals gesagt hat: Ihr lieben
       Studenten werden noch erfahren, wie wichtig dir russische Sprache ist.
       Lernt! Lernt!
       
       Würden Sie heute gern noch einmal nach Russland fahren? 
       
       Das wäre schön. Aber ich würde auch gern noch einmal nach Frankreich
       fahren.
       
       Herr Götz, eine Frage hätte ich am Ende noch: Würden Sie in Ihrem Leben
       alles noch mal genauso machen? 
       
       Musik hat mich interessiert, aber vielleicht hätte es nicht ganz gereicht.
       Ich denke, ich würde wieder Pastor werden, obwohl es eine harte Arbeit ist.
       Wissen Sie: Trauungen habe ich sehr gern gemacht, wenn eine Frau schön
       geschmückt in die Kirche kommt, die kleinen Mädchen vorneweg und so weiter,
       und ich bin ihnen entgegengekommen, habe sie in die Kirche geführt, habe
       gepredigt, sie gesegnet, das war immer schön. Aber ich habe in meinem Leben
       auch viele Menschen beerdigen müssen. Es war mir immer schwer. Ich musste
       bei jeder Beerdigung gebetet, Gott gib mir Kraft, dass ich am Grab Trost
       spenden kann. Auch wenn mir jemand sein Herz ausschüttet, bewegt mich das
       bis in die Nacht hinein.
       
       3 Oct 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Lesestück Interview
 (DIR) Religion
 (DIR) Krieg
 (DIR) Brandenburg
 (DIR) Fremdsprachen
 (DIR) Altern
 (DIR) Literatur
 (DIR) Brandenburg
 (DIR) Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
 (DIR) Lesestück Interview
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kulturwissenschaftlerin übers Lesen: „Trösten kann auch dröge Theorie“
       
       Erbauliche Lektüre: Die Kulturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier kommt mit
       ihrem schönen Buch „Trost“ nach Göttingen.
       
 (DIR) Autor Alexander Kühne im Interview: „Da sind schon Narben geblieben“
       
       In den 80ern organisierte er Punkkonzerte in Brandenburg und eckte an, weil
       er Make-up trug. Alexander Kühnes Bücher über die DDR-Provinz widerlegen
       alte Klischees.
       
 (DIR) Georgine Kellermann über Coming-out: „Ich vermisse Georg nicht“
       
       Georgine Kellermann machte Karriere bei der ARD – unter einem Männernamen.
       Vor zwei Jahren hatte sie ihr öffentliches Coming-out als Frau.
       
 (DIR) Über den jüdischen Kaufhaus-Erfinder: „Ich bin da eher so reingerutscht“
       
       Als Geschäftsführer des Handelsverbandes vertritt Nils Busch-Petersen nicht
       nur den Einzelhandel. Er hält das Gedenken an Oscar Tietz wach.