# taz.de -- Doku über Rockband Velvet Underground: Vorposten einer neuen Zeit
       
       > The Velvet Underground haben das Prinzip Rock ’n’ Roll aufgebrochen. Der
       > Filmemacher Todd Haynes' hat das in einer Dokumentation eingefangen.
       
 (IMG) Bild: Avantgarde überall: The Velvet Underground
       
       Der dichte, durchdringende und düstere Sound von Velvet Underground, er ist
       in diesem Film von der ersten Sekunde an da. Der Bildschirm ist noch
       schwarz, ein Baudelaire-Zitat ploppt auf – „Music fathoms the sky“, Musik
       ergründet den Himmel –, da ertönt der erste langgezogene Bratschenklang von
       John Cale.
       
       Ein Mäandern, eine Schleife, es klingt so wie im Song „Venus in Furs“, und
       einen kurzen Moment glaubt man, jetzt könnte auch gleich [1][Lou Reed]
       einsetzen und die berühmten Zeilen singen: „Shiny, shiny, shiny boots of
       leather …“ Doch dann hört man schräge Noise-Töne, es dröhnt, es knirscht,
       es knarzt – und Cut.
       
       Diese Eingangssequenz deutet voraus auf das, was der Dokumentarfilm „The
       Velvet Underground“ sehr eindrücklich vermitteln wird: wie einmalig und
       wenig kategorisierbar diese New Yorker Band war. Regisseur des Films ist
       kein Geringerer als Todd Haynes. [2][Haynes hat über Bob Dylan 2007 die
       filmische Biografie „I’m Not There“] – ohne Übertreibung einen der tollsten
       Musikfilme of all times – gedreht und da schon mit sämtlichen
       Genre-Konventionen gebrochen.
       
       ## Ein paar Standards gibt es doch
       
       Haynes beginnt mit der Formierung der Gruppe Mitte der Sechziger, blendet
       Interviews und Stimmen der noch lebenden Mitglieder John Cale (Gitarre,
       Bratsche) und Maureen „Moe“ Tucker (Schlagzeug) sowie Archivaufnahmen von
       Lou Reed (Gesang, Gitarre), Sterling Morrison (Gitarre, Bass) und Nico
       (Gesang) ein; so viel Standards gibt es dann doch.
       
       Der Film verfolgt, wie Velvet Underground zur Hausband von Andy Warhols
       Factory wurden und dort aufwendig inszenierte Shows spielten. Warhol sorgte
       dann auch dafür, dass Nico Sängerin der Band wurde, und schuf nebenbei das
       wohl berühmteste Cover der Popgeschichte – heute kann man
       Warhol-Bananen-Shirts bei H&M kaufen.
       
       Und doch ist auch „The Velvet Underground“ eher poetisches Gesamtkunstwerk
       als Bandbiografie. Haynes setzt häufig Splitscreens ein, zuweilen ist der
       Bildschirm gar zwölfgeteilt. [3][Jonas Mekas, 2019 verstorbener
       Filmemacher] und Velvet-Underground-Weggefährte, sagt in einer
       Interviewsequenz, zu jener Zeit hätten sich die Künste gewandelt und der
       poetische Aspekt habe im Kino eine viel größere Rolle gespielt – Godard und
       die Nouvelle Vague prägten natürlich auch die New Yorker Szene.
       
       ## Porträt des damals noch schillernden New York
       
       Diese Einflüsse greift Haynes hier auf. Er zeigt tolle, lange
       Schwarz-Weiß-Sequenzen, lange Close-up-Aufnahmen, die Andy Warhol damals
       von Reed & Co machte. Zugleich ist der Film ein Porträt des damals noch
       schillernden New York geworden, man sieht Schlangen vor Nachtklubs,
       flackernde Lichter, Kneipen, tanzende Leute. Gewühl, Nacktheit, Wildheit.
       
       Die Bandgeschichte, auch das zeigt dieser Film, war eigentlich eine
       Geschichte fortgesetzter ungewöhnlicher Aufeinandertreffen. Da kam John
       Cale, klassisch ausgebildeter Musiker, der am liebsten Dirigent werden
       wollte, mit Lou Reed zusammen, der von klein auf Doo Wop und Rockabilly
       liebte und als Berufswunsch Rockstar angab.
       
       Dazu saß mit Moe Tucker eine Frau am Schlagzeug, die einen sehr eigenen,
       unrocknrolligen Stil pflegt – auch nichts, was man sich bei den Rolling
       Stones hätte vorstellen können. Und dann stieß später auch noch diese
       mysteriöse [4][Christa Päffgen aus Deutschland dazu (Nico)], die den Gesang
       im Pop völlig neu interpretierte.
       
       ## Sänger:innen, die anders intonierten
       
       Das Prinzip Rock ’n’ Roll brach die Band auf, vor allem dank John Cale
       integrierte sie Techniken der Minimal Music (Drones, Noise) in ihren Sound,
       und mit Lou Reed und Nico hatten sie Sänger:innen, die anders intonierten
       als alle anderen. Dazu kamen Texte über Sadomaso, Suizid und Drogen, „viele
       Radiosender haben unser Zeug deshalb nicht gespielt“, sagt Moe Tucker.
       
       David Bowie lobt in einer eingespielten Audiosequenz die texterischen
       Fähigkeiten Lou Reeds: „Die Art seines Schreibens … Bob Dylan hat eine neue
       Form von Intelligenz in die Pop-Lyrics gebracht, aber Lou Reed hat das in
       die Avantgarde transportiert, er hat sich auf Baudelaire und Rimbaud
       bezogen. Damals wurde diese Leistung überhaupt nicht als besonders
       erachtet.“ Velvet Underground waren wohl auf so vielen Ebenen Avantgarde,
       dass es fast nicht wundernimmt, dass ihre Bedeutung seinerzeit noch nicht
       erkannt wurde.
       
       Die Band markiert überdies eine Zeitenwende. Die Träume und Spinnereien der
       Hippies waren vorbei, die Band trug Schwarz und hatte keine Lust auf
       hübsche Melodien und blumige Texte („Wir hassten diesen
       Love-and-Peace-Scheiß“, sagt die heute 77-jährige Moe Tucker im Film).
       Velvet Underground bilden die ersten Vorläufer von Punk und Goth. Haynes
       schneidet das gegeneinander: Während Nico das morbide „Sunday Morning“
       singt, trällern The Mamas & The Papas nur ein Jahr davor noch ihr „Monday
       Monday“.
       
       Nachdem Lou Reed und John Cale sich überwarfen und Letzterer Anfang der
       Siebziger die Band verließ, lebte die Band vor allem noch von Reeds
       unerschöpflichem Repertoire an Popsongs, wurde aber auch musikalisch etwas
       konventioneller. Haynes gelingt es, collage- und montageartig das Wesen
       dieser großen, großen Band einzufangen, deren Songs bis heute überdauern
       und deren Musik, um mal das Baudelaire-Zitat abzuwandeln, Himmel und Hölle
       ergründet.
       
       15 Oct 2021
       
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