# taz.de -- Polnisch-belarussische Grenze: Auf der Reise nach Europa
       
       > Europa muss sich an der Ostgrenze seiner selbst vergewissern. Und die
       > Krise an der polnisch-belarussischen Grenze angehen.
       
 (IMG) Bild: Von der polnischen Polizei aufgegriffene Migrant*innen im Osten Polens
       
       Europas Herz schlägt derzeit in Usnarz Górny. Das ist ein Dorf an der
       polnisch-belarussischen Grenze, wo seit zwei Monaten afghanische
       Flüchtlinge campieren. Sie und viele andere werden von Alexander
       Lukaschenkos Regime dorthin gebracht, um die EU-Ostgrenze zu
       destabilisieren.
       
       Wie zuvor Lampedusa, so lässt auch die Situation in [1][Usnarz Górny] Rufe
       nach einem dringlichen Nachdenken über die europäische Identität laut
       werden. Polnische Behörden nutzen den Ausnahmezustand als Vorwand, um
       sowohl den Medien als auch Frontex den Zugang zur Grenzregion zu verbieten.
       
       Zugleich heißt es in Polen, die [2][Pushback]-Praktiken schützten Europa
       vor einer „Migrantenwelle“. Die PiS-Politiker stellen sich dabei als
       antemurale christianitatis dar – als Bollwerk der Christenheit, in
       Anspielung auf die alte messianische Doktrin von Polens Rolle in Europa. In
       einer kürzlich an die Presse durchgesickerten E-Mail bezeichnete ein
       Minister die Krise an der Grenze als „Geschenk“. Ein Blick auf die letzten
       Umfragewerte bestätigt, wie erfolgreich die Strategie der Regierung ist:
       Nach Monaten der Flaute liegt die PiS wieder stabil bei rund 35 Prozent.
       
       Das bedeutendste polnische Epos, „Pan Tadeusz“ von Adam Mickiewicz aus dem
       19. Jahrhundert, beginnt mit einer Anrufung der Tugend der
       Gastfreundschaft: „Das Tor weit offen steht und den Fremden versichert/
       Gäste sind willkommen und alle sind als Gäste eingeladen.“
       
       Wie die polnische Gastfreundschaft erblüht wäre, wenn man Mickiewicz'
       Worten an der Grenze Beachtung geschenkt hätte! Stattdessen wurden alle
       Afghanen, auch die Kinder, gewaltsam nach Belarus zurückgedrängt und von
       Hunden attackiert – ohne Asyl beantragen zu können.
       
       ## Religion als Ausrede für Grausamkeiten
       
       Die [3][polnischen Behörden] legen eine Grausamkeit an den Tag, die nur
       schwer zu begreifen ist. Grausamkeit und die Heuchelei, auf diese Art das
       Christentum zu verteidigen, kommen hier zusammen. Wie die Philosophin
       Judith Shklar einst bemerkte, ist diese Kombination stets mit Eiferei
       verbunden. Es entbehrt nicht einer dunklen Ironie, dass in denselben
       Wäldern, in denen jetzt Afghanen erfrieren, vor einigen Dutzend Jahren
       viele polnische Staatsbürger jüdischer Identität von sowjetischen Soldaten
       aufgehalten wurden beim Versuch, aus dem von Nazis besetzten Polen zu
       fliehen.
       
       Und Europa? Ohne Frage ist Lukaschenko für die aktuelle Situation
       verantwortlich. Aber seine Grausamkeit stellt unsere Werte auf die Probe.
       Die europäische Kultur ist voller Geschichten über Zeitreisen.
       Üblicherweise bietet darin die Zukunft Stoff für Besinnung. Die Novelle
       „The Time Machine“ von H. G. Wells von 1895 etwa steckt voller Besorgnis
       über die moralischen Dilemmata der damaligen Zeitgenossen.
       
       Aktuell werfen Reisen in die Vergangenheit ähnliche Fragen auf. Vor allem
       die Populisten zeichnen gern das Bild einer imaginären Vergangenheit mit
       einer besseren Gesellschaft, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Ihre
       modernen „Zeitreisen“ säen Chaos und Unfrieden. Es ist unmöglich, zu einem
       Europa zurückzukehren, das nicht durch globale Krisen gefährdet ist, denn
       ein solches Europa hat es nie gegeben.
       
       In Zeiten der Vergangenheitsverklärung muss sich Europa wieder ehrgeizige
       Ziele setzen. Heutzutage heißt das: Europäische Werte wie Menschenrechte
       und Rechtssicherheit. Zeitreisen können Hoffnung bringen – aber nur dann,
       wenn wir zusammen in eine gemeinsame Zukunft reisen.
       
       Aus dem Englischen: Nina Apin
       
       17 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Tote-an-polnisch-belarussischer-Grenze/!5797847
 (DIR) [2] /Buch-ueber-Flucht-nach-Europa/!5801925
 (DIR) [3] /Polen-schottet-sich-ab/!5793065
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Karolina Wigura
 (DIR) Jaroslaw Kuisz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kolumne Fernsicht
 (DIR) Polen
 (DIR) EU-Grenzpolitik
 (DIR) PiS
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Ajelet Schaked
 (DIR) Polen
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Flüchtlingskonflikt mit Belarus: Bundespolizei soll an Polens Grenze
       
       Was tun mit immer mehr Flüchtlingen aus Belarus? Innenminister Seehofer
       will die Bundesbehörden einschalten, die EU den Druck auf Minsk erhöhen.
       
 (DIR) Polnischer Tagebau Złoczew: Kohle bleibt im Boden
       
       Ein polnischer Bauer siegt gegen den staatlichen Energiekonzern PGE. Seiner
       Ein-Mann-Initiative hatten sich Tausende Menschen angeschlossen.
       
 (DIR) Migration über Belarus nach Deutschland: Zwischen den Fronten
       
       Belarus lässt Migranten durchreisen, um es der EU heimzuzahlen, Polen
       versucht die Einreise der Menschen zu stoppen. Ein Ortsbesuch nahe der
       Grenze.
       
 (DIR) Kontroverse um Israels Innenministerin: Die rechte Femme fatale
       
       Israels Linke ist verängstigt und fasziniert von Innenministerin Ajelet
       Schaked. Der Gegenseite gilt sie als „Licht in der Dunkelheit“.
       
 (DIR) Eskalation zwischen Polen und der EU: Der gefährliche Kurs der PiS
       
       Warschaus rechte Regierung lässt den Rechtsstreit mit Brüssel weiter
       eskalieren. Doch es gibt Hoffnung: die pro-europäische Bewegung um Donald
       Tusk.
       
 (DIR) Grenzregion zwischen Polen und Belarus: Zynischer Machtpoker
       
       Der Streit zwischen Polen und Belarus fordert erste Tote. Die EU darf dem
       grausamen Spiel nicht tatenlos zusehen, wenn sie neue Opfer verhindern
       will.