# taz.de -- Telemedizinische Abtreibungen: Mit Pillen und Videocall
       
       > Die Versorgungslage für Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ist
       > prekär. Ein Pilotprojekt aus Berlin ermöglicht jetzt den Abbruch von zu
       > Hause.
       
 (IMG) Bild: Die erste Tablette nimmt man zu Hause – während digital auf einen aufgepasst wird
       
       Es sei kein schönes Gefühl gewesen, sagt Irene Aumüller (Name von der
       Redaktion geändert). Die Arzthelferin in der gynäkologischen Praxis habe
       sie nur unfreundlich abgewimmelt, erzählt die 35-Jährige. Es war die vierte
       Praxis, die sie mit der Frage nach einem Termin für einen
       Schwangerschaftsabbruch angerufen hatte. „Danach war ich wirklich
       frustriert.“ Aumüller war ungewollt schwanger von einem Mann, mit dem sie
       nicht in einer Beziehung war. Als sie herausfand, dass sie schwanger war,
       wusste sie sofort: Sie möchte abtreiben. Und jetzt?
       
       Dieses „und jetzt“ ist nicht einfach. Denn der Schwangerschaftsabbruch
       steht in Deutschland unter Strafe. Straffrei ist er nur, wenn seit der
       Befruchtung nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind und die schwangere
       Person eine Konfliktberatung wahrgenommen hat, mit entsprechendem Nachweis.
       Die Schwierigkeiten beginnen dann aber erst: Die schwangere Person muss
       eine Praxis oder eine Klinik finden, die überhaupt Schwangerschaftsabbrüche
       durchführt. Allein die Zahl der ärztlichen Stellen, die Abbrüche
       vornehmen, ist laut Statistischem Bundesamt von 2.050 im Jahr 2003 auf
       1.110 im ersten Quartal 2021 gesunken – ein Rückgang um rund 45 Prozent.
       
       Das hat mehrere Gründe: Zum einen ist da die gesellschaftliche Tabuisierung
       des Abbruchs, die unter anderem damit zu tun hat, dass Abtreibung im
       Strafgesetzbuch geregelt ist – ein paar Paragrafen hinter Mord und
       Totschlag. Das Thema ist also oft mit Stigmatisierung und Scham verbunden.
       Der Schwangerschaftsabbruch ist in den vergangenen Jahrzehnten außerdem
       [1][zu einem ideologisch hart umkämpften Feld geworden].
       [2][Abtreibungsgegner*innen protestieren regelmäßig] vor Praxen und
       Kliniken, um Ärzt*innen unter Druck zu setzen, indem sie sie
       einschüchtern oder bedrohen.
       
       Weltweite Untersuchungen belegen, dass ein erschwerter Zugang zum
       ärztlichen Schwangerschaftsabbruch nicht zu weniger Abbrüchen führt,
       sondern nur zu mehr illegalen Abbrüchen oder zum Ausweg über das Ausland.
       Die Debatte hat den Boden der Rationalität aber schon lange hinter sich
       gelassen – zum Schaden der Betroffenen und der Ärzt*innen, die ihre Arbeit
       nicht frei ausüben können.
       
       ## Medikamentöse Eingriffe
       
       Dementsprechend schwierig ist es für Betroffene, eine Praxis oder eine
       Klinik zu finden, in der sie einen Abbruch vornehmen lassen können. Vor
       allem in ländlichen Regionen ist das ein Problem. Auch Aumüller, die in
       Sachsen auf dem Land lebt, ging es so. Für die Konfliktberatung ging sie zu
       Pro Familia, wo sie Kontaktdaten zu Praxen erhielt. Bei dreien dieser
       Nummern meldete sich niemand, bei der vierten wurde sie barsch darauf
       hingewiesen, dass es momentan keine freien Termine gebe. Sie fühlte sich
       alleingelassen, sagt sie, aber an ihrem Entschluss, die Schwangerschaft
       abzubrechen, habe das nichts geändert.
       
       Zur Not wäre sie auch ins Ausland gefahren. In die Niederlande, ergänzt
       sie. In den Niederlanden, muss man dazu wissen, sind Abbrüche bis zur 24.
       Schwangerschaftswoche legal. So weit kam es für Aumüller aber nicht. Denn
       die 35-Jährige fand auf der Liste von Pro Familia eine weitere Stelle, bei
       der sie sich melden konnte: Balance, ein Berliner Familienplanungszentrum,
       das gemeinsam mit die Organisation Doctors for Choice ein Pilotprojekt
       gestartet hat: medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche von zu Hause aus per
       Videokonferenz.
       
       Das mag auf den ersten Blick seltsam klingen. Deswegen erst einmal
       Grundsätzliches zum medikamentösen Schwangerschaftsabbruch: Dieser ist im
       Gegensatz zur operativen Methode weniger invasiv, da es keines
       instrumentellen Eingriffs bedarf. Die schwangere Person muss zwei Tabletten
       im Abstand von zwei Tagen nehmen, nach der zweiten Tablette kommt es zur
       Blutung, ähnlich wie bei einer Fehlgeburt. Das heißt allerdings auch, dass
       der Schwangerschaftsabbruch mitsamt den Begleiterscheinungen wie Schmerzen
       oder Übelkeit bewusster erlebt wird.
       
       Die medikamentöse Methode kann nur bis zum Ende der neunten
       Schwangerschaftswoche durchgeführt werden. Praxen und Kliniken bieten den
       medikamentösen Abbruch an, jedoch weitaus seltener als die operative
       Methode. Im Jahr 2020 wurden in Deutschland 29 Prozent der
       Schwangerschaftsabbrüche medikamentös durchgeführt. Zum Vergleich: In
       Schweden waren im Jahr 2020 96 Prozent aller Abbrüche medikamentös, in
       Großbritannien 88 Prozent. Dass Deutschland bei den medikamentösen
       Abbrüchen so hinterherhinkt, liegt unter anderem daran, dass die Methode
       selbst bei Ärzt*innen wenig bekannt ist und es wenige Fortbildungen zu
       diesem Thema gibt – was wiederum mit der Stigmatisierung und der
       Strafwürdigkeit des Abbruchs zusammenhängt.
       
       ## Home Use ist in anderen Ländern Standard
       
       Bei Balance wird dieser medikamentöse Abbruch nun via Telemedizin
       angeboten: Die erste Tablette wird zu Hause unter ärztlicher digitaler
       Aufsicht eingenommen, die zweite Tablette ebenfalls zu Hause, in Begleitung
       einer Vertrauensperson. Ist ein solcher medikamentöser Abbruch von zu Hause
       aus sicher?
       
       Alicia Baier ist eine der Ärzt*innen, die beim Berliner Beratungszentrum
       Balance tätig sind und die telemedizinische Abbrüche durchführen, auch bei
       Irene Aumüller. Zur Frage der Sicherheit sagt sie: „Auch Praxen und
       Kliniken geben die zweite Tablette – also die Tablette, die die Blutung
       auslöst – oft mit nach Hause.“ Die erste Tablette wird also in der Praxis
       eingenommen, die zweite zu Hause. Dieser sogenannte Home Use ist in
       Deutschland in vielen Praxen üblich, in Großbritannien und anderen Ländern
       auch schon Standard, sagt die Ärztin. Die Ärzt*innen geben den
       Patient*innen dann eine Nummer mit, unter der sie im Notfall rund um
       die Uhr erreichbar sind.
       
       Für die Frage nach der Sicherheit lohnt sich der Blick nach Großbritannien:
       Dort hatte die Regierung mit Beginn der Pandemie im März 2020 beschlossen,
       Schwangeren den medikamentösen Abbruch via Telemedizin zu ermöglichen, wie
       ihn heute auch Balance anbietet. Dieser telemedizinische
       Schwangerschaftsabbruch wurde in England eng wissenschaftlich begleitet.
       Dazu wurde der telemedizinische Abbruch mit Home-Use-Abbrüchen verglichen,
       bei denen die Schwangeren die erste Tablette in der Klinik einnahmen.
       
       Die Ergebnisse der britischen Studie zeigen: Die Schwangeren konnten den
       Abbruch wegen kürzerer Wartezeiten zu einem viel früheren Zeitpunkt der
       Schwangerschaft durchführen; die telemedizinischen Abbrüche waren genauso
       effektiv wie Abbrüche im Home Use. Und genauso sicher: In nur 0,05 Prozent
       der Fälle wurden ernsthafte Komplikationen wie schwere Blutungen
       festgestellt. 98,8 Prozent der telemedizinischen Abbrüche verliefen ohne
       Komplikationen oder Nachbehandlungen. Und: 80 Prozent der schwangeren
       Personen gaben an, dass der Abbruch zu Hause die bessere Option sei.
       
       ## Mehr als 50 Schwangerschaftsabbrüche
       
       So ging es auch Aumüller. „Ich habe mich von Anfang bis Ende gut aufgehoben
       gefühlt“, erzählt sie von ihrer Erfahrung bei Balance. Schon der erste
       Kontakt sei gut gewesen, sagt sie: „Ich sprach mit einer Ärztin, die mir
       alles genau erklärte.“ Nach dem Erstgespräch musste sie zu eine*r
       niedergelassenen Gynäkologin, um ein Ultraschallbild und einen Nachweis
       über die genaue Schwangerschaftswoche vorweisen zu können. Außerdem
       schickte sie den Konfliktberatungsschein und weitere Dokumente per Post zu
       Balance. Als alles anerkannt war, schickte Balance, ebenfalls per Post, die
       beiden Tabletten nach Hause zu Irene Aumüller. Unter digitaler Aufsicht der
       Ärztin nahm sie die erste Tablette ein. Nachdem sie diese gut vertragen
       hatte, nahm sie ein paar Tage später die zweite Tablette.
       
       Das Resümee von Aumüller: „Ich konnte in Ruhe alle meine Fragen stellen.
       Und als es so weit war, war ich zu Hause in geschützter und vertrauter
       Umgebung.“ Die Rückmeldungen der Patient*innen seien sehr gut, sagt
       Alicia Baier. „Die schwangeren Personen sind sehr dankbar für das Angebot.“
       Denn oft fühlten sich die Personen stigmatisiert und nicht ernst genommen.
       Außerdem könnte der telemedizinische Abbruch ein Weg sein, Personen zu
       erreichen, die medizinisch oft besonders schlecht versorgt sind, wie
       Migrant*innen oder Geflüchtete. Bisher hat Balance diese Gruppen noch
       nicht gut erreicht, berichtet Alicia Baier. Dazu müssten Informationen zum
       telemedizinischen Abbruch viel weiter verbreitet sein als im Moment. Und
       vor allem: Die Übersetzung der Informationsblätter in andere Sprachen und
       die Bereitstellung von Dolmetscher*innen für die ärztlichen Gespräche
       kosten – Balance hat schlicht nicht die Mittel dazu, das zu finanzieren.
       Bisher gebe es kaum Unterstützung oder Förderung, erklärt die Ärztin.
       
       Seit März 2021 hätten sie bei Balance etwas mehr als 50
       Schwangerschaftsabbrüche via Telemedizin durchgeführt, erzählt Alicia
       Baier. Viele der schwangeren Personen kämen aus ländlichen Regionen wie
       Baden-Württemberg oder Niederbayern. Alicia Baier würde sich wünschen, dass
       mehr Praxen telemedizinische Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Ganz
       wichtig sei aber nach wie vor, dass die [3][wohnortnahe Versorgung
       verbessert werde], betont sie. Der telemedizinische Abbruch enthebe Politik
       und Gesundheitssystem nicht der Pflicht, die medizinische Versorgung von
       ungewollt Schwangeren zu verbessern. Denn in jedem Fall müsse es für die
       Schwangeren eine Wahlmöglichkeit geben. Ob die schwangere Person in eine
       Praxis möchte oder sich zu Hause wohler fühlt – das muss ihr selbst
       überlassen sein.
       
       11 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Abtreibungen-in-Deutschland/!5808852
 (DIR) [2] /Abtreibungsgegnerinnen-in-Berlin/!5802335
 (DIR) [3] /Abtreibung-aus-Aerztesicht/!5777248
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gilda Sahebi
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Abtreibung
 (DIR) Schwerpunkt Paragraf 219a
 (DIR) Video
 (DIR) Medizin
 (DIR) GNS
 (DIR) Schwangerschaft
 (DIR) IG
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Paragraf 218
 (DIR) Kolumne Red Flag
 (DIR) Kolumne Krank und Schein
 (DIR) Paragraf 218
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Schwangerschaftsberatungsstellen: „Schlicht frauenfeindlich“
       
       Der Entwurf des Landeshaushalts 2024/25 sieht massive Kürzungen bei den
       Schwangerschaftsberatungsstellen vor. Der Paritätische kündigt Protest an.
       
 (DIR) Anne Spiegel über Ampelpläne: „Eine Frage der Haltung“
       
       Die neue Familienministerin will zuerst Paragraf 219a und das
       Transsexuellengesetz abschaffen. Sie trete nicht an, um einen
       Beliebtheitspreis zu gewinnen.
       
 (DIR) Diskussion über Corona-Maßnahmen: Bitte keine Impfpflicht!
       
       Durch eine Kampagne nach dem Bremer Modell hätte man die Impfquote erhöhen
       können. Die allgemeine Impfpflicht dagegen garantiert keine Erfolge.
       
 (DIR) Schwangerschaftsabbrüche: Petition will §218 streichen
       
       Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung will die Legalisierung von
       Abbrüchen. 86.000 Menschen haben die Petition unterschrieben.
       
 (DIR) Abtreibungen in Deutschland: Ein ideologisches Kampffeld
       
       Abtreibungsverbote wirken aus der Zeit gefallen, doch sie bestehen
       weiterhin, nicht nur in Polen. Selbst wenn sie das Leben der Schwangeren
       gefährden.
       
 (DIR) Debatte um Paragraf 219a: Niemand „bewirbt“ Abtreibungen
       
       Keine Frau entscheidet sich leichtfertig für einen Schwangerschaftsabbruch.
       Paragraf 219a aber tut so, als sei Abtreibung durch Werbung manipulierbar.
       
 (DIR) Zugang zum Schwangerschaftsabbruch: Auf verlorenem Posten
       
       Die medizinische Versorgung für ungewollt Schwangere wird vielerorts noch
       schlechter, als sie ohnehin schon ist. Aber es gibt Hoffnung.