# taz.de -- Wiederentdeckung von Solomon Nikritin: Sich als Kaktus ausprobieren
       
       > In Dessau werden die Theaterkonzepte des proletarisch orientierten
       > Künstlers Solomon Nikritin vorgestellt. Es gibt Parallelen zur Gegenwart.
       
 (IMG) Bild: Seine avantgardistischen Konzepte visualisierte Nikritin in Kartogrammen, dieses ist von 1924
       
       Dessau liegt nicht am Meer. Die Arbeit der Wellen kann dort im Museum der
       Bauhausstiftung aber dennoch geübt werden: Eine Schüssel mit grobkörnigem
       Sand steht bereit, dazu ein Sieb und eine größere Schüssel, in die der Sand
       gesiebt werden kann. Nur die feinsten Partikel und die kleinsten der Körner
       kommen nach intensivem Ruckeln durch. Strandsandsieben ist Arbeit. Bald ist
       der Arm lahm, der Strand gerade groß genug für eine Ameisenkleinfamilie.
       
       Diese Handlungsanordnung ist Teil der poetisch-philosophischen „Skipónic
       Vignetten“ von Ilya Dolgov. Der in Russland arbeitende Künstler stellt kaum
       im staatlich-institutionellen Kontext aus, nun aber gehören seine
       partizipativen Installationen zum Themenschwerpunkt „[1][Xist*innen: ein
       Metabolistisches Labor nach Solomon Nikritin“,] einem noch dieses
       Wochenende laufenden Programm mit Performances, Filmen und Installationen
       rund um die Idee von Nikritins Entwurf eines Projektionistischen Theaters.
       
       Dessen Wiederentdeckung, die das [2][Bauhaus Dessau] für sich beanspruchen
       kann, bietet eine spannende kunsthistorische Referenz: Sie eröffnet den
       Blick auf ein lebensnäheres Pendant zu den in der Weimarer Republik an der
       Bauhausbühne entwickelten, weitgehend sperrigen Tanz- und Theaterversuchen.
       
       Genau wie diese vor 100 Jahren entstanden, hat das Projektionistische
       Theater den erst um die letzte Jahrtausendwende vollzogenen „performative
       turn“ der Darstellenden Künste vorweggedacht. Damals wie heute ist, im
       konsumkritischen Sinn, der Prozess interessanter als das fertige Produkt.
       
       Solomon Nikritin (1898–1965) hat ein Jahr lang bei Wassily Kandinsky
       studiert und wurde bislang am ehesten als Maler wahrgenommen. Sein Werk
       wird größtenteils von den Sammlungen der Staatlichen [3][Tretjakow-Galerie]
       in Moskau sowie des Museums für Zeitgenössische Kunst im griechischen
       Thessaloniki verwaltet. Seine für den Ausstellungskontext entwickelten
       Theaterideen sind dagegen ausschließlich in russischen Archiven zugänglich.
       
       ## Zum Material werden
       
       Die Kuratoren Torsten Blume und Mikhail Lylov haben sie für das Dessauer
       Programm übersetzt und ausgewertet. Wie die meisten der
       Avantgardebewegungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts hat das
       Projektionistische Theater eine stark utopische Ausrichtung. Sein Material
       ist nicht der Text, sondern der menschliche Körper. Dieser soll durch das
       Verüben und Erüben von Gewohnheiten und Wahrnehmungen das Potenzial für
       mögliche Zukünfte liefern. Dabei gehe es jedoch, wie Torsten Blume zur
       Eröffnung sagt, nicht um das bürgerliche Ideal der Selbstverwirklichung,
       sondern vielmehr um eine Selbstwahrnehmung als „Material unter anderen
       Materialien“.
       
       Im Ausstellungstext schreibt er: „Das Projekt Xist*innen fragt in diesem
       Sinne danach, ob und inwieweit wir uns, ähnlich wie die
       Projektionist*innen der 1920er Jahre, als Konzeptpersonen ausprobieren
       können, die sich darin üben, ein Vorstellungshandeln für eine neue
       Verbundenheit und einen neuen Metabolismus der Koexistenz zu entwickeln,
       zum Beispiel als Sukkulentist*innen, Insektist*innen,
       Sphereist*innen, Imaginist*innen oder Nichtwachstumist*innen.“
       
       Eines der auf diesen Ideen aufbauenden Übungsfelder stammt in Dessau von
       der Künstlerin Anastasiya Kizlova. Ihre für Sukkulentist*innen, das
       heißt am Lebensprinzip von Kakteen Interessierte, entworfenen Schürzen und
       Überkleider („Succulent Therapy“) sind mit eingenähten Pads versehen, in
       denen das pflanzliche Wurzelwerk Halt finden kann. Getragen werden sollen
       die Kostüme bei Lesezirkeln, um so durch ausgestoßenes CO2 und Denkwärme
       einen Substanzaustausch mit den Mitbewohner:innen in der Kleidung zu
       ermöglichen.
       
       ## Setzt Energie frei
       
       Auf andere Art wird das Vorstellungsvermögen in der Installation „Follow
       me“ von Eugenia Suslova trainiert. Hier bekommen Xist*innen Anleitungen,
       um alles, was ihnen wichtig ist, in Icons zu visualisieren und auf den
       eigenen Zukunftsscreen zu projizieren sowie alles andere hinter sich zu
       lassen. „Erst eine Person, die den eigenen Körper und Geist (einschließlich
       der Emotionen) perfekt beherrscht“ – so zitiert der Text zur Ausstellung
       Nikritin –, „setzt ihre kreative Energie frei; um eine neue Gesellschaft zu
       bilden.“
       
       Denn für eine Gesellschaft, in der es „keine Autorität, keine
       Vollstreckung, keine Gefängnisse, keine Strafen, keine Richter usw.“ mehr
       geben wird, „ist es notwendig, als biologischer Organismus vollkommene
       Selbstbeherrschung zu haben.“
       
       Dieser Hypothese folgend sei es die theaterpädagogische Ambition der
       Projektionisten gewesen, „Phobien und Hass gegenüber anderen Körpern zu
       lokalisieren und zu überwinden und sozial-technologische Beziehungen neu zu
       gestalten“.
       
       ## Gefahr der Vereinnahmung
       
       Nikritins Konzepte waren einer ideologischen Vereinnahmung nicht gefahrlos
       ausgeliefert. Im Umfeld der breiten russischen Bewegung für „Proletarische
       Kultur“, die sich für eine Entprofessionalisierung der künstlerischen
       Tätigkeit nach der Oktoberrevolution einsetzte, wollte das
       Projektionistische Theater jedem Menschen die Freude an der Gestaltung des
       eigenen Lebens zugänglich machen. Da zur Lebensgestaltung aber auch die
       Arbeit gehört, und Arbeitsabläufe in ihrer Effizienz durchorganisiert und
       klassifiziert werden können, wurde Nikritins Theater 1923 ins Institut für
       Arbeitsforschung eingegliedert.
       
       Zum Instrument leninistisch-marxistischer Politik wurde es dennoch nicht –
       was mit an seinem philosophischen und experimentellen Ansatz gelegen haben
       könnte. Durch die Abwesenheit von narrativem Text und seinen Charakter als
       Versuchsanordnung – für die Akteure genauso wie für die Wahrnehmenden – war
       es kein Slogantheater. Vielmehr schien es nach Organisationsstrukturen
       eines Miteinanders im Begegnungsraum von Aktion und Kontemplation zu
       suchen.
       
       Der Kurator Mikhail Lylov, der mit Studierenden zur Eröffnung ein
       Stimmkonzert vorführte, interpretiert in heutiger Terminologie: „Für mich
       geht es darum, von einer Dominanz der Macht des Handelns, eines ableism,
       wegzukommen; hin zu einer Ermächtigung des Wahrnehmens. Daher ist
       Improvisation im Sinn einer Resonanzerfahrung ein wichtiges Mittel dieses
       Theaterbegriffs.“
       
       Durchsetzen konnte er sich nicht. Solomon Nikritin hat das Experiment in
       seiner zweiten Lebenshälfte ruhen lassen und im Wohnzimmer der durch seine
       Frau finanzierten Wohnung figurative Gemälde produziert. Seine Ideen aber
       sind im Spiegel der Ideenkunst eines Joseph Beuys oder zeitgenössischer
       Performancekunst wie Tino Sehgals weltberühmter „Situations“ heute umso
       spannender.
       
       12 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.bauhaus-dessau.de/offene-buehne/xistinnen.html
 (DIR) [2] /Bauhaus-Museum-in-Dessau/!5621038
 (DIR) [3] /Kunstszene-in-Russland/!5210226
       
       ## AUTOREN
       
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