# taz.de -- Fotobuch über Flüchtlingslager: Europas vergessene Kinder
       
       > Die Fotografin Alea Horst fuhr zu den Flüchtlingslagern auf Lesbos. Über
       > die dort lebenden Kinder hat sie ein eindrucksvolles Buch gemacht.
       
 (IMG) Bild: Leben im Containerlager: Zainab (12 Jahre, r.) mit ihrer Freundin Nida (11)
       
       Ja, muss das sein? Eine Fotodokumentation aus den Flüchtlingslagern auf
       Lesbos für Kinder? Haben die denn nicht schon genug damit zu tun, ihre
       Corona- und Klimakrisenangst zu bewältigen? Das werden die erwartbaren
       Reaktionen vieler Erwachsener auf dieses Buch sein. Zu denen gehöre ich
       nicht. Deshalb fange ich noch mal anders an.
       
       Zeitgenössische Kinder sind mit einem Bewusstsein für Krisen geboren. Es
       ist wohl niemandem gelungen, sie gänzlich vor unbehaglichen Wahrheiten zu
       schützen. Ich kann mich erinnern, wie einige Eltern versucht haben, das
       Foto mit dem toten Flüchtlingsjungen am Strand vor ihren Kindern zu
       verbergen. Diese Eltern müssen vor dem Buch „Manchmal male ich ein Haus für
       uns – Europas vergessene Kinder“ von Alea Horst und Mehrdad Zaeri keine
       Angst haben, denn es zeigt lebende Kinder, wie wir sie uns trotz aller
       Informationen nicht vorgestellt haben. Kinder wie unsere.
       
       Die Fotografin Alea Horst hat eine Fotodokumentation mit berührenden
       Kinderbildern aus den Flüchtlingslagern auf Lesbos gemacht. Ergänzend zu
       den Fotos hat sie die Kinder interviewt, so dass die aussagestarken
       Gesichter auch eine Stimme bekommen. Sie erzählen von ihren Lebenswegen,
       ihren Situationen im Lager und ihren Hoffnungen. Sie erzählen einfach, klar
       und deutlich. Jeder Mensch kann sie verstehen, egal wie alt, und das
       Ungeheuerliche erfassen, an dem sich ihre kindliche Arglosigkeit abarbeiten
       muss.
       
       Während das neue Lager, das nach dem Brand von Moria errichtet wurde, aus
       der Luftperspektive sauber und ordentlich aussieht, stellt es sich in den
       Interviews anders dar. Verdreckte und zu wenige Toiletten, nur kaltes
       Wasser, selten Strom, verdorbenes Essen, matschige Wege und steiniger,
       unebener Boden, auf dem geschlafen werden soll. Die Zelte sind überbelegt,
       die Planen flattern im dauernden Wind und machen Lärm, das angsteinflößende
       Meer ist sehr dicht.
       
       [1][Das neue Lager ist abgeriegelt,] es dürfen keine Helfer mehr rein,
       dementsprechend gibt es keine Angebote mehr für die Kinder, von Schule ganz
       zu schweigen. Von den Kindern kommt eigentlich immer die Frage nach dem
       Warum. Sie wissen nicht, dass Griechenland hier exemplarische Abschreckung
       betreibt, dass sie Geiseln sind. Und dass Europa damit einverstanden ist.
       
       ## Das Engagement wurde zur Profession
       
       Alea Horst begann als erfolgreiche Familien-, Hochzeits- und
       Sozialfotografin, die die Menschen empathisch und authentisch abbildete und
       die die Freude, die Rührung und die Emotionalität der Augenblicke sichtbar
       machte. Bis sie 2016 die Berichte über die ankommenden Flüchtlinge in
       Griechenland nicht mehr aushielt.
       
       Es hatte sich ein schlechtes Gewissen angestaut, weil sie aus Angst vor dem
       Unbekannten das aus ihrer Sicht Notwendige nicht tat. Sie nahm sich ein
       Herz und ging als Helferin nach Lesbos. Mittlerweile ist ihr Engagement zur
       Profession geworden. Neben ihren Hilfseinsätzen hat sie den Verein Alea e.
       V. gegründet, der Hilfsprojekte, Aufklärung und Zukunftsbildung betreibt.
       Und sie dokumentiert weiter Lebensfreude, Hoffnung und Emotionalität – nur
       in schlimmen Verhältnissen.
       
       Auf die außergewöhnlichen Fotos von Alea Horst wurde der Klett
       Kinderbuchverlag aufmerksam und bat die Fotografin, den abgebildeten
       Kindern ein paar Fragen zu stellen, um daraus ein Sachbuch zu machen. Alea
       Horst fuhr zurück nach Lesbos, um genau das zu tun. Doch war es
       mittlerweile schwierig, überhaupt noch das Lager betreten zu dürfen.
       Fotografieren war bereits völlig verboten.
       
       ## Für Erwachsene beschämend
       
       Mit Sondererlaubnissen gelang es ihr, wenigstens mit ein paar Kindern zu
       sprechen. Die Antworten, die sie bekam, sind so realitätsnah und
       reflektiert, dass man keine Möglichkeit hat, sich vor ihnen zu verstecken
       oder sich von ihnen zu distanzieren. Sie kommen von Herzen und treffen voll
       ins Herz. Für Erwachsene ist das beschämend, für Kinder verständlich.
       
       Die im Buch abgedruckten Texte sind lediglich Auszüge aus den geführten
       Interviews. Die Auswahl entspricht einer kindgerechten Interpretation, in
       der nicht nur die miserablen Lebensumstände und traumatischen Erlebnisse
       der Kinder, sondern auch Zuversicht und Hoffnung zum Ausdruck kommen. Die
       ungekürzten Interviews finden sich zum Nachlesen auf der Webseite des
       Verlags. Vorsorglich sind sie mit einer Triggerwarnung versehen, die
       wahrscheinlich vor allem der Befindlichkeit besorgter Erwachsener Rechnung
       trägt. Vielleicht sogar jener Erwachsener, die sich in der Buchhandlung
       gern schon mal über die Altersempfehlung hinwegsetzen, weil der eigene
       Spross vermeintlich weiter sei als der Durchschnitt. Das vorliegende Buch
       jedenfalls hat die Altersempfehlung ab 8 Jahren.
       
       Es ist nicht verwunderlich, dass sich auch Schulen an dem Buch interessiert
       zeigen. Der Lehrplanreflex und das adulte schlechte Gewissen ordnen es
       allerdings eher in den Klassenstufen 5 und 6 ein, wo es in Fächern wie
       Politik, Geschichte oder Ethik einen Platz finden kann. Diesem Interesse
       will der Klett Kinderbuchverlag mit pädagogischem Begleitmaterial
       nachkommen, das bereits in Arbeit ist.
       
       ## Gespür dafür, was fehlt
       
       Ein besonderes Highlight des Buches sind die kleinen Zeichnungen von
       Mehrdad Zaeri. Der Künstler, der selbst 1985 als Flüchtling aus dem Iran
       nach Deutschland kam, entdeckte in den Aussagen der Kinder als
       allumgreifendes Thema „Zuhause“, schmuggelte in alle seine Vignetten ein
       Häusermotiv und beeinflusste damit maßgeblich den Titel des Buches. Seine
       Bilder lockern die Anordnung – Text auf der linken Seite, Foto auf der
       rechten Seite – spielerisch auf. Und erinnern so daran, dass es sich
       wirklich um Kinderschicksale handelt, um Kinder ohne Kindheit.
       
       Monika Osberghaus, die Verlagsleiterin von Klett Kinderbuch, hatte ein
       gutes Gespür dafür, was auf dem Kinderbuchmarkt fehlt: realistische,
       ehrliche Berichterstattung über eine Krise, die so unsäglich ist, dass wir
       Erwachsene sie gerne verdrängen. Wir empfinden unser schlechtes Gewissen
       als so belastend, dass wir es unseren Kindern gern ersparen wollen. Dabei
       haben Kinder [2][angesichts des Elends] kein schlechtes Gewissen. Warum
       auch, sie sind ja keine Akteure in dem Setting, das dieses Elend kreiert.
       Sie haben aber sehr wohl ein Gewissen und ein Problembewusstsein.
       Ahnungslosigkeit ist ein schlechter Zustand, um Probleme zu lösen. In jedem
       Alter.
       
       Insofern ist das Buch ein Mehrgenerationenbuch, auch wenn es Erwachsene
       gefühlsmäßig mehr am Schlafittchen packt als die Zielgruppe. Während sich
       die Kinder informieren und sehr wahrscheinlich über die Ausweglosigkeit
       wundern, können die Eltern sich mit ihren Skrupeln und Ausflüchten
       auseinandersetzen. Und sich in der Kommunikation mit den Kindern über das
       Buch geschlagen geben. Es gibt einfach keine Rechtfertigung dafür, wie die
       Flüchtlinge behandelt werden. Und etwa die Hälfte davon sind Kinder.
       
       ## Aktionswoche in Leipzig
       
       Flankiert wird das Buch von vier Wanderausstellungen. Die
       UNO-Flüchtlingshilfe empfiehlt das Buch nicht nur ausdrücklich mit seinem
       Logo auf der letzten Seite des Buches, sondern finanziert auch zwei dieser
       Ausstellungen, die in Schulen, Sparkassen, Bibliotheken und anderen
       öffentlichen Räumen gezeigt werden sollen. Zwei Ausstellungen stemmt der
       Verlag selber und spricht damit die Buchhändler an. Außerdem wird es im KuB
       Leipzig eine Aktionswoche geben (31. 5. bis 5. 6.), die unter dem Titel
       „Was können wir tun?“ abendliche Podien mit Gerhard Trabert, Alea Horst und
       Hilfsorganisationen anbieten wird.
       
       Schließlich wird es Stände von Initiativen geben, einen Speakers Corner, an
       dem auch Geflüchtete zu Wort kommen sollen, Lesungen für Klassen und den
       vielbeachteten Tütenmarkt des Verlags, auf dem vergriffene Bücher
       verramscht werden und dessen Einnahmen in den Verein Alea e. V. fließen.
       
       All dies ist möglich, weil der Klett Kinderbuchverlag im letzten Jahr den
       „Deutschen Verlagspreis für unabhängige Verlage“ gewonnen hat. Genauer
       gesagt einen von drei Sonderpreisen für herausragende Verlagsarbeit,
       dotiert mit 60.000 Euro. Dieses Geld lässt der Verlag direkt wieder in
       engagierte Projekte zurückfließen.
       
       21 Feb 2022
       
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