# taz.de -- Oben und unten: Klassenfahrt
       
       > Was passiert, wenn immer mehr Menschen studieren? Und was wird aus denen,
       > die das nicht tun? Über zwei Gruppen, die einander fremd werden.
       
       Man kann den Eindruck gewinnen, dass André Schier, Anfang 40, einen
       leichten Spleen mit seinem Doktorgrad hat. Neulich traf er alte Kumpel in
       der Gaststätte, ein Freitagabend, man wollte Bier trinken, das erste
       Wiedersehen nach Monaten der Pandemie. Schier hatte auf seinen Namen
       reserviert – und mit dem Titel, der ihm kraft akademischer Verleihung
       voransteht. Der Kellner begrüßte Schier in aller Form, und einer der
       Freunde, Fliesenleger von Beruf, verdrehte die Augen: Ja, ja, der Herr
       Doktor wieder, so, so. Wir wollen doch nur Karten spielen.
       
       Entspann dich, sagte Schier, freundlich natürlich. So heiße ich nun mal.
       
       Als André Schier die Promotion abgeschlossen hatte, eine Analyse von
       Werbemotiven auf 278 Seiten, Untertitel: „Generation und politische Kultur
       politische Kultur im Zeichen gewandelter Lebenswelten in Deutschland im
       Digitalitätsdiskurs in Werbung“, als er eine Widmung an die Mutter
       vorangestellt, die Ergebnisse an der Uni verteidigt und die Urkunde
       erhalten hatte, da fragte er einen Freund, Akademikerspross und Doktor der
       Gesundheitsökonomie, wie man denn nun mit dem so mühevoll erworbenen Grad
       verfahre. Was tut man, wenn man nach Jahren des Bildungsaufstiegs oben
       angekommen ist. In seiner Familie gab es niemanden, der sich mit so etwas
       auskannte.
       
       Der Doktorgrad, antwortete der Freund, sei für ihn eher wie eine Krawatte,
       die man zu besonderen Anlässen trage, vielleicht mal bei schwierigen
       Telefonaten mit dem Amt heraushole. Dann kann der Doktor helfen. Ansonsten
       verschwinde der in der Schublade. Aufs Klingelschild schrieb der Freund den
       Doktor nicht.
       
       André Schier schon. Er ließ ihn im Personalausweis vermerken, das
       Impfzertifikat in der Corona-App weist ihn als Doktor aus. Wenn er als
       Dozent bei politischen Stiftungen arbeitet, ist er Doktor. Aber er hat sich
       auch mit Doktor bei seinem Bäcker in der Liste für die Sonntagsbrötchen
       eingetragen und auch beim Kinderturnen seiner Tochter. Wenn jemand es im
       Umgang förmlich will, so wie die Erzieherinnen in der Kita, die auf dem Sie
       bestehen, weil der Träger es ihnen so vorgibt, dann besteht Schier eben
       auch auf seinem Doktor.
       
       „Ich habe zu sehr dafür gekämpft“, sagt Schier. Der Grad ist für ihn so
       etwas wie ein Beglaubigungsschein, es geschafft zu haben. Und auch eine
       Beschwörungsformel, die es Schier erlaubt, seinen Frieden mit sich zu
       machen. Über andere erheben, sagt er, wolle er sich damit nicht.
       
       Wie die Klassen in diesem Land einander sehen, wie unbefangen ihr Blick
       ist, und ob die Beteuerungen der jeweils einen Seite, dass er unbefangen
       sei, von der anderen so ohne Weiteres geglaubt werden können – das lässt
       sich vielleicht an einer Geschichte wie der von André Schier erkunden. In
       seiner Biografie fallen die Gegensätze zusammen: Er ist ein Arbeiterkind,
       das es zum promovierten Akademiker gebracht hat.
       
       Dass ein solcher Weg unwahrscheinlich ist, ist hinreichend beklagt, die
       Zahlen sind bekannt, man kann sie zum Beispiel nachlesen in einer Studie
       des Stifterverbands. Von 100 Kindern, deren Eltern nicht studiert haben,
       wechseln nach der Grundschule nur 46 aufs Gymnasium oder eine ähnliche zum
       Abitur führende Schule. Von diesen 46 wiederum beginnen nur 27 ein Studium.
       20 schaffen den Bachelor-, 11 den Masterabschluss. Und gerade einmal 2
       Kindern gelingt am Ende die Promotion.
       
       Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien gehen 83 aufs Gymnasium oder eine
       vergleichbare Schule, und fast alle von ihnen wechseln im Anschluss an eine
       Hochschule. Die große Mehrheit tut, was die Eltern taten: studieren. Nur 21
       von 100 Akademikerkindern tun das nicht. Einer von ihnen ist Julian Diaz.
       
       Wenn Diaz, Ende 20, die Arbeitsklamotten weggelegt hat und abends mit
       Freunden in Berliner Bars unterwegs ist, kommt irgendwann im Smalltalk die
       Frage, die ihn unter all den Germanistinnen, Pädagogen und Ökonominnen
       schlagartig zum Exoten macht: „Und was hast du studiert?“
       
       Nix, sagt Diaz dann. Ich arbeite auf dem Bau. Kurze Irritation, das
       Gegenüber muss sich oft erst mal fangen, Diaz kennt das. Nee, wirklich?
       
       Dann nimmt das Gespräch, auch das kennt Diaz, einen ganz bestimmten
       Verlauf, es kommen Nachfragen, die den Gegensatz, den sie überbrücken
       sollen, doch vertiefen. Ob das nicht hart sei, so auf dem Bau? Ist es, sagt
       Diaz dann. Dafür sind die Regeln klar, am Ende des Monats kommt das Geld
       und du hast Feierabend, wenn Feierabend ist. Die Arbeit bringt vielleicht
       keine Selbstverwirklichung, dafür verfolgt sie dich nicht wie ein Schatten
       überall hin. Keine E-Mails von der Kollegin am Wochenende, die noch eine
       Präsentation fertigstellen will.
       
       Auf der Baustelle musst du zupacken, aber auch präzise sein, so ein Gleis
       muss auf den Millimeter genau verlegt werden, damit ein Zug später sicher
       darauf fahren kann. Du machst etwas, was anderen nützt, auch wenn du dabei
       oft unsichtbar bleibst und nicht das Gefühl hast, deine Persönlichkeit in
       ein Werk zu gießen. Früher konntest du dir mit der Arbeit auf dem Bau ein
       gutes Mittelschichtsleben ermöglichen, eine Wohnung kaufen, ein Haus bauen,
       eine Familie versorgen, heute leider kaum. Mehr Geld wäre gut und eine
       kürzere Arbeitszeit, man kann versuchen, dafür zu kämpfen, in der
       Gewerkschaft, wie er das ja auch mache.
       
       All das könnte Diaz erklären. Aber viele Studierte, sagt er, scheinen die
       Details gar nicht hören zu wollen, sie führen das Gespräch immer wieder auf
       den einen Punkt zurück, auf die Härte der Arbeit, so wie es die Kollegen
       vom Bau nie täten.
       
       Die Gesprächspartner mit Hochschulsozialisation beginnen mit Mutmaßungen
       über die körperlichen Beanspruchungen, über den Rücken, die weiten Fahrten
       zu den Baustellen, den schlauchenden Schichtdienst. Ein bisschen, als
       sollte mit scheinbar mitfühlenden Fragen eigentlich nur Stoff zum Gruseln
       herausgekitzelt werden. Als wollten sie den echten Arbeiter tiefer ins
       Elend hineinfragen – weil es für sie so fremd ist. Vielleicht aber auch,
       weil es etwas ist, vor dem man aus einem sich wichtig wähnenden Wissensjob
       heraus tatsächlich Respekt zeigen kann. Weil man nach Ansatzpunkten für
       Achtung sucht in dem Moment, in dem eine Begegnung so unverhofft offenbart
       hat, dass sich die Gesellschaft doch in oben und unten teilt.
       
       Eine Studentin, bei der gerade alles um die Bachelorarbeit kreiste, sagte:
       So ein körperlicher Job sei doch auch mal was Schönes, man habe den Kopf
       frei und könne einfach die Gedanken schweifen lassen. Der Satz ist Diaz
       besonders in Erinnerung geblieben: Als wäre er bei der Arbeit nur
       Muskelkraft und nicht auch Konzentration, Koordination, Aufmerksamkeit,
       Freude, Ärger.
       
       Ein Café am Berliner Hauptbahnhof, Julian Diaz war seit sieben Uhr in der
       Früh im Dienst, und während er nun am Nachmittag erzählt, wie er manchmal
       das Fremdeln der Akademiker spürt, fühlt man sich kurz ertappt: Hat man
       sich selbst nicht eben noch die Mühen auf dem Bau schildern lassen und sie
       eifrig im Block notiert? Wie es zum Beispiel ist, wenn man mit der
       Stopfmaschine am Gleis steht, um den Schotter unter die Schienen zu
       rütteln, wie die Vibrationen des Motors die Durchblutung verschlechtern
       und sich Stunden nach der Schicht Beine und Arme taub fühlen. Warum wollte
       man das wissen? Um sich seiner eigenen staubfreien Lage bewusst zu werden?
       Weil man ja selbst mal aufgestiegen ist aus einfachen Verhältnissen und
       sich seither heimlich dafür schämt, dass man sich so oft nicht mehr
       einfühlen möchte in die Welt, aus der man kommt?
       
       Unter Soziologinnen und Soziologen wird seit einiger Zeit diskutiert, ob
       Akademiker und Nichtakademiker einander zunehmend fremd gegenüberstehen.
       Die Romanistin, die sich freiberuflich als Literaturübersetzerin
       durchschlägt, lebt zwar mit ähnlich prekärem Kontostand wie die
       Reinigungskraft. Trotzdem kämen beide nicht auf die Idee, zur selben Klasse
       zu gehören. Die Mittelschicht von früher gerät kulturell in die Defensive.
       Die Steuergehilfen, Facharbeiter und Autohändler merken, dass das Geld für
       sie vielleicht noch reicht, aber ihre mittlere Reife den Wert verloren hat.
       
       Seit immer mehr Menschen höhere Bildungsabschlüsse anstreben, hat sich eine
       neue akademische Mittelklasse herausgebildet, die nun tonangebend wird. Sie
       prägt die Debatten, lebt in der Großstadt, ist in der Welt zuhause,
       verwirklicht sich im Beruf und wählt bewusst einen Lebensstil, der
       Einzigartigkeit verheißen und bloß nicht gewöhnlich sein soll. Man glaubt,
       den eigenen gehobenen sozialen Status durch Klausuren, Zeugnisse und
       Abschlussarbeiten verdient zu haben.
       
       Der Aufgestiegene selbst ist dabei das beste Beispiel, dass man es durch
       Anstrengung und Fleiß schaffen kann, und gut möglich, dass manch ein
       Aufgestiegener sogar noch ein bisschen mehr an Leistung und Eigeninitiative
       glaubt, gerade weil ihn trotz allem Erfolg das Gefühl nie loslässt, sich
       immerzu beweisen zu müssen.
       
       Und die, die nicht aufsteigen? Welche Deutung können die ihrem Leben geben?
       
       Julian Diaz ist am Bodensee aufgewachsen, die Mutter Lehrerin, der Vater
       Ingenieur, akademisches Milieu. Es galt als gesetzt, dass er es ihnen
       nachtun würde. Das Grundschulzeugnis fiel gut aus, natürlich sollte es
       danach aufs Gymnasium gehen, so schildert er es im Bahnhofscafé.
       
       Diaz entschied sich für eine Schule mit dem Schwerpunkt auf moderne
       Fremdsprachen, Französisch ab der 5. Klasse, Englisch ab der 7. Klasse. Auf
       den Zeugnissen sammelte er Einser wie andere Sticker im Panini-Album, Eins
       in Englisch, Eins in Französisch, Eins in Deutsch. In Mathematik vielleicht
       einmal eine Zwei, das waren lange Zeit die größten Ausrutscher.
       
       Am Küchentisch entwarfen sie manchmal die Zukunft, ganz vage. Wie wäre es
       mit einem Job in der Botschaft, später. Erst mal das Studium, eine Sprache
       vielleicht, dann sieht man schon.
       
       Manchmal erzählte die Mutter von ihrer Zeit an der Uni. Dass sie die
       Freiheit des Studentenlebens ein wenig zu sehr genossen hatte, etwas zu oft
       feiern ging und es dann, als die Abschlussprüfungen näher rückten, leider
       unschön anstrengend geworden sei. Geh das etwas ernster an als deine
       Mutter. Dann wird das schon.
       
       Für den Vater hatte das Studium eine besondere Bedeutung, es war sein Weg
       aus der Armut gewesen. Er war in Venezuela aufgewachsen, hatte dort schon
       mit 10, 11 Jahren auf einer Tabakplantage mithelfen müssen, schleppte nach
       dem Unterricht Säcke, Tag für Tag, Jahr für Jahr, bis er schließlich ein
       Stipendium bekam, das ihm ein Studium in Deutschland erlaubte.
       
       In Venezuela hätte er sich womöglich nicht einmal die Busfahrt zu einer Uni
       leisten können. Und jetzt saß er im Hörsaal in Lübeck, später in Ulm und
       Konstanz, musste die Sprache lernen und biss sich durch die Seminare und
       Vorlesungen in einer Zeit, als Professoren ihren Erfolg noch an einer hohen
       Durchfallquote maßen und ihr Desinteresse an den Studierenden für ein
       Qualitätssiegel hielten. Für seinen Vater, so erzählt Diaz, bedeutete das
       Studium die Befreiung von harter körperlicher Arbeit. Man verdient
       ordentlich, wird geachtet. So sollte es dem Sohn auch ergehen.
       
       Dem aber kam mit 15, 16 Jahren plötzlich die Lust abhanden. Julian Diaz
       ging lieber zur Antifa-Gruppe, stellte sich Naziaufmärschen entgegen,
       besuchte Punkkonzerte und las Marx, statt weiter gute Noten für die Zukunft
       zu sammeln. „Ich hatte das Gefühl, dass ich mich in meiner Freizeit mit
       wichtigeren Dingen beschäftige als in der Schule“, sagt er.
       
       Es gab eine Mahnung, die sie manchmal in der Familie aussprachen. Julian
       Diaz hatte früher als kleiner Junge, wenn sie zu den Verwandten nach
       Venezuela reisten, immer mit kindlicher Faszination am Frankfurter
       Flughafen den Mann beobachtet, der draußen auf dem Rollfeld den Wagen mit
       all dem Gepäck zur Maschine fuhr. Wenn das mit dem Abitur nicht klappt,
       hieß es nun, musst du Koffer fahren.
       
       Das war ein Scherz, aus der sozialen Halbdistanz einer Familie, die sich
       Kontinentalflüge leisten kann. Aber mit der Zeit wurde daraus eher ein
       leiser Verzweiflungsschrei.
       
       Die Eltern buchten Nachhilfe, und Diaz ging nach der zweiten Sitzung nicht
       mehr hin. Mit 18, endlich volljährig, schrieb er die Entschuldigungen für
       die Schule selbst und fehlte bald fast die Hälfte der Zeit. Er setzte in
       der 12. Klasse aus, jobbte ein paar Monate bei einem
       Veranstaltungstechniker in Berlin, Auf- und Abbauen bei Konzerten, um nach
       den Sommerferien einen neuen Anlauf zu nehmen. Er nahm sich vor
       aufzupassen, aber die Formeln und Gleichungssysteme da vorne an der Tafel
       wollten einfach keinen Sinn ergeben.
       
       Und dann kam „dieser krasse Tag“, wie Diaz sagt. Er war wieder nicht in der
       Schule gewesen, als der Rektor zu Hause anrief und Julian Diaz mit dessen
       Mutter zu sich bestellte. Da saßen sie nun, und der Schulleiter sagte,
       nicht böse, eher bedauernd: Es gibt zwei Möglichkeiten, entweder du gehst
       jetzt freiwillig oder wir müssen dich von der Schule werfen.
       
       André Schier steigt die Stufen zum Eingang hinauf, ein
       Sechziger-Jahre-Funktionsbau mit Flachdach, Bildungsexpansionsbeton. Es
       sind Ferien, und die leeren Fahrradständer stehen auf dem Schulhof wie
       Gerippe in der Wüste. Vor der Glastür verweist Schier auf die Platte, die
       hier direkt im Pflaster eingelassen ist: ein hellroter marmorner Stern wie
       auf dem Walk of Fame in Hollywood, in goldenen Buchstaben steht darin: „Abi
       2000“. Sein Jahrgang.
       
       Jeden Sommer verewigen sich die Abiturientinnen und Abiturienten auf dem
       Schulhof, meistens mit kleinen Plaketten. Das Denkmal der 2000er fiel
       besonders groß aus und besonders teuer. Vielleicht 4.000 Mark habe der
       Stern damals gekostet, sagt Schier. In der Stufe war umstritten, ob man so
       viel ausgeben sollte, und bei den Versammlungen war André Schier einer
       derjenigen, die besonders vehement dafür warben. „Weil es mir wichtig war,
       der Schule einen Stempel aufzudrücken“, sagt er. Hier sind wir. Hier bin
       auch ich. Der Erste in meiner Familie, der das Abitur geschafft hat.
       
       ## Großvater in der Papierfabrik, Großmutter Haushälterin
       
       Seine Mutter hatte ihn früh bekommen, mit 17, da machte sie ihre Bürolehre.
       Schier wuchs bei den Großeltern auf, mit dem Großvater, der in einer
       Papierfabrik arbeitete, mit der Großmutter, die Haushälterin war, mit den
       beiden jüngeren Brüdern seiner Mutter, seinen Onkeln, die wie größere
       Brüder für ihn waren. Zu ihnen blickte er auf.
       
       Und jetzt plötzlich: Sollte er aufs Gymnasium, ausgerechnet er, obwohl sie
       alle nur die Hauptschule besucht hatten? Er ist halt anders, sagte die
       Mutter zu ihren Brüdern. Er ist halt anders, fanden auch die Studienräte,
       die ihn da plötzlich in ihrer Klasse entdeckten. Ein Junge mit Klamotten
       vom Aldi unter lauter Markenkleidungsträgern. Ein dickes, stotterndes Kind
       mit Kassengestell auf der Nase und Gläsern, die ihre neun Dioptrien nicht
       im Geringsten zu verbergen versuchten.
       
       Der Klassenlehrer, ein Bildungsbürger mit der Fächerkombination
       Altgriechisch und Latein, erklärte der Mutter, wenn er sie in die Schule
       bestellte, dass ihr Sohn hier nicht hingehöre. Die Mutter, eine junge Frau,
       noch keine 30 und allein deswegen so anders als die Erziehungsberechtigten
       der wohlbehüteten Häuser, ließ sich nicht beirren, woher auch immer sie die
       Entschlossenheit nahm.
       
       Sind seine Noten denn schlecht? Nein? Dann bleibt er selbstverständlich.
       
       Spürt man, dass man ein Außenseiter ist, dann ist die naheliegende
       Reaktion: sich unsichtbar machen, versinken vor lauter Herkunftsscham,
       abgehen, die Realschule ist ja keine Schande. Oder man ergreift die Flucht
       nach vorn, man kämpft, und wahrscheinlich ist es oft nur eine Frage von
       Zufällen und Feinheiten der Situation, welchen Weg man wählt.
       
       André Schier verfasste ein Pamphlet für die Schülerzeitung, in dem er den
       Druck unter den Jugendlichen anprangerte, mit teurer Markenkleidung in den
       Unterricht kommen zu müssen. Die Mitschüler triezten ihn, aber er
       kandidierte als ihr Klassensprecher, später sogar als Schülersprecher,
       trotzdem. Oder deswegen. „Ich habe mich in der Achtung der anderen
       emporarbeiten müssen“, sagt er. „Du musst einen viel stärkeren Willen
       haben, wenn du aus einer bildungsfernen Schicht kommst.“
       
       Als er ein Schulpraktikum bei einem Gas- und Wasserinstallateur machte,
       einem Bekannten der Familie, sagte die Großmutter am Mittagstisch: Ist das
       nicht schön? Da könntest du doch nächstes Jahr deine Ausbildung anfangen.
       Ich mache aber Abi, sagte Schier. Es braucht Kraft, wenn man als
       Arbeiterkind einen Bildungsweg einschlägt, der so nicht vorgesehen war. Und
       es braucht wohl ebenso eine bestimmte Art von Kraft, wenn man als
       Akademikerkind heute das Abitur hinwirft. Man muss seinen Stolz wahren,
       wenn die Hälfte eines Altersjahrgangs die Schule mit der Hochschulreife
       verlässt und man selbst nicht. Wenn immer mehr junge Menschen studieren,
       zuletzt waren 2,7 Millionen an den Hochschulen eingeschrieben. Wenn schon
       die eigenen Eltern die Uni besucht haben.
       
       Eine Baustelle in einem U-Bahn-Schacht. Man hört auf dem Bahnsteig dumpf
       den Maschinenlärm, der herüberwabernde Staub macht die Luft diesig. Man
       muss hinter die Gitter, dort wo gerade ein neues Abstellgleis verlegt wird,
       auf dem die Bahn nachts parken kann. Schotterberge, wackelige
       Holzschwellen, unterbrochene Schienen, Männer mit orangfarbenen Warnwesten
       und Helmen aus weißem Hartschalenplastik. Ganz am Ende des Tunnels steht
       Julian Diaz, über ihm, in 10 Metern Höhe, ein langes rechteckiges Loch im
       dicken Dachbeton. Man sieht den grauen Himmel und schräg hineinragend einen
       gelben Kran.
       
       „Julian, bitte melden.“ Der Kranführer. Diaz zieht das Funkgerät aus der
       Tasche am linken Oberschenkel. Das ist hier seine Aufgabe:
       Herunternavigieren, was auf der Baustelle benötigt wird. Heraufnavigieren,
       was weg muss. Vor, zurück, links, rechts. Neues Material rein, altes
       Material raus. 200 verschiedene Einzelteile brauchen sie hier unten. Die
       Schienen sind besonders knifflig: 16 Meter misst eine, sie schaukelt,
       dreht, schwenkt aus, wenn sie am Kran hängt. 16,5 Meter misst die Dachluke,
       durch die sie muss. Was noch hindurch muss: Container mit Schotter,
       verschiedene Schrauben, Muttern, Betonblöcke. An diesem Vormittag lotste
       Julian Diaz 18 Holzschwellen, 2 Weichenschienen und außerdem Diesel für den
       Bagger nach unten.
       
       ## Mittlere Reife, und die Noten auch allenfalls mittel
       
       Aus dem Funkgerät berlinert der Kranführer. „Is heut noch wat oder kann ick
       absteigen?“ „Sind durch“, spricht Diaz ins Gerät. „Mach dich mal
       schleunigst auf die Socken. Sehen wir uns morgen?“ „Hab morgen einen
       Arzttermin. Is auch nich so lustig.“
       
       Der Schulleiter hatte Julian Diaz damals ein Abgangszeugnis gegeben,
       Mittlere Reife, die Noten auch allenfalls mittel, und Diaz war lange
       ratlos, was er damit anfangen sollte. Er wollte vor allem weg vom Bodensee,
       sagt er, weg von dem Gefühl des Misserfolgs. Er ging nach Berlin, probierte
       es erst mit einer Ausbildung als Rettungsassistent und schaute schließlich
       nach Lehren bei den Verkehrsbetrieben: Kfz-Mechatroniker, Bürokaufmann,
       Elektroniker, das Übliche. Aber dann gab es da noch etwas: Gleisbauer.
       
       Wenn schon kein Allerweltsdiplom von der Uni in Jura oder Medizin oder
       Betriebswirtschaftslehre, warum dann nicht einen möglichst speziellen
       Lehrberuf? Das Schöne an dem Job sei ja, sagt Julian Diaz, dass er so
       unbekannt ist. Und damit etwas, was einem auch als Arbeiter, wenn man so
       will, einen Distinktionsgewinn verschafft, ein Stückchen von der
       Einzigartigkeit, mit der doch sonst vor allem die neue Akademikerklasse ihr
       Leben zu dekorieren versucht.
       
       Für sein Selbstwertgefühl, sagt Diaz, sei das jedenfalls wichtig gewesen.
       Arbeiter ist nichts Unehrenhaftes, so liest man es ja auch bei Marx, und du
       stehst damit definitiv auf der richtigen Seite. Und trotzdem blieb das
       Gefühl, fremd zu sein. Etwa als er feststellte, dass die neuen
       Klassenbrüder oft gar nicht so kämpferisch sind, wie er sich das ausgemalt
       hatte, sondern sich vor allem Ärger vom Hals halten wollen. Oder wenn einer
       in der Frühstückspause vom Urlaub schwärmt. Pauschalreise, Mallorca, all
       inclusive, Ballermann-Musik, Hotelbüfett und Sangria mit den Kumpels, und
       Julian Diaz stumm dabeisitzt und denkt: Aber vom Land hast du nichts
       gesehen – warum verstehst du nicht, dass es viel schöner ist, auf eigene
       Faust zu reisen?
       
       Er verspüre dann, sagt Diaz, tatsächlich so einen leichten Anflug von
       Arroganz bei sich: dass die Art, wie er zu reisen und zu leben gelernt hat,
       die irgendwie bessere ist. „Das ist ein Zwiespalt, und der wird
       wahrscheinlich auch nie weggehen.“
       
       In den vergangenen Jahren haben sich Initiativen gebildet, die
       Arbeiterkindern an den Unis Mut machen wollen, Stiftungen investieren ihr
       Geld in die Bildungsförderung benachteiligter Gruppen, und
       [1][autobiografisch geprägte Erzählungen] haben die Buchläden geflutet, die
       [2][vom Aufstieg aus einfachen Verhältnissen berichten].
       
       Nur 27 von 100 Nichtakademikerkinder schaffen es an die Hochschulen, aber
       weil es immer noch so viel Nichtakademikereltern gibt, sind die Aufsteiger
       längst zu einer stimmgewaltigen Gruppe geworden. Der Weg durch die
       Bildungsinstitutionen hat sie mit den Mitteln und Begriffen ausgestattet,
       ihre Geschichte zu erzählen. Sie erzählen dann Heldenreisen mit Hürden, in
       denen die Herkunft trotz allem am Ende kein Schicksal bleibt.Für jede und
       jeden Einzelnen sind das wunderbare Erfolge, für die Gesellschaft sind all
       die Aufsteigergeschichte wie gemacht dafür, sie mit der in ihr klaffenden
       Ungleichheit zu versöhnen, ohne dass die unangenehme Tatsache dafür eigens
       angesprochen werden müsste.
       
       Manchmal fällt zwar ein Schatten auf die Heldenerzählungen, sie handeln
       dann vom Schmerz, ein altes Umfeld verloren zu haben und sich im neuen
       nicht so richtig zugehörig zu fühlen. Und trotzdem hinterfragen die
       Geschichten selten ihre Voraussetzungen: dass schon im Begriff des
       Aufstiegs immer die Abwertung mitschwingt für das, was zurückgelassen wird.
       Dass man für das, was nicht Aufstieg ist, ein Wort in den Mund nehmen
       müsste, das eigentlich zu brutal ist, um es Leuten an den Kopf zu werfen.
       Dass es ein Geltungsgefälle gibt, das sich nicht einfach mit gutem Willen
       und beiderseitigem Wohlwollen auflösen lässt.
       
       Oben und unten bleiben oben und unten, auch wenn man versucht,
       verständnisvoller aufeinander zu blicken.
       
       ## Bergisch Gladbach, die alte Siedlung für Arbeiter
       
       Bergisch Gladbach, die alte Siedlung für die Arbeiter der Papierfabrik,
       grau-weiß verputzte Häuser. André Schier steht mit seiner Mutter vor der
       Nummer 14, dem Haus der Großeltern, in dem er geblieben ist, als sie
       auszog. „Wann war das?“, fragt André Schier. „Als ich die Ausbildung
       gemacht habe“, sagt die Mutter. „Nicht erst später, als du den Lottoladen
       übernommen hast?“
       
       Die Mutter erzählt, wie es dann für sie war, als Jahre später der Sohn
       auszog und sie zum Helfen kam. Sie standen hier und haben die Sachen ins
       Auto gepackt. Ein Jurastudium in Gießen also. So unbegreiflich weit weg von
       der kleinen Kleinstadtwelt, man hätte es sich nicht träumen lassen. „Wir
       standen hier und haben Rotz und Wasser geheult“, sagt sie.
       
       Der Bruder der Mutter, Werkzeugmacher, sagte: Jura? Na ja, dann wirst du
       immerhin Anwalt, machst Kohle und kannst mich als deinen Fahrer einstellen.
       So erinnert sich Schier an seine Worte.
       
       Nach einem Semester wechselte er dann. Politik, Geschichte, Philosophie und
       keine Aussicht mehr auf eine Kanzlei. Die Großmutter gab André Schier eine
       Stellenanzeige vom Finanzamt, das gerade Azubis suchte. Und der Bruder, so
       erzählt es die Mutter, verstand überhaupt nicht: Was man anfängt, macht man
       zu Ende, er hatte seine Lehre ja auch durchgezogen, vielleicht hat der
       André sich einfach übernommen. Und was arbeitet man eigentlich mit diesen
       Fächern?
       
       Nach dem Abschluss, als er in der Erwachsenenbildung arbeitete, umgeben von
       dem ein oder anderen Doktor, rang Schier mit sich, ob er promovieren
       sollte, ein Jahr, zwei Jahre, mehrere Jahre brauchte er für das
       Eingeständnis, dass er es wollte.
       
       Und der Bruder der Mutter wird vermutlich gedacht haben: Jetzt ist er
       völlig übergeschnappt. Der Kontakt wurde mit den Jahren loser, die Mutter
       erzählt, ihr Bruder habe hin und wieder mal bei Familienfeiern nachgefragt,
       wie es denn beim André gerade laufe. Ob er immer noch an der Doktorarbeit
       sitze. Vielleicht in der stillen Hoffnung, dass irgendwann sein Scheitern
       bekundet wurde.
       
       Zur Geburt seiner Tochter, erzählt André Schier, habe der Bruder
       gratuliert, ein kleines Präsent inklusive. Zur erfolgreich verteidigten
       Dissertation kein Wort. Vermutlich, so schildern Schier und seine Mutter
       es, denkt der Bruder: Wir sind zusammen groß geworden, und jetzt hält der
       sich für was Besseres. Ist einer von denen da oben.
       
       Die Anstrengungen, die Mühen, die Zweifel, die für die Doktorarbeit
       abgerungenen Gedanken stoßen bei einem Menschen, der mir wichtig ist, auf
       völliges Desinteresse. So empfindet André Schier es. Seinen Onkel kann man
       dazu nicht befragen. Seit Jahren haben sie nicht mehr miteinander geredet.
       
       Es gab wohl, sagt Schier, zu viele Missverständnisse. Auf beiden Seiten.
       
       21 Feb 2022
       
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