# taz.de -- Russlands Vorstoß in der Ostukraine: Deutsche Waffen für Kiew?
       
       > Die Eskalation wirft erneut die Frage nach deutschen Waffenexporten in
       > die Ukraine auf. Aus der Historie lässt sich ein Ja ebenso ableiten wie
       > ein Nein.
       
 (IMG) Bild: Ukraine, 1941: Zivilisten und sowjetische Soldaten ergeben sich den Deutschen
       
       Die Anerkennung der „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk, der Einmarsch
       russischer Militärverbände und der damit verbundene Bruch des Völkerrechts
       lassen erneut die Rufe nach deutschen Waffenlieferungen für die Ukraine
       aufleben. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, hat am
       Dienstag die Lieferung von „Defensivwaffen“ verlangt. Politiker der
       Ampelkoalition [1][blieben jedoch bei ihrer Ablehnung.]
       
       In diesem Zusammenhang wird immer wieder die „historische „Verantwortung“
       der Bundesrepublik benannt. Sie dient sowohl als Vehikel für eine
       Befürwortung solcher Waffenlieferungen als auch für das genaue Gegenteil.
       Verantwortung meint namentlich den Angriffskrieg des NS-Regimes zwischen
       1941 und 1945. Verweisen die einen – etwa [2][Außenministerin Annalena
       Baerbock bei ihrem ersten Besuch in Kiew] – darauf, dass es diese deutsche
       Verantwortung gebiete, keine Waffen in ein Land zu liefern, dem ein Krieg
       mit Russland droht, argumentieren andere, darunter die
       Literaturnobelpreisträgerinnen Swetlana Alexijewitsch und Herta Müller,
       dass es gerade diese Geschichte sei, die solche Waffenlieferungen nahelege.
       
       Ausgangspunkt für die zweite Position ist die unbestrittene Tatsache, dass
       die damalige Sowjetrepublik ganz besonders unter dem Krieg und den
       Massakern der Deutschen an der Zivilbevölkerung gelitten hat. Etwa 4,5
       Millionen Menschen, so die Schätzung, kamen ums Leben, darunter vermutlich
       etwa 1,5 Millionen Juden und Roma sowie Hunderttausende weitere Zivilisten,
       die an Kriegshandlungen gar nicht beteiligt waren und Opfer der
       NS-Vernichtungspolitik wurden. Weil das Land besonders viele Opfer zu
       beklagen hatte, ergebe sich daraus die moralische Pflicht, seine
       Bevölkerung in der heutigen Bedrohungslage zu unterstützen – auch mit
       Waffen.
       
       Die Gegner von Waffenlieferungen argumentieren, dass aus dem Krieg gegen
       die Sowjetunion mit insgesamt etwa 27 Millionen Opfern, darunter
       mehrheitlich Zivilisten, eine besondere Schuld erwachse, die
       Waffenlieferungen in Staaten dieser ehemaligen Union verbiete. Deutsche
       Waffen dürften keinesfalls dort zum Einsatz kommen, wo sie schon einmal
       furchtbares Elend angerichtet haben.
       
       ## Eine Art Opferkonkurrenz
       
       Festzuhalten ist zunächst, dass sich der NS-Vernichtungskrieg in der
       Sowjetunion gegen alle dort lebenden Menschen richtete. Sowjetbürger, egal
       ob Belarussen, Ukrainer oder Russen, galten den Deutschen als
       „minderwertige Slawen“, ja als „Untermenschen“, deren Ermordung von Beginn
       des „Barbarossa“-Feldzugs an in die deutschen Planungen einbezogen war.
       Dazu zählte etwa die Tötung von etwa 3,3 Millionen sowjetischen
       Kriegsgefangenen infolge völlig unzureichender Lebensbedingungen in
       deutschen Lagern, aber auch der Mord an Zivilisten durch eine beabsichtigt
       extrem mangelhafte Lebensmittelversorgung. Noch bedrohter waren die Juden,
       die in der Sowjetunion im Rahmen der „Endlösung“ systematisch Mordbanden
       wie den Einsatzgruppen zum Opfer fielen.
       
       Der Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre hat dazu geführt, dass
       sich neben Russland eine ganze Reihe Einzelstaaten neu bilden konnten und
       die baltischen Länder ihre Souveränität endlich zurückerhielten. Diese
       Staaten verweisen nun auch – jeder für sich – auf die besonderen Opfer, die
       ihre Bevölkerung in der NS-Besatzungszeit zu erleiden hatte. Daraus ist in
       einzelnen Fällen eine Art Opferkonkurrenz erwachsen, etwa wenn die Ukraine
       unterstreicht, dass auf ihrem Staatsgebiet die meisten Jüdinnen und Juden
       umgebracht worden sind, und daraus ableitet, Anspruch auf ein eigenes
       Denkmal für „ihre“ Ermordeten in Berlin zu beanspruchen, ähnlich wie Polen.
       
       Verkompliziert wird die Angelegenheit dadurch, dass der sowjetische
       Machthaber Josef Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg die Grenzen neu ziehen
       ließ. Polen etwa verlor seine östlichen Regionen an die Sowjetunion. Heute
       liegen diese Gebiete in Belarus und der Ukraine. Aber gelten die Opfer von
       damals nun als Ukrainer, Belarussen oder als Polen?
       
       Der Versuch, die sowjetischen Opfer im Nachhinein heutigen Nachfolgestaaten
       der Sowjetunion zuzuordnen, hat einen makabren Beigeschmack. Denn diese
       Menschen starben eben nicht aufgrund einer bestimmten Nationszugehörigkeit,
       die mit den heutigen Nachfolgestaaten kaum etwas zu tun hat. Sie wurden
       vielmehr Opfer von Rassismus beziehungsweise Antisemitismus, der sich
       unterschiedslos gegen alle richtete, insbesondere aber gegen Juden. Daraus
       das Argument zu destillieren, die deutsche Geschichte gebiete
       Waffenlieferungen an eines dieser Länder in einem möglichen Krieg gegen ein
       anderes, erscheint zumindest gewagt – unabhängig von der Tatsache, dass
       Russland die Verantwortung für die aktuelle Eskalation trägt.
       
       ## Und der Kalte Krieg?
       
       Aber auch die gegenteilige These, angesichts der deutschen Verantwortung
       seien Waffenlieferungen an die Ukraine moralisch auszuschließen, weil damit
       möglicherweise Russen getötet werden könnten, steht auf dünnem Eis.
       Schließlich hat sich über die Jahrzehnte des Kalten Kriegs kaum ein
       Westdeutscher daran gestört, dass die Waffen der Bundeswehr und ihrer
       Nato-Verbündeten selbstverständlich für den Fall eines Krieges gegen die
       Sowjetunion und ihre Völker gerichtet waren. Noch weniger wollte man bis
       weit in die 1980er Jahre davon wissen, welches Leid das NS-Regime im Osten
       angerichtet hat.
       
       Fazit: Historische Ereignisse eignen sich nicht immer, um daraus aktuelle
       politischen Entscheidungen abzuleiten. Dies gilt selbstverständlich
       unabhängig davon, ob Waffenlieferungen an einen Konfliktpartner nun aktuell
       geboten sein könnten oder nicht.
       
       Im Falle des aktuellen Konflikts lässt sich zudem festhalten, dass deutsche
       Waffenlieferungen an die Ukraine eine eher symbolische Bedeutung hätten. In
       Kiew fielen die deutschen Bestände angesichts der Rüstungshilfen aus den
       USA und anderer Nato-Staaten kaum ins Gewicht. Umso bedeutender wären sie
       für die russische Seite: Für Wladimir Putin wären sie ein
       propagandistisches Gottesgeschenk in seinen Bemühungen, den Westen als das
       abgrundtief Böse zu brandmarken – mit den alten Faschisten als Helfer eines
       Landes, das es nach seiner Lesart gar nicht geben dürfte.
       
       22 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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