# taz.de -- Die Wahrheit: Heißhunger auf Buchstaben
       
       > Die von den Russen lang unterdrückten Litauer feiern am 16. März den
       > beliebten „Tag der Bücherschmuggler“ zu Ehren ihrer Literatur.
       
 (IMG) Bild: Zu groß zum Schmuggeln: Gigantenbuch
       
       Im März ist es in Litauen noch ordentlich kalt, das heißt es gibt
       entsprechend viel Grundeis, das wiederum mit der aktuellen Gefühlslage der
       Litauer korrespondiert, denen seit dem russischen Überfall auf die Ukraine
       der Allerwerteste auf eben jenes geht.
       
       Litauen ist ein junges Land, das stellenweise ganz schön alt aussieht. Die
       sowjetische Okkupation endete 1990, und danach ging es zack, zack: 2004 EU
       und Nato, elf Jahre später Eurozone, das muss man erst einmal verkraften.
       Mit beiden Beinen ist das Land ins 21. Jahrhundert gesprungen, dabei hat
       man erst vor nicht allzu langer Zeit die für Frauen bei
       Führerscheinprüfungen obligatorische gynäkologische Untersuchung
       abgeschafft.
       
       Litauer haben leichte Probleme mit dem Selbstbewusstsein: Sie haben alle
       Hände voll zu tun, um nicht mit den Letten verwechselt zu werden. Einzig
       die Basketballer sind international erfolgreich, kein Wunder in einem Land,
       in dem die Brotkörbe Jahrzehnte lang so hoch hingen, dass man sich stets
       gewaltig danach strecken musste.
       
       ## Trinken mit Engagement
       
       Die Litauer sind engagierte Trinker. Zwar ist seit 1990 der Verkauf von
       Wodka zurückgegangen, dafür ist die Suizidrate die höchste in Europa. Ein
       Drittel aller Jugendlichen zwischen 15 und 16 Jahren konsumiert regelmäßig
       Alkohol. Allerdings hat man sie damit von Crystal Meth oder Klebstoff
       weggelockt.
       
       Seit 2018 fährt das Land eine rigorose Politik, die nicht der Albernheiten
       entbehrt: Das Mindesttrinkalter wurde um zwei Jahre auf 20 hinaufgesetzt.
       Aus ausländischen Zeitschriften müssen sämtliche Alkoholanzeigen von Hand
       herausgerissen werden, und in den Restaurants darf Wein nur im Glas oder
       Dekanter serviert werden, weil das Etikett einer Flasche unerlaubte Werbung
       darstellt.
       
       Generell kriegt man sonntags keinen Alkohol. Die Prohibition der dreißiger
       Jahre in Amerika hatte vor allem ein Ergebnis: brandgefährliche selbst
       gebrannte Schnäpse und langfristig das Entstehen einer eigenen Mafia.
       Bibeln dürfen deshalb in Litauen nicht mehr verkauft werden, weil darin auf
       anschauliche Weise die Verwandlung von Wasser in Wein geschildert wird. Der
       Spott ließ nicht lange auf sich warten. So dichtete der litauische
       Nationalsatiriker Ignoris Sausbrauskas im Jahre 2021: „So lasst uns drum
       gesünder trinken / Und pudelwohl in Gräber sinken!“
       
       Die Russen können auf eine Jahrhunderte alte Tradition der Unterdrückung
       der Balten zurückblicken. Aus Litauen sind sie seit knapp über dreißig
       Jahre verschwunden und mit ihnen das verhasste kyrillische Alphabet. Die
       Litauer haben unmittelbar nach Abzug einen derartigen Heißhunger auf
       lateinische Buchstaben entwickelt, dass sie sich lange Zeit nur von
       Buchstabensuppen ernährten. Russisch Brot blieb in den Regalen.
       
       Am heutigen 16. März nun feiert man – das gibt es nirgendwo sonst auf der
       Welt – den Tag der Bücherschmuggler oder auch Buchträger. Bei einer
       früheren Okkupation versuchten die Russen um das Jahr 1860 herum, den
       Litauern mit orthodoxen Methoden das kyrillische Alphabet reinzudrücken,
       denn das lateinische kam ihnen spanisch vor.
       
       ## Liebe zur Schrift
       
       Der Bedarf an Literatur – beides, Literatur und Litauen fängt mit denselben
       Buchstaben an – war enorm. Die Litauer liebten ihre Schrift, sodass entlang
       der Grenze unzählige Druckereien entstanden, deren Produkte von Knygnešys
       über die Grenze geschmuggelt wurden: Nicht nur Bücher, sondern notfalls
       Wörter, Kinder schleppten sogar Buchstaben, die jenseits der Grenze zu
       Wortgebilden zusammengefügt wurden.
       
       Der berühmteste Bücherschmuggler war der 1846 geborene Jurgis Bielinis, der
       „König der Bücherschmuggler“. Er soll in den rund 30 Jahren seines Wirkens
       als Freibeuter der Literatur mehr als die Hälfte der litauischen Bücher
       über die Grenze getragen haben. Einen Einsatz, der von heutigen
       Buchverlegern und -vertretern kaum mehr zu erwarten ist. Deshalb wird mit
       dem 16. März sein Geburtstag in Litauen als „Tag der Bücherschmuggler“
       gefeiert.
       
       Aus gegebenem Anlass sollten wir mit den Litauern darauf anstoßen, selbst
       wenn viele Menschen heutzutage gar nicht mehr wissen, was Bücher überhaupt
       sind. Die können ja inzwischen alles auf ihren E-Geräten nachlesen.
       Vielleicht feiern wir dann in hundert Jahren den „Tag der iPad-Schmuggler“.
       
       16 Mar 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas C. Breuer
       
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