# taz.de -- Die Kunst der Woche für Berlin: Mit politischer Aufgabe betraut
       
       > Blasphemische Fabelwesen von Gert & Uwe Tobias, Blicke auf einen
       > Grenzfluss bei Capitain Petzel und das Werk der Berliner Künstlerin Irene
       > Wedell.
       
 (IMG) Bild: Ausstellungsansicht, Zoe Leonard, A View from the Levee, Capitain Petzel, Berlin, 2022
       
       Schon das Format von 200 x 168 cm ist ungewöhnlich für einen Holzschnitt,
       ganz zu schweigen von der raffinierten bunten Farbigkeit. Sind Holzschnitte
       normalerweise nicht eher klein? Und wenn sie bei der Plakatgestaltung zum
       Zug kommen, nicht eher schwarzweiß?
       
       Die Holzschnitte, die Contemporary Fine Arts [1][derzeit ausstellt, sind
       all das nicht]. Sie stammen von Gert & Uwe Tobias, die ihre Druckstöcke
       schon immer auf die große Leinwand hin konzipierten, auf die sie drucken
       und dabei die Grafik in die Grandiosität des Tafelbilds überführen.
       
       Tierische Fabelwesen, man meint darunter speiende Hühner zu erkennen,
       wundersame Raupen im blauen Frack, dazu schicke Kröten und wilde Hummeln,
       treiben da in einem von Farbflächen simulierten Raum ihr undurchsichtiges,
       womöglich böses Spiel. Und natürlich darf die Fledermaus nicht fehlen.
       
       Denn das Szenario dieses wilden Traums, der sich einem Film gleich über
       zehn Leinwände abspult, verdankt sich auch der Mythologie und Folklore
       [2][ihres transsilvanischen, also rumänischen Herkunftslandes]. Die
       Zwillinge wurden 1973 in Brasov (Kronstadt) geboren. Lange schon leben sie
       aber in Köln, und so scheint mit den prachtvollen Bischofsmützen, die ihre
       Kreaturen bekrönen, den Heiligenscheinen und Engelsflügeln, eine dezidiert
       katholische Ikonografie in ihre Bilder Eingang gefunden zu haben.
       
       Besonders die übergroßen Hände der Phantasiegestalten glaubt man aus der
       Kirchenmalerei zu kennen. Gerne erheben sie bedeutungsvoll den Zeigefinger,
       wobei die restlichen Finger der Hand schier unglaubliche Verrenkungen
       veranstalten. In ihrem dekorativen Spiel zwischen Abstraktion und
       Figuration zeigen Gert & Uwe Tobias’ Leinwände eine erfrischend
       blasphemische Note, nicht nur was die christliche, sondern auch, was die
       zeitgenössische Kunst betrifft (bis 23. 4., [3][Contemporary Fine Arts],
       Grolmanstr.32/33, Mo-Fr 10-18, Sa 11-17 Uhr).
       
       Die Farbaufnahmen des gurgelnden Wassers des Rio Grande/Rio Bravo kenne ich
       aus dem Mudam in Luxemburg. Sie bilden den Prolog der Ausstellung „Al
       rio/To the River“ von Zoe Leonard, [4][die noch bis zum 6. Juni läuft].
       Danach wandert die Ausstellung nach Paris. Deutsche Kunstinstitutionen
       scheinen sich für die Arbeit der zweimaligen documenta-Teilnehmerin nicht
       zu interessieren.
       
       Man darf sich also glücklich schätzen, in Berlin zu leben. Hier finden sich
       immerhin die Galerien, die die Aufgabe wahrnehmen, kunstinteressierte
       Menschen über das relevante zeitgenössische Kunstgeschehen auf dem
       Laufenden zu halten. Und so queren nun die [5][40 Aufnahmen des Prologs]
       auf Stellwänden den Hauptraum der Galerie Capitain Petzel.
       
       An den Seitenwänden finden sich die Ansichten vom Deich, die der Schau in
       Berlin ihren Titel „A View from the Levee“ geben. Seit 2016 fotografiert
       Zoe Leonard den Rio Grande entlang der 2000 Kilometer, auf denen er die
       Grenze zwischen Mexiko, wo der Fluss Rio Bravo heißt, und den USA bildet.
       
       Hier kommt es zu dem Paradox wie Leonard sagt, „ein natürliches Element mit
       einer politischen Aufgabe zu betrauen“. Wie sich das gestaltet ist dann im
       Unter- und Obergeschoß zu verfolgen. Von öffentlich zugänglichen Standorten
       beobachtet Zoe Leonard eine [6][zunehmend militarisierte Flusslandschaft
       voller Grenzzäune, Kontrollpunkte und uniformierten Patrouillen].
       
       Mit der Aufnahme „From the Puente Colombia, looking downstream“ (2017/2022)
       ist dann aber auch ein scheinbar unberührter Flusslauf zu beobachten. An
       ihm weiden wie die Ansicht „From the levee, Ojinaga“ (2017/2022) zeigt,
       friedlich die Kühe. Erfolgreich unternimmt Zoe Leonard die Anstrengung, den
       Konflikt zwischen Natur, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wie er sich
       exemplarisch am Rio Grande/Rio Bravo abspielt, in seinen vielfältigen
       Facetten festzuhalten, statt ihn plakativ im Bild zuzuspitzen.
       
       Tatsächlich ist es ihr von Anfang an ein Anliegen gewesen, [7][die
       Bedingungen der Bildproduktion und die Rolle der Fotografie] bei der
       Konstruktion des Selbstbildes von Gesellschaften und deren historischen
       Horizonts kritisch zu reflektieren. Es lohnt sich, die gurgelnden Wasser zu
       studieren (bis 16. 4., [8][Capitain Petzel], Karl-Marx-Allee 45, Di-Sa
       11-18 Uhr).
       
       Martin Beyer erzählt in seinen Romanen gerne von realen Personen, deren
       Lebensgeschichte ihn inspiriert, sie in literarischer Form zu verhandeln.
       Nicht immer ist die Literaturkritik damit einverstanden – etwa mit dem
       Aufritt der Geschwister Scholl in seinem Roman von 2019 „Und ich war da“.
       
       In seiner aktuellen Neuerscheinung „Tante Helene und das Buch der Kreise“
       (Ullstein 2022, 416 Seiten, 23,- Euro) allerdings gelingt es ihm, eine
       kluge Analyse der Lebensgeschichte der Berliner Künstlerin Irene Wedell
       (1939-2017) in die eindringliche Erzählung der komplexen, weil
       komplizierten Selbstfindung als Künstlerin und Frau in der deutschen
       Nachkriegszeit zu überführen.
       
       Die Realien mit der Fiktion abzugleichen, mit Gewinn für beide
       Perspektiven, [9][dazu besteht nun die Gelegenheit] in der Galerie Under
       the Mango Tree, die eine Auswahl von Irene Wedells künstlerischem Werk
       zeigt. Wedell arbeitete bevorzugt auf Papier, mit Malerei, Zeichnung,
       Collage, Druck oder Nähfaden.
       
       Das heißt sie applizierte Pflanzen- und Blütenteile auf Papier, indem sie
       sie aufnähte. Die so entstanden Arbeiten sind ihrer Natur gemäß extrem
       empfindlich, was gleichzeitig ihre ästhetische Qualität ausmacht. Das Spiel
       von Brüchigkeit und Widerstand der Texturen wie vom Verblassen und Bestand
       der Farben fesselt den Blick.
       
       Selbstgefertigte Kästchen voll gesammeltem Pflanzenmaterial zeigen dann,
       dass sie dessen Haltbarkeit und dessen Veränderungen von Struktur und
       Textur bei der Trocknung genau studierte. Und so konnte sie es dann auch
       wagen, mit Blumen und Pflanzen auf großen transparenten Papieren zu
       arbeiten, wo sie und die Aquarellfarben oft eher wie gedruckt erscheinen
       oder dann wieder an chinesische Tuschzeichnungen erinnern.
       
       Dass Irene Wedell auch ihre Künstlerbücher gerne dreidimensional
       ausstattete, erscheint nur folgerichtig. Mit ihren vielen Schichten Papier
       und Folien, mit ihren Gräsern, Knospen, Ästchen und Blättern, erweitern sie
       die Collage zur Assemblage. Allerdings im kleinen intimen Format, was
       besonders faszinierend erscheint (bis 30. 4., [10][Under the Mango Tree],
       Merseburger Str. 14, Di-Fr 15.30 – 18.30 Uhr, Sa, So 13-16.30 Uhr).
       
       5 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://cfa-berlin.de/exhibitions/41437/not-a-drop-left/works/
 (DIR) [2] /Ausstellung-Gert-und-Uwe-Tobias/!5100652
 (DIR) [3] http://Contemporary%20Fine%20Arts
 (DIR) [4] https://www.mudam.com/de/ausstellungen/al-rio-to-the-river
 (DIR) [5] https://www.capitainpetzel.de/exhibitions/94-zoe-leonard-a-view-from-the-levee/
 (DIR) [6] /Gefluechtete-an-der-US-Grenze/!5803174
 (DIR) [7] /!3204893/
 (DIR) [8] https://www.capitainpetzel.de/exhibitions/94-zoe-leonard-a-view-from-the-levee/
 (DIR) [9] http://www.utmt.net/
 (DIR) [10] http://www.utmt.net/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Brigitte Werneburg
       
       ## TAGS
       
 (DIR) taz Plan
 (DIR) Berliner Galerien
 (DIR) Fotografie
 (DIR) Malerei
 (DIR) Druck
 (DIR) Berliner KünstlerInnen
 (DIR) Frauen
 (DIR) taz Plan
 (DIR) taz Plan
 (DIR) taz Plan
 (DIR) zeitgenössische Kunst
 (DIR) taz Plan
 (DIR) Wochenkommentar
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Buch über „100 Objekte“ von Frauen: Die fantastischen Segelmacherinnen
       
       Annabelle Hirsch hat eine „Geschichte der Frauen in 100 Objekten“
       vorgelegt, die voller Erfinderinnengeist steckt: Ohne Frauen keine
       Zivilisation.
       
 (DIR) Die Kunst der Woche für Berlin: Von Böden und Dächern
       
       Die wahren Flieger von Tegel: Daniel Poller fotografierte die Vögel am
       stillgelegten Flughafen. Auch das Schau Fenster zeigt Modelle der
       Kohabitation.
       
 (DIR) Die Kunst der Woche für Berlin: Blühendes Vermächtnis
       
       Gleich zwei Schöneberger Orte bespielt die Ausstellung „textile“. Gerade in
       den Kiez umgezogen: ChertLüdde, mit einer frisch duftenden Auftaktschau.
       
 (DIR) Die Kunst der Woche für Berlin: Am Viertelmorgen
       
       Innere Landschaften, farbenreiche Gärten, ein Wald bei Nacht: Die Galerie
       Soy Capitán zeigt Gezeichnetes und wie gut sich Malerei und Papier
       verstehen.
       
 (DIR) Buch über zeitgenössische Kunst: Werk ohne Grenzen
       
       Jenseits von Kunst oder Kommerz: Wolfgang Ullrich analysiert den
       Strukturwandel der Kunstöffentlichkeit und die Kunst nach dem Ende ihrer
       Autonomie.
       
 (DIR) Ausstellungsempfehlung für Berlin: Tüten von Welt
       
       Jac Leirner entpuppt sich als Plastiktütensammlerin. Bei Esther Schipper
       setzt sie die Funde in Szene; die Besucher:innen versetzt sie in
       Staunen.
       
 (DIR) Debatte um Kunsthalle in Tempelhof: Der Dercon-Moment
       
       Der Boykottaufruf der Berliner Künstlerschaft gegen die private Kunsthalle
       im Flughafen Tempelhof ist richtig.