# taz.de -- Die Kunst der Woche für Berlin: Blühendes Vermächtnis
       
       > Gleich zwei Schöneberger Orte bespielt die Ausstellung „textile“. Gerade
       > in den Kiez umgezogen: ChertLüdde, mit einer frisch duftenden
       > Auftaktschau.
       
 (IMG) Bild: Petrit Halilaj & Alvaro Urbano mit Annette Frick: Die Blüten von Berlin, ChertLüdde
       
       Gleich an zwei Standorten in Schöneberg – [1][Frontviews] at Haunt und
       [2][drj art projects] – läuft „–t–e-x–t–i–l–e. Artists and their work from
       the universe of fabrics and inter–weaving techniques“. Ein komplexes Thema,
       zu dem sich die Kurator:innen der Ausstellung merkwürdig unentschieden
       verhalten, wenn sie meinen, die teilnehmenden Künstler:innen hätten sich
       ja aktiv entschlossen im Feld des Stoffs zu arbeiten, also sei “davon
       auszugehen, dass sie alle um den Meta-Zusammenhang wissen und sich
       persönlich dazu positioniert haben“. Nur welche Schlüsse ziehen die
       Besucher:innen daraus? Wovon gehen sie aus? Dass sich die
       Positionierung der Künstlerin oder des Künstlers in ihrer Arbeiten
       widerspiegelt?
       
       Das wäre doch schade. Weil zu einfach. Selbstverständlich illustrieren die
       bunten Seidenfäden im horizontalen und vertikalen Raster von „Play“ (2022)
       nicht Yasuaki Kurodas Konzept bei der Verwendung der Seide in seiner Kunst.
       Wer weiß überhaupt, welchen Stellenwert Seidenstoffe in der Praxis
       japanischen Kunstschaffens haben? Wenn textile Materialien aufgrund ihrer
       sinnlichen Besetzung und ihrer spezifischen Eigenschaften bei uns lange
       Zeit eher als „minderwertig“ galten, muss das in Ostasien nicht ebenso der
       Fall sein.
       
       Dass Pailletten bunter, billiger Flitterkram sind, das weiß man. Verhandelt
       also Bettina Allamoda deswegen mit der Wandskulptur „Untitled (Millenial
       Pink) Rockette“ (2020) den Glamour des Gewöhnlichen? Vielleicht. Vielleicht
       auch nicht. Zeigt sie womöglich welche großartigen malerischen Qualitäten
       das spiegelnd-irisierende Metallic-Material im Faltenwurf des
       Stretchstoffes entwickelt, der sich wie eine heftige, dreidimensionale
       Pinselbewegung an die Wand entlang spannt? Womöglich.
       
       Womöglich aber geht es darum, dass die Einführung des weichen, elastischen
       Materials in der Kunst neue Kriterien für die Skulptur geschaffen hat? Man
       denke an Arbeiten von Louise Bourgeois, Yayoi Kusama oder Sarah Lucas.
       Solche Drastik wie bei diesen Dreien findet sich bei „t-e-x-t-i-l-e“ nicht.
       Das paradoxe Spiel von Flexibilität und stählerner Härte exerziert Alke
       Reehs im Haunt an drei vom Camping her bekannten Falthockern durch, die sie
       zu einer minimalistischen Wandskulptur verschränkt. Bei drj art procjets
       faltet sich dann ihr Stoff zur Architektur eines gotischen Deckenbogens.
       Den Stahl braucht es nicht mehr für das räumliche Erlebnis. Gespannt ist
       man in jedem Fall auf die angekündigte Publikation zur Ausstellung. Hier
       erteilen die Künstler:innen in kurzen Statements Selbstauskunft über
       ihre Position im Universum des Stoffes.
       
       ## Flitter-Coup am neuen Ort
       
       Wer in Berlin Pailletten, Federboas und anderen Flitterkram suchte, wurde
       die längste Zeit, nämlich 70 Jahre lang bis 2021, im Reich von Deko
       Behrendt fündig. Nun schmücken die riesigen Räume in der Hauptstraße 18 aus
       Eisendraht und handbemaltem Stoff konstruierte, überdimensionale Kirsch-
       und Vergiss-mein-nicht-Blüten von Petrit Halilaj & Alvaro Urbano. Die
       beiden gehören zu den Künstler:innen der Galerie [3][ChertLüdde], der
       mit ihrem Umzug nach Schöneberg ein echter Coup gelungen ist. Ein Coup, den
       sie mit „Die Blüten von Berlin“, ihrer ersten Schau am neuen Ort als eine
       Art Vermächtnisausstellung angemessen feiert.
       
       Neben den Blumenskulpturen zeigen Petrit Halilaj & Alvaro Urbano die Serie
       „I never saw Blue You“, große Papierarbeiten die echte Objets trouvés sind:
       Vor der Renovierung der Räume von den Wänden abgenommene Tapetenrechtecke.
       An den zerfransten Rändern der Wandskulpturen fächern sich die Muster und
       Materialien der über viele Jahrzehnte aufeinander geklebten Tapeten aufs
       Schönste auf. Interessanterweise sehen die Künstler ihre je nach der
       dominanten Tapetenfarbschicht „I never saw Blue You (dark Purple)“, „I
       never saw Blue You (Pink)“ oder „I never saw Blue You (Gold)“ genannten
       Papierarbeiten im Kontext der Geschichte der Landschaftsfotografie.
       Insofern Landschaft sich hier wie auf dem Fotopapier aus der Überlagerung
       von Farb- bzw. Hell-Dunkel-Schichten entwickelt.
       
       Tatsächlich sind „Die Blüten von Berlin“ auch eine ganz unbedingt
       sehenswerte Fotoausstellung. Das besagt für die Kundigen schon der Titel
       der Schau, der sich von einem Lied herleitetet, das die verstorbene
       Dragqueen [4][Ovo Maltine] (1966-2005) schrieb und aufführte. Ihre Freundin
       und Teil der Szene war seit den 1990er Jahren Annette Frick, die, aus Köln
       nach Berlin gezogen, die queere Community der Stadt bei ihren
       Selbstinszenierungen und Performances, aber auch simplen Zusammentreffen
       mit ihrer – mit Schwarzweißfilm bestückten – Kamera begleitete.
       
       Natürlich fallen die Fotos einer attraktiven Person in Drag auf, die im
       schicken Seidenhemdchen alte Tapeten von der Wand reißt. Allerdings ist das
       schon ein paar Jahre her, es handelt sich um [5][Juwelia Soraya] in ihrem
       Projektraum Casabaubou, den sie 2006 eröffnete. Anrührend die Fotoserie von
       [6][Gunter Trube] (1960-2008), dem bekannten Gehörlosen- und
       AIDS-Aktivisten, dem Sportler, Dichter, dem einfach schönen Mann, wie er
       sich falsche Wimpern anklebt, sich schminkt und Lippenstift aufträgt um als
       noch schönere Dragqueen zu glänzen.
       
       Die Nähe von Frick zu den Protagonist:innen ihrer Aufnahmen ist
       offenkundig, ihr alltäglicher Umgang, wie er sich im ungezwungenen
       Verhalten der Akteure zeigt. In diesem intimen Moment zeigt sich eine
       Parallele zum Werk von Nan Goldin, das zum Teil ja im gleichen Berliner
       Milieu entstanden ist. Die Schwarzweißaufnahmen erinnern aber auch an das
       Werk von Michael Schmidt (1945-2014). Seine Berliner Szene ist zur Zeit in
       der Albertina in Wien zu sehen. Und da denkt man, es wird Zeit, dass auch
       Annette Frick ihre große institutionelle Ausstellung bekommt.
       
       20 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.frontviews.de/
 (DIR) [2] https://drj-art-projects.com/rubrik/gegenwart/
 (DIR) [3] https://chertluedde.com/
 (DIR) [4] http://www.tuntenmuseum.de/
 (DIR) [5] /!5318862/
 (DIR) [6] https://www.br.de/mediathek/video/sehen-statt-hoeren-30062018-unvergessen-gunter-trube-av:5e09102b490202001aadf273
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Brigitte Werneburg
       
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