# taz.de -- Le Pens Klientel: Die Wut von Franzosen
       
       > Europa hat für die sich öffnende Schere von Arm und Reich keine
       > Lösungen. Statt Wohnungspreise zu regulieren, hält die EU Spekulanten
       > die Tür auf.
       
 (IMG) Bild: Brigitte und Emmanuel Macron. 40 Prozent der Franzosen können sich keinen Jahresurlaub leisten
       
       Es gibt keine Entwarnung für Europa. Ja, [1][Macron hat Le Pen besiegt].
       Die Bilder von seinem Sieg erleichterten viele Europäer, seine hohlen
       Versprechungen lassen viele jubeln. Er verspricht, Präsident aller zu
       werden. Na dann. Ich verstehe das tiefe Bedürfnis nach Entwarnung. Es gibt
       zu viele Krisen derzeit. Man wünscht sich Ruhe an irgendeiner Front. Doch
       die Krise Europas ist mit der Wahl Macrons nicht vorbei. Im Gegenteil: Er
       könnte sie weiter befördern, wenn sich an seiner Politik nichts ändert.
       
       Noch besser als die Erleichterung über Macron verstehe ich die Wut jener
       französischen Wählerinnen, die für Le Pen stimmten. Ja, sie ist Rassistin,
       doch ihre Strategie, den überforderten Bürgerinnen und Bürgern die Welt
       wieder kleinzuschrumpfen, ist intellektuell leider gut nachzuvollziehen und
       strategisch klug. Würde die Linke die Flanke, über die Le Pen kommt,
       schließen, hätte sie kein so leichtes Spiel.
       
       Warum fragen so viele aus ihren Jugendstilwohnungen heraus empört: Wie kann
       man nur Le Pen wählen, wo man doch Macron wählen kann? Und mit Macron unser
       heiliges Europa! Sollte man nicht besser umgekehrt fragen: Wie kann man
       Macrons innenpolitischem Kurs gegenüber so unkritisch sein, wenn man seine
       Politik beobachtet? Woher die blinde Liebe zur EU? Arbeitnehmer haben es in
       Macrons Frankreich schwerer als zuvor. [2][Geringverdienern wurde das
       Wohngeld] gekürzt.
       
       Die Mittelschicht darf mehr Steuern bezahlen, während die Vermögensteuer
       abgeschafft wurde, weil es ja Kapitalflucht gab. Weite Teile der Politik
       haben vor den Superreichen kapituliert. Die Bürger lassen sich nun im
       rechten Kümmerermodus einfangen. Das Problem wird sich nicht lösen, solange
       die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht. Ohne eine stabile
       Mittelschicht wird es keine stabilen Demokratien geben. Ohne eine wirklich
       soziale Marktwirtschaft wird es keinen sozialen Frieden geben.
       
       ## Perverser Reichtum
       
       Die [3][Spaltung der Gesellschaft] entsteht dadurch, dass die Superreichen
       sich für steuerlich unantastbar halten, während die Normalverdiener die
       Hauptlast der gesellschaftlichen Infrastruktur der Demokratien tragen. Der
       perverse Reichtum eines [4][Elon Musk] etwa, der mal eben 40 Milliarden
       Dollar lockermacht, um Twitter zu kaufen. Wie reich dürfen
       Einzelunternehmer sein? Reich an Geld und reich an Bürgerdaten? Reguliert
       das noch jemand?
       
       Viele haben den Eindruck, dass den Superreichen und ihren Geldflüssen
       politisch nicht mehr beizukommen ist. Linke haben früher die Globalisierung
       kritisiert, heute müssen sie – aus guten Gründen – den offenen Handel
       verteidigen, weil er zu der Offenheit offener Gesellschaften gehört. Doch
       die offene Gesellschaft ist für viele zum Synonym für das ungeschützte
       Individuum geworden. Schützende Regulation fehlt. Viele haben ein Bedürfnis
       nach der Verzwergung der Welt, um ihrer Probleme wieder Herr zu werden. Le
       Pen spielte mit diesen Bedürfnissen.
       
       Es braucht mehr politische Verantwortungsträger, die globale
       Verteilungsfragen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen. Das
       Autopatriarchat eines Henry Ford war zwar schlecht, aber immerhin noch
       egoistisch fürsorglich. Das Megalomaniat, das Bezos, Musk und ihresgleichen
       verkörpern, kennt nicht einmal mehr egoistische Fürsorge. Humankapital ist
       ja zur Genüge vorhanden, um es abzunutzen.
       
       Marine Le Pen droht mit dem [5][Frexit] und erhält trotzdem 42 Prozent, so
       die Empörung. Statt Wahlvolkbeschimpfung zu betreiben, sollten Analytiker
       fragen, weshalb jeder zweite Franzose die EU opfern würde? Würde die EU
       sich anders positionieren, etwa bei der Regulation von Immobilienmärkten,
       wüssten Europäerinnen, wofür sie gut ist. Stattdessen verlangt die EU etwa
       von EU-Beitrittsländern Liberalisierung, ohne Rücksicht auf die Kaufkraft
       der Einheimischen zu nehmen, wie etwa in Kroatien zu beobachten ist.
       
       ## Wahlvolkbeschimpfung nützt nichts
       
       Kanadas Staatschef Justin Trudeau will den Anstieg der Immobilienpreise
       stoppen, indem er [6][Ausländern den Kauf von Häusern verbietet].
       Illiberal? Ich erinnere mich an einen Aufenthalt in Toronto, wo ich bei
       einer Sekretärin wohnte, die sich einst im Stadtzentrum ein Haus leisten
       konnte. Unvorstellbar für die heutige Zeit. Reiche Spekulanten aus China,
       Russland oder den Arabischen Emiraten kaufen den knappen Wohnraum der
       Städte als Geldinvestition auf.
       
       Kanada zeigt, wie sich die turbokapitalistischen Auswüchse der letzten
       Jahrzehnte rückgängig machen ließen, damit die Bürgerinnen wieder ein
       Gefühl von Kontrolle über ihr Leben und ihr Land erhalten. Die EU reguliert
       in Sachen Immobilienmärkte nicht genug, sie macht es rücksichtslosen
       Investoren leicht. Auch so entstehen „antieuropäische“ Ressentiments. Auch
       so entsteht der Eindruck, Nationalismus sei etwas für die Bürger der Nation
       und nicht gegen andere.
       
       Der Demokratieverdruss wird nicht durch Wahlvolkbeschimpfung verschwinden.
       Es reicht nicht mehr zu sagen: Ihr bösen Wählerinnen würdet eine
       antieuropäische Rassistin an die Macht bringen! Es haben doch viele Didier
       Eribons „Rückkehr nach Reims“ gelesen, weshalb verstehen sie die Wütenden
       noch immer nicht? Als hätte wirklich kaum jemand Zugang zum Prekariat und
       als würden viele nur zu gerne die Augen davor verschließen, dass sie selbst
       prekären Lebensverhältnissen immer näher kommen.
       
       In Frankreich leben 20 Prozent an der Armutsgrenze. Davon über 2 Millionen
       Kinder. Schon 2018 ermittelte die Hilfsorganisation Secours populaire
       (Volkshilfe) in einer Umfrage, dass jeder fünfte Franzose nicht genug Geld
       für Lebensmittel hat. Jeder Vierte gab an, nicht genug Geld für Obst und
       Gemüse zur Verfügung zu haben. Rund 40 Prozent können sich den Jahresurlaub
       nicht leisten. Vierzig Prozent!
       
       Wer jetzt die Teuerung der Lebenshaltungskosten der letzten Monate
       hinzuzählt, bekommt eine realistische Vorstellung davon, wie manche
       Menschen sich durch ihren Alltag kämpfen. Wie sollen sie da noch rufen:
       Vive l’Europe?
       
       27 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jagoda Marinić
       
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