# taz.de -- Vorlesung zu „Alternativen Fakten“: Die Errettung vom Blödsinn
       
       > Die Kieler Ringvorlesung „Wissenschaft und Alternative Fakten“ soll gegen
       > Populismus und Propaganda helfen. Sie ist auch per Zoom zugänglich für
       > alle.
       
 (IMG) Bild: Der eine lügt, der andere forscht: Plakat beim „March for Science“ 2017 in Frankfurt am Main
       
       KIEL taz | Michael Bonitz ist ein Mann der klaren Worte. Wenn er über die
       Wissenschaft spricht, ist Kampfgeist zu spüren, Sendungsbewusstsein, eine
       klare Haltung: Eine „Immunisierung“ gegen Populismus, Polemisierung und
       Propaganda sieht der Plasmaphysiker in ihr, Professor am Institut für
       Theoretische Physik und Astrophysik der Kieler
       Christian-Albrechts-Universität (CAU). Sie sei „unsere schärfste Waffe“
       gegen „abstruse Meinungen“, Demagogie und rationalitätsfernen „Schwach- und
       Blödsinn“.
       
       Eine wichtige Aufgabe. [1][Verschwörungserzählungen] und [2][Fake News]
       haben Zulauf, von den sich in einer Impfdiktatur wähnenden Querdenkern bis
       zu all jenen, die behaupten, Russland verteidige sich in der Ukraine gegen
       Nazis. Bonitz will mit [3][Wissenschaftskommunikation] dagegenhalten: 2017
       hat er an der [4][Universität Kiel] die Ringvorlesung [5][„Wissenschaft und
       Alternative Fakten“] ins Leben gerufen, getriggert durch Donald Trumps
       Falschbehauptung, zu keiner Amtseinführung eines US-Präsidenten seien mehr
       Menschen gekommen als zu seiner.
       
       Die Vorlesungen sind interdisziplinär, laienverständlich, kostenfrei und
       offen für alle. Angst vor Hemmschwellen muss hier niemand haben. Wer will,
       kann per Zoom-Link mithören und mitdiskutieren. Im Sommersemester 2022
       feiert die Veranstaltungsreihe ihre zehnte Auflage.
       
       Zu deren Auftakt hatte Bonitz am 21. April im Hörsaal H des Kieler Audimax
       Zwischenbilanz gezogen, vor einer riesigen, klassischen Kreidetafel: Die
       Impulsvorträge, von der Gentechnik bis zum VW-Dieselskandal, vom
       Terrorismus bis zum Geoengineering, vom Alienbesuch bis zur Quantenphysik,
       von der 5G-Strahlung bis zur Klimakrise, drei bis sechs pro Semester,
       hatten bis zu 400 TeilnehmerInnen.
       
       Mitunter musste das NachwuchswissenschaftlerInnen-Team, das Bonitz
       unterstützt, bis zu 100 Fragen pro Abend moderieren. Und das Ziel ist stets
       dasselbe: „Wir verstehen uns nicht als Faktenchecker“, erklärt Bonitz der
       taz. „Wir erheben auch keine Zeigefinger“, behauptet er. „Wir zeigen, wie
       Wissenschaft entsteht und funktioniert.“ Es gehe um Entemotionalisierung
       und Entpolitisierung, um den Abbau von Denkbarrieren.
       
       Zwei Stunden lang dauert das Format. Die meiste Zeit nehmen Fragen und
       Antworten ein. Oft sind die Themen bewusst kontrovers – rund ein Drittel
       entstehen durch Anregungen der HörerInnen. Oft münden die Abende in
       konkrete Vorschläge für Politik und Gesellschaft.
       
       Während Bonitz spricht, sind rund 20 Zuhörer im Saal, rund 40 digital
       zugeschaltet, vergleichsweise wenig: „Eine Auswirkung von Corona“, vermutet
       Bonitz. „Viele Leute sind wohl noch unsicher, was möglich ist.“ Er geht ein
       Wagnis ein an diesem Donnerstag, denn sein Vortrag „Die Fünfte Gewalt?
       Wissenschaftler im Frieden und im Krieg“, behandelt auch die Ukraine.
       
       „Eigentlich war das ganz anders geplant“, sagt er. „Das ist ja auch gar
       nicht mein Fachgebiet. Aber übergehen konnten wir das natürlich nicht.“
       Einer der Fakten, die Bonitz referiert, ist die Resonanz auf einen durch
       ihn initiierten offenen Brief an russische Wissenschaftler, einen
       Minimalkonsens zu unterzeichnen: sofortiges Ende der Kämpfe, Verhandlungen,
       allseitige Kompromissbereitschaft. „Vereinzelt hatte das Erfolg“, sagt
       Bonitz. „Aber insgesamt war das Ergebnis ernüchternd.“
       
       Manchmal haben auch KollegInnen Fragen, wenn Bonitz sie für einen Vortrag
       einlädt. „In Kiel kennt man uns natürlich“, sagt er. „Aber auswärts müssen
       wir zuweilen schon erklären, was wir hier machen.“ Auch das Wie kann dann
       Thema sein. „Man kann hier ja nicht einfach so sprechen wie vor
       Fachpublikum.“
       
       Bonitz wünscht sich, dass die Wissenschaft sich stärker gesellschaftlich
       engagiert. „Nur ein aufgeklärtes Volk“, sagt er, „kann seiner Politik
       aufgeklärte Entscheidungen abverlangen.“ Als Externe hat er Henning Wilts
       vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gewonnen, der am 5. Mai
       fragt: „Wie viel Müll passt in den nachhaltigen Kreislauf?“ Zwei Wochen
       später erkundet der Kieler Volkswirtschaftler Till Requate, ob „Deutschland
       innovativ genug“ ist und den Abschluss bildet Materialwissenschaftler
       Rainer Adelung mit „Nanotechnologie: Toll, toxisch oder beides?“
       
       „Die Probleme dieser Welt sind komplex und global“, steht in der
       Präsentation, an der sich Bonitz im Hörsaal H in seiner Zwischenbilanz
       orientiert. Sie seien „nur durch Wissenschaft zu lösen“. Ein hoher
       Anspruch. Worte wie „Gift des Nationalismus“ stehen da auch. Es gelte,
       „unbarmherzig“ beim Umgang mit Fakten und Fakes zu sein, „kompromisslos“
       gegen Fälschungen.
       
       Bonitz mag es klar, notfalls auch hart. „Wissenschaft und Alternative
       Fakten“ inspiriert auch die Wissenschaftler selbst: „Oft stellen Laien ganz
       grundsätzliche, mitunter auch sehr ungewöhnliche Fragen“, sagt Bonitz. Das
       könne „zu Aha-Erlebnissen“ führen. „Mancher entschuldigt sich auch für
       vermeintlich dumme Fragen. Aber dumme Fragen gibt es nicht!“
       
       Manchmal, erzählt Bonitz der taz, finde er seine Themen auch in den Medien.
       Zu denen hat der streitbare CAU-Repräsentant eine ganz eigene Meinung.
       „Viele Medien informieren nicht“, meint er, „sie agitieren, benutzen
       Emotionen.“ Oft gehe es nicht um Vermittlung, sondern um Polarisierung.
       Viele Medien, sagt Bonitz, „haben keine Glaubwürdigkeit und Wirkung
       außerhalb der eigenen Blase“.
       
       ## Merkwürdiger Vorwurf
       
       Würde Bonitz die [6][Medien], nach Exekutive, Legislative und Judikative
       klassischerweise die Vierte Gewalt im Staat, gern auf neutralen
       Faktentransport beschneiden? „Natürlich nicht“, sagt er der taz nach seinem
       Vortrag. „Aber die Balance zwischen Fakten und Meinungen stimmt oft nicht.“
       Eine Einschätzung, die ihrerseits nur eine Meinungsäußerung ist, genau das
       also, was Bonitz in seinem Vortrag dem Journalismus vorgeworfen hatte: sich
       zu wenig auf Fakten zu fokussieren, dafür zu sehr auf Meinungen. Das sei
       nicht seine Aufgabe.
       
       Ein merkwürdiger Vorwurf. Denn nicht nur, dass in Artikel 5 des
       Grundgesetzes ausdrücklich die Freiheit der Meinung geschützt ist, explizit
       auch unter Verweis auf die der Presse. Nicht nur, dass absolute
       Objektivität nur ein Ideal ist, keine Wirklichkeit. Dass Journalismus auch
       aus Haltung und Empathie besteht, aus Formaten wie Leitartikel, Essay und
       Kommentar, ist nicht per se fakten- und wissenschaftsfeindlich. Selbst ein
       Plasmaphysiker sollte das wissen.
       
       ## Sachlichkeit und Respekt
       
       Sachlichkeit und Respekt will der CAU-Professor fördern, Offenheit und
       gegenseitiges Zuhören. Wer Schwarz-Weiß-Denken propagiert, erntet sein
       Kopfschütteln. Gut so. „Wissenschaft und Alternative Fakten“ tritt an,
       beides zu leisten. Kritische Nachfragen mag er dennoch nicht. Den Wunsch,
       das Vorlesungsvideo noch einmal einzusehen, erfüllt er nicht. Technische
       Gründe?
       
       Das wäre überraschend. Denn bislang sind alle Vorträge der verdienstvollen
       Reihe unter [7][faktoderfake.org] archiviert. Und Vortragstitel wie „Grünes
       Grönland?“, „Grundeinkommen: nicht Utopie, sondern Gebot“ oder „Fakten und
       Mythen zum Coronavirus: raue See, Sturm aus allen Richtungen und noch dazu
       Glatteis“ signalisieren: Was Bonitz ins Leben gerufen hat, ist vieles.
       Dröge ist es nicht.
       
       2 May 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [5] https://www.faktoderfake.org/
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 (DIR) [7] https://www.faktoderfake.org/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Harff-Peter Schönherr
       
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