# taz.de -- Israelisch-Palästinensische Gesellschaft: „Wir teilen den gleichen Schmerz“
       
       > Am Yom HaZikaron gedenkt Israel seiner getöteten Bürger:innen,
       > Palästinenser:innen bleiben außen vor. Ein alternativer Gedenktag
       > gibt beiden Seiten Raum zum Trauern.
       
 (IMG) Bild: der Parents Circle will Mauern zwischen Israelis und Palästinenser:innen einreißen, wie hier symbolisch im März 2017
       
       TEL AVIV taz | Als Layla Alscheichs Baby Qusay im Jahr 2004 durch Tränengas
       der israelischen Armee starb, hatte sie noch in der gleichen Nacht einen
       Traum. Qusay flog als weiße Taube zu ihr und ließ sich auf ihre Schulter
       nieder. „Wein nicht, Mama“, sagte er: „Ich bin glücklich.“ Damals verstand
       sie nur, dass es ihrem Sohn gut ging, erzählt Alscheich. „Die wirkliche
       Bedeutung verstand ich nicht.“ Hätte man ihr damals gesagt, dass sie 18
       Jahre später gemeinsam mit Israelis eine palästinensisch-israelische
       Gedenkveranstaltung organisieren würde, in der der Opfer beider Seiten des
       Konflikts gedacht wird – sie hätte es kaum geglaubt.
       
       In Israel ist für palästinensische Getötete am sogenannten Yom HaZikaron,
       dem „Gedenktag für die gefallenen Soldaten der israelischen Kriege und
       Opfer des Terrorismus“ kein Platz. In diesem Jahr findet er vom 3. auf den
       4. Mai statt.
       
       Seit seiner Einführung im Jahr 1963 ertönt am Vorabend und am Morgen des
       Yom HaZikaron eine Sirene und bringt das Leben für eine Zeit zum Erliegen,
       Autos auf den Straßen stehen still, Menschen bleiben stehen. Israelische
       Flaggen hängen auf Halbmast. Auf den Friedhöfen wird den Getöteten gedacht,
       hochrangige israelische Militärs besuchen nationale Gedenkveranstaltungen.
       
       Doch eine Gruppe von Trauernden wählt einen anderen Weg, die „Joint
       Memorial Day Ceremony“ – eine palästinensisch-israelische Gedenkzeremonie,
       organisiert von den [1][Combatants for Peace] und dem [2][Parents Circle
       Family Forum]. Ihre Botschaft scheint simpel, ist aber in dem von
       Konflikten geprägten Landstrich vom Mittelmeer zum Jordan denkbar radikal:
       den Schmerz der anderen Seite zu sehen. Für Versöhnung zu kämpfen. Um
       darauf Frieden aufzubauen.
       
       ## Robi Damelin hat ihren Sohn David verloren
       
       Robi Damelin ist eine der Mitorganisator:innen. Mit mehr als 600
       israelischen und palästinensischen Familien ist sie im Parents Circle
       organisiert. Sie alle haben gemeinsam, dass ein unmittelbares
       Familienmitglied im Konflikt zwischen den Palästinenser:innen und
       Israel getötet wurde.
       
       Bei Damelin ist es ihr Sohn David. Sie hat die Geschichte ihres Sohnes
       schon oft erzählt, doch der Schmerz hinter ihrer Gefasstheit bleibt zu
       spüren. David war Philosophiestudent, Reserveoffizier – und
       Friedensaktivist. Er hatte, erzählt Damelin, gemeinsam mit anderen
       Offizieren einen offenen Brief unterschrieben, dass er nicht in den
       besetzten palästinensischen Gebieten dienen wolle. Doch dann wurde er zum
       Dienst aufgefordert, ausgerechnet an einem Checkpoint vor einer Siedlung in
       der Nähe von Ramallah.
       
       Damelin erzählt von einem Gespräch, das sie mit ihrem hadernden Sohn
       geführt hatte. „Ich bin der Offizier, was wird mit meinen Soldat:innen
       sein, wenn ich nicht gehe?“, habe er sich und sie gefragt: „Wenn ich gehe,
       werde ich alle Menschen mit Würde behandeln und so werden es auch die
       Soldat:innen tun, die ich anführe.“ Er entschied sich, den Reservedienst
       anzutreten. Kurze Zeit später, im Jahr 2002, klopften drei Soldat:innen
       an Damelins Tür und erklärten ihr, dass ihr Sohn von einem
       palästinensischen Heckenschützen erschossen wurde. „Der Schmerz geht nicht
       weg“, erklärt die heute 78-Jährige: „Er bleibt dein ganzes Leben.“
       
       Für sie war schnell klar, dass sie etwas unternehmen wollte, um anderen
       Müttern zu ersparen, das gleiche fühlen zu müssen – sich für Frieden
       einzusetzen. Wenige Monate nach dem Tod ihres Sohnes ging sie zum ersten
       Mal zu einem Treffen des Parents Circle.
       
       ## Layla Alscheich hat ihren Sohn Qusay verloren
       
       „Als ich am Tisch saß und in die Augen der palästinensischen Mütter
       geblickt habe, ist mir klargeworden, dass wir den gleichen Schmerz teilen.
       Und dass die Tränen, die ins Grab fallen, die gleiche Farbe haben.“ Es sind
       Sätze, die man immer wieder hört, wenn man mit Menschen des Parents Circle
       spricht. Auch von Layla Alscheich, die ihren Sohn Qusay verloren hat. Bei
       ihr dauerte es länger als bei Damelin, bis sie der anderen Seite ins
       Gesicht sehen konnte.
       
       Seit der Nacht im Jahr 2004, als sie von der Schnappatmung ihres sechs
       Monate jungen Babys Qusay aufwachte, wollte sie nichts mit Israelis zu tun
       haben. Qusay hatte Tränengas eingeatmet, das die israelische Armee am Abend
       zuvor in den Garten der Familie in Batir nahe Bethlehem gesprüht hatte.
       
       Sie und ihr Mann wollten mit ihrem Sohn ins Krankenhaus nach Bethlehem
       eilen, doch der Checkpoint war geschlossen. Die israelischen
       Soldat:innen ließen die Familie nicht durch. Sie schwenkten um nach
       Hebron, doch auch auf dem Weg dorthin ließen israelische Soldat:innen
       sie nicht durch. Alscheich hielt ihren nur noch schwer atmenden Sohn in
       ihren Armen, bettelte und flehte. Die Situation ihres Sohnes verschlimmerte
       sich, doch die israelischen Soldat:innen hätten gelacht, erinnert sie
       sich.
       
       Als diese sie nach vier Stunden schließlich passieren ließen und Alscheich
       und ihr Mann mit dem gemeinsamen Sohn im Krankenhaus ankamen, sagte der
       Arzt, dass es zu spät sei. Der kleine Qusay starb im Krankenhaus. „Als ich
       ihn auf die Wange küsste, wie ich es sonst immer tat“, erzählt Alscheich,
       „fühlte er sich an wie ein gefrorener Stein.“
       
       ## Im Parents Circle geht es auch um die unterschiedlichen Lebensumstände
       
       „Sechzehn Jahre lang war ich davon überzeugt, dass alle Israelis am Tod
       meines Sohnes schuld sind“, berichtet die 44-Jährige. Bis sie eines Tages
       einen Freund zu einem Treffen des Parents Circle begleitet. Sie wollte
       aufstehen und gehen, als die israelischen Teilnehmenden den Raum betraten.
       Geschockt sah sie, wie sich Palästinenser:innen und Israelis zur
       Begrüßung umarmten – und beschloss zu bleiben: um zu verstehen, was sie so
       nah zueinander brachte. „Als sie ihre eigenen Geschichten erzählten, sah
       ich die Israelis zum ersten Mal als Menschen“, erklärt Alscheich. „Wir
       teilen den gleichen Schmerz und die gleichen Tränen. Auch wenn wir unter
       völlig unterschiedlichen Umständen leben.“
       
       In den Projekten und Treffen des Parents Circle geht es um die gemeinsame
       Trauer, aber auch um die unterschiedlichen Lebensumstände – wie auch nicht,
       wenn Leben und Politik so eng miteinander verwoben sind wie bei den
       beteiligten Familien. „Wir sprechen über alles“, so Alscheich: „Über die
       Besatzung, über Checkpoints, über Hausdurchsuchungen durch das israelische
       Militär mitten in der Nacht. Und genauso höre ich von Israelis, wie sie
       manchmal Angst haben, durch die Straße zu laufen, weil sie fürchten, jemand
       könnte sich neben ihnen in die Luft jagen.“
       
       Weil zu Beginn der Planung nicht klar war, ob die Coronapandemie ein
       gemeinsames Treffen zulassen wird, gibt es in diesem, wie im letzten Jahr,
       eine Liveschaltung nach Beit Jala, einer Kleinstadt im Westjordanland
       zwischen Bethlehem und Jerusalem. Alscheich organisiert die Gedenkzeremonie
       dort.
       
       Der Yom HaZikaron ist ein israelischer Gedenktag. Die palästinensische
       Seite könnte den Tag ignorieren, doch Alscheich ist davon überzeugt, dass
       die gemeinsame palästinensisch-israelische Zeremonie eine Chance ist: „Es
       ist so wichtig, Menschen auf der ganzen Welt diese Botschaft zu vermitteln.
       Wenn wir, die wir unsere Kinder oder Familienmitglieder verloren haben,
       Seite an Seite stehen, dann ist alles möglich. Dann ist auch Frieden
       möglich.“
       
       ## Rechte Israelis demonstrieren heftig gegen die Gedenkfeier
       
       Wie radikal diese Botschaft ist, merkt man an dem Gegenwind, den die
       Zeremonie erfährt. Immer wieder haben die Organisator:innen in Israel
       Probleme, einen Veranstaltungsort zu finden, weil kaum jemand bereit ist,
       ihnen einen Raum dafür zu vermieten.
       
       Damelin erhielt wegen ihres Engagements im Parents Circle Drohungen, sie
       erinnert sich an in Israelfahnen eingewickelte Gegendemonstrierende,
       die mit Urin gefüllte Beutel auf Teilnehmende der Zeremonie warfen, sie
       jagten.
       
       [3][Itamar Ben Gvir], ein rechtsextremes Mitglied des israelischen
       Parlaments, verhindert regelmäßig, dass Mitglieder des Parents Circle in
       Schulen sprechen können. Der Ort, an dem die Zeremonie stattfinden wird,
       wird bis kurz vor ihrem Beginn geheimgehalten.
       
       Doch gleichzeitig sieht Damelin, dass der Parents Circle immer mehr an
       Einfluss gewinnt. 2019, bevor die Pandemie die Livegedenkfeiern für zwei
       Jahre unterbrach, kamen 10.000 Besucher:innen zu der Veranstaltung nach
       Tel Aviv. Beim Zoom-Event 2021 schalteten sich 250.000 Menschen weltweit
       zu. „Es sind nicht nur Linke, die zu der Feier kommen. Viele von ihnen
       hören zum ersten Mal eine palästinensische Geschichte von Verlust und
       Trauer.“ Genau darum geht es ihr.
       
       ## „Gott will mich hier, als Friedensstifterin“
       
       In Beit Jala ist es im letzten Jahr ruhig geblieben, berichtet Alscheich.
       Aber auch dort sind die Organisator:innen vorsichtig, lassen nur
       hinein, wen sie kennen und wer eingeladen ist – gerade jetzt, da Alscheich
       fast täglich von durch israelische Sicherheitskräfte getötete
       Palästinenser:innen hört, Israelis bei Anschlägen sterben.
       
       Alscheich und Damelin sind im Parents Circle Freundinnen geworden.
       „Eigentlich mehr als das“, ergänzt Alscheich, „Schwestern.“ In einigen
       Tagen werden die beiden gemeinsam zu einer Konferenz nach Italien reisen.
       Das Thema ist „Wiederherstellung von Gerechtigkeit“ – es geht um eine
       Alternative zu den bei Verbrechen gängigen gerichtlichen Strafverfahren.
       Stattdessen sollen Wiedergutmachung und eine aktive Rolle von Täter:innen
       und Opfern im Zentrum stehen.
       
       Als Alscheich zum Parents Circle stieß und zur Friedensaktivistin wurde,
       verstand sie nach und nach die Botschaft ihres Traums von Qusay als weißer
       Taube. „Gott will mich hier, als Friedensstifterin“, erklärt sie: „Er
       wollte nicht, dass mein Sohn von mir geht, ohne dass ich etwas daraus
       mache.“
       
       4 May 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://cfpeace.org
 (DIR) [2] https://www.theparentscircle.org/en/pcff-home-page-en/
 (DIR) [3] https://blogs.timesofisrael.com/why-are-israeli-mks-threatening-schools-and-peace-activists/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Judith Poppe
       
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